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# taz.de -- Wehretatkürzung in Großbritannien: Das Königreich spart beim Kri…
> Die Regierung um David Cameron kürzt den Verteidigungshaushalt massiv.
> Die Kritiker toben. Mit der Etatverkleinerung geht auch ein
> Startegiewechsel einher.
Bild: Tornados der Royal Air Force: Das Militär Großbritanniens muss sparen.
BERLIN taz | "Die Stimmung ist, sagen wir mal, ziemlich beschissen",
formuliert ohne Umschweife ein altgedienter Mitarbeiter des britischen
Außenministeriums. "Wir warten halt ab. Denn um ehrlich zu sein: Kein
Mensch hat auch nur die geringste Ahnung, wie es weitergeht. Außer den paar
ganz oben, die sich das alles ausdenken."
Ausgerechnet eine konservative Regierung setzt die tiefsten Einschnitte im
Verteidigungshaushalt seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs durch und
strukturiert ihren außenpolitischen Apparat komplett neu. Die Armee
verliert 7.000 ihrer 102.500 Soldaten, 40 Prozent ihrer Panzer und 35
Prozent ihrer schweren Artillerie. Harte Kürzungen erfahren auch Marine und
Luftwaffe.
Das Atomwaffenarsenal wird von 225 auf 180 Sprengköpfe reduziert, seine
fällige Erneuerung verschoben. Die britischen Basen in Deutschland werden
bis 2020 geschlossen. Zwei von der Labour-Vorgängerregierung bestellte
Flugzeugträger werden zwar fertig gebaut, weil eine Stornierung des
Auftrags noch teurer wäre. Aber einer wird nach Fertigstellung wohl
verkauft und der andere zunächst ohne Flugzeuge in Dienst genommen. Man
hofft, dass Frankreich und die USA den Flugzeugträger mitnutzen.
Militärs kritisieren, dass unter diesen Umständen ein neuer Irakkrieg oder
eine Intervention wie 1982, als man ohne fremde Hilfe die Falkland-Inseln
von Argentinien zurückeroberte, undenkbar wären. Die konservativ-liberale
Koalition von David Cameron und Nick Clegg macht pazifistische Träume wahr.
Die britischen Konservativen sind traditionell eigentlich die Partei des
Sicherheitsestablishments, des Militärs und der Geheimdienste; die
Liberaldemokraten sind friedensbewegt und bürgerrechtsorientiert. Beide
jedoch eint eine Aversion gegen die Idee Großbritanniens als globalem
"Gutmenschen", der mit der Waffe in der Hand die Welt verbessert, wie dies
Labour unter Tony Blair in Kosovo, Sierra Leone, Afghanistan und Irak
verfolgte.
Der Pazifismus der Liberalen und der Isolationismus der Konservativen
ergeben in der Kombination einen weitgehenden Rückzug Großbritanniens aus
einer aktiven militärischen Rolle in der Welt, schäumen Kritiker.
Großbritanniens Verteidigungshaushalt bleibt auch nach den Kürzungen der
viertgrößte der Welt, kontert die Regierung. Man wolle bloß in Zukunft
"selektiver" handeln. Die Zeit von "Überforderung und Unterausrüstung"
müsse ein Ende haben. Intensives Lobbying der hohen Generäle und des
Verteidigungsministers Liam Fox haben erreicht, dass der Militärhaushalt
nur um 8 Prozent schrumpft, gegenüber durchschnittlich 25 Prozent in
anderen Ministerien.
Der Afghanistan-Einsatz ist nicht betroffen, denn der wird aus einem
Sonderetat bezahlt. Die Geheimdienste kriegen mehr Geld, vor allem zur
Terrorabwehr und zur Bekämpfung von "Cyberterrorismus", was in der Praxis
mehr Überwachung des Internets bedeuten wird. Die neue
Verteidigungsstrategie, die Cameron am Dienstag im Parlament vorstellte,
spricht von "Wirtschafts-, Cyber- und Stellvertreterkriegen statt direkter
militärischer Konfrontation" als wahrscheinlichstem Bedrohungsszenario der
Zukunft.
Das heißt auch eine Verlagerung der Mittel in den Bereich
Entwicklungspolitik. Das Verteidigungsministerium wird "kleiner, klüger und
verantwortlicher", sagte Cameron am Dienstag. Das Budget des
Außenministeriums schrumpft um 24 Prozent über vier Jahre, womit zahlreiche
Stellen verloren gehen dürften.
Das Entwicklungshilfeministerium hingegen darf seinen Etat erhöhen, weil
die britische Regierung - anders als die deutsche - zum EU-Ziel steht, bis
2013 den Anteil der Entwicklungshilfe am Bruttoinlandsprodukt auf 0,7
Prozent zu steigern. Es muss dazu allerdings auch seine Arbeitsfelder
erweitern. Das Entwicklungshilfeministerium "wird seine Investitionen in
Konfliktlösung und Konfliktprävention verdoppeln", heißt es in der neuen
Verteidigungsstrategie. "Wir werden unsere Fähigkeiten erweitern,
militärische und zivile Experten gemeinsam zu entsenden, um
Stabilisierungsbemühungen zu unterstützen."
Ein leitender Beamter des Ministeriums erklärt: "Es ist deutlich geworden,
dass wir in Konfliktgebieten und fragilen Staaten präsent sein müssen und
dass es Stabilisierung geben muss, bevor es Entwicklung geben kann." Was
das für die Praxis bedeutet, sei noch nicht klar, denn eine Evaluierung
sämtlicher Programme laufe noch.
Aber, verrät er: "In Afghanistan wird die Entwicklungshilfe enorm steigen,
und es wird einen größeren Fokus auf sicherheitspolitisch schwierige
Gebiete wie Somalia geben." 30 Prozent der Entwicklungshilfe sollen in
Krisengebiete fließen.
Das kann eine Militarisierung der Entwicklungspolitik bedeuten, und
bewährte Ziele wie Armutsbekämpfung könnten nachrangig werden. Es setzt
auch eine enge Verzahnung der Arbeit der Entwicklungs-, Verteidigungs- und
Außenministerien voraus.
Dies praktiziert die britische Regierung bereits in einigen Ländern wie der
DR Kongo, wo Pools der drei Ministerien gemeinsam arbeiten - ein Modell für
"Stabilisierungseinheiten" anderswo. Der neue "Nationale Sicherheitsrat"
überwacht die interministerielle Koordination.
Damit wackeln eine Menge sicher geglaubter Beamtenkarrieren in London. Die
befürchtete globale Handlungsunfähigkeit Großbritanniens ergibt sich, sagen
Betroffene, nicht so sehr aus den Kürzungen an sich, sondern daraus, dass
auf absehbare Zeit niemand genau weiß, was er machen soll.
20 Oct 2010
## AUTOREN
Dominic Johnson
## TAGS
Parlamentswahl
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