Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Favoritin bei der Präsidenten-Stichwahl: Brasiliens Kämpferin
> Dilma Rousseff ist Präsident Lulas Wunschnachfolgerin. Es gilt als
> sicher, dass sie die Stichwahl gewinnt. Sie verficht einen radikalen
> Wachstumskurs - ohne Rücksicht auf die Umwelt.
Bild: "Starke Persönlichkeit mit Macho-Zügen": Dilma Rouseff.
Wohl nur noch höhere Gewalt könnte verhindern, dass sie am 1. Januar 2011
das Amt als Brasiliens erste Präsidentin antritt - so klar ist ihr
Vorsprung bei der Stichwahl am Sonntag. Und doch kämpft Dilma Rousseff bis
zuletzt um jede Stimme.
In einem orangefarbenen Blouson, an den sie zwei große rote Stoffsterne
geheftet hat, steht die 62-jährige Kandidatin der seit acht Jahren
regierenden Arbeiterpartei PT (Partido dos Trabalhadores) unweit der
Markthalle von Porto Alegre und ruft ihren Anhängern zu: "Bis zum 31.
Oktober werden wir unsere Fahnen hochhalten, unseren Glauben, und wir
werden den größten Sieg erringen, den dieses Land je gesehen hat."
Mit noch rauerer Stimme als sonst beschwört sie ihre Verbundenheit mit den
Einheimischen - ihre Tochter und ihr erst einige Wochen alter Enkel wohnen
in Porto Alegre. Um "zwei Projekte" gehe es bei der Stichwahl, ruft sie und
erinnert an "Arbeitslosigkeit, Stagnation, Ungleichheit" unter Präsident
Fernando Henrique Cardoso, der bis 2002 amtiert hat. Dessen damaliger
Minister José Serra ist nun Rousseffs Widersacher.
Dagegen setzt Rousseff "das Projekt von mir und von Lula: Wachstum,
Arbeitsplätze, Abbau der sozialen Kluft. Es ist ein großzügiges Projekt,
das nicht Hass auslöst, sondern Liebe und Hoffnung." Das Getöse des
Wahlkampfs übertönt, dass die wirtschafts- und sozialpolitischen
Vorstellungen der beiden Kandidaten gar nicht so weit auseinanderliegen,
einerseits.
Andererseits wird aber auch über die Amtszeit von Luiz Inácio Lula da Silva
abgestimmt - und die erhält in allen Umfragen Spitzenwerte. Lula, dem die
Verfassung eine zweite Wiederwahl in Folge untersagt, liebäugelt
unverhohlen mit einem Comeback in vier Jahren. Während die Sozialdemokratie
in Europa abdankte, hat sie der Exgewerkschafter in ihrer brasilianischen
Variante zu einer der größten politischen Erfolgsgeschichten der letzten
Jahre gemacht.
In puncto Charisma, rhetorischen Geschicks oder politischen Gespürs kann
Dilma, wie sie in Brasilien meist genannt wird, mit ihrem Mentor nicht
mithalten. Doch geradezu perfide ist es, sie deswegen zu einer "Frau ohne
Eigenschaften" oder gar zu einer Marionette des Präsidenten zu stilisieren,
wie dies ihre Gegner seit Monaten versuchen. Denn die Tochter eines
bulgarischen Einwanderers ist bereits seit 2003 eine Schlüsselfigur im
System Lula.
Zunächst diente die diplomierte Volkswirtin dem Präsidenten zweieinhalb
Jahre lang als effiziente Bergbau- und Energieministerin. Behutsam stärkte
sie die Rolle des Staates in der durch Cardosos Privatisierungspolitik
schwer gebeutelten Stromwirtschaft - bis Mitte 2005 ein Korruptionsskandal
Lula zum ersten und einzigen Mal ins Wanken brachte.
José Dirceu, damals der zweite starke Mann in Brasília, musste seinen
Posten als Präsidialamtsminister räumen. Nachfolgerin wurde Rousseff. Durch
einen "Managementschock" solle sie die Arbeit ihrer KollegInnen für die
Gesellschaft sichtbar machen, heiß es damals. Die Rechnung ging auf, ein
Jahr später wurde Lula wiedergewählt.
Im Gegensatz zu ihrem Vorgänger im Präsidialamt fehlte Rousseff der
Stallgeruch der PT, der sie erst 2001 beigetreten war. Doch gerade das kam
der Technokratin in der Korruptionskrise zupass. Und ihre Vergangenheit als
linke Idealistin hat sie sowieso nie verleugnet. 1967, drei Jahre nach
Beginn der Militärdiktatur, schloss sich die damals 18-Jährige in ihrer
Heimatstadt Belo Horizonte der Stadtguerilla an. Rasch stieg die als
hochintelligent geltende Studentin der Volkswirtschaft in die
Führungszirkel des "Kommandos zur nationalen Befreiung" auf. Sie kümmerte
sich vor allem um die Finanzen und war an der Planung eines großen Coups
beteiligt - in der Villa eines notorisch korrupten Politikers in São Paulo
knackten die Rebellen einen millionenschweren Safe.
An bewaffneten Aktionen habe sie sich nie beteiligt, sagt Rousseff. 1970
wurde sie verhaftet, wochenlang gefoltert und verbrachte fast drei Jahre in
Haft. Ende der Siebzigerjahre, als sich die Generäle einen langwierigen
Übergang zur Demokratie abringen ließen, gehörte sie zu den Gründern der
(sozial-)Demokratischen Arbeitspartei PDT.
Respekt bis weit in bürgerliche Kreise hinein verschaffte sie sich in den
Achtzigerjahren als gradlinige Finanzdezernentin in Porto Alegre. 1994 und
dann erneut von 1999 bis 2002 amtierte sie höchst erfolgreich als
Energieministerin des Bundesstaats Rio Grande do Sul, worauf Lula sie nach
Brasília holte.
Rousseffs wohl größtes Manko ist ihr schnörkelloses, oft brüskes Auftreten
gegenüber PolitikerInnen, Untergebenen und auch JournalistInnen. Ein
ehemaliger Kabinettskollege, der Musiker und langjährige Kulturminister
Gilberto Gil, bescheinigte ihr bei ihrem Wechsel ins Präsidialamt eine
"starke Persönlichkeit mit Macho-Zügen".
Bereits mit Blick auf die Wahl legte sie sich Schritt für Schritt ein
feminineres Image zu. Anfang 2009 ließ sie sich liften und tauschte ihre
Brille gegen Kontaktlinsen. Wenige Monate darauf gab sie ihre
Lymphkrebserkrankung bekannt, mittlerweile soll sie vollständig geheilt
sein. Während ihrer Chemotherapie trug sie eine Perücke, vor ein paar
Monaten entschloss sie sich zu einem Kurzhaarschnitt.
Dilma Rousseff ist alles andere als eine Grüne: Wind- oder Solarkraft sind
für sie eine eher lästige Randerscheinung. Ebenso pragmatisch und
machtbewusst wie Lula setzt sie ganz auf ökologisch, sozial und selbst
volkswirtschaftlich fragwürdige Staudammprojekte wie das am
Amazonas-Nebenfluss Xingu geplante Wasserkraftwerk Belo Monte.
Allerdings war es auch ihr zu verdanken, dass Lula dem Druck der Atomlobby
nicht sofort erlegen war. Die inzwischen beschlossene Fertigstellung des
Siemens-Meilers Angra 3 südlich von Rio de Janeiro sei schlicht zu teuer,
hatte die Ökonomin als Energieministerin argumentiert.
Wie ihr Mentor ist Rousseff überzeugte Verfechterin eines Wachstumskurses
um fast jeden Preis, auch in Amazonien. Damit war sie schon immer eine
Antipodin von Marina Silva, die Lula fünfeinhalb Jahre als Umweltministerin
diente. Nachdem Lula in mehreren Fällen zugunsten von Rousseff entschieden
hatte, warf die international renommierte Umweltpolitikerin schließlich
entnervt das Handtuch, wechselte zu den Grünen und kam im ersten Wahlgang
auf beachtliche 19,3 Prozent der Stimmen.
Nicht gerade überzeugend wirkten die jüngsten Versuche Rousseffs, die knapp
20 Millionen WählerInnen Silvas zu umwerben, die zudem der moderaten
Pfingstkirche "Versammlung Gottes" angehört. Selbstverständlich sei sie
"persönlich" gegen Schwangerschaftsabbrüche und auch gegen die Homoehe,
sagte Rousseff, als das rechte Lager nach dem ersten Wahlgang Religion,
Sexualität und Abtreibung zum Thema machte. Allerdings bekannte sie sich
zur "Zivilunion", über die etwa Erbfragen in stabilen
gleichgeschlechtlichen Partnerschaften schon längst geregelt sind.
Letzte Woche bekam Rousseff die Unterstützung prominenter Grüner - Marina
Silva und die in dieser Frage gespaltene grüne Partei haben auf eine
offizielle Wahlempfehlung verzichtet. Doch als Greenpeace-Aktivisten "Null
Entwaldung" für das Amazonasgebiet forderten, bezeichnete Rousseff dies als
Demagogie. Auch Amazonien brauche eine "nachhaltige
Wirtschaftsentwicklung", meinte sie und bekräftigte die Position
Brasiliens, die sie als Delegationsleiterin auf dem Klimagipfel von
Kopenhagen vertreten hatte - 80 Prozent weniger Urwaldzerstörung bis 2020.
Ähnlich wie Lula werde die kommende Präsidentin ein breites
Regierungsbündnis schmieden, sagt Marcos Romão, ein langjähriger Aktivist
der afrobrasilianischen Bewegung, und freut sich: "Da sie durch das gute
Abschneiden von Marina in die Stichwahl gedrängt wurde, muss Dilma dabei
auch die linke Basis berücksichtigen."
26 Oct 2010
## AUTOREN
Gerhard Dilger
## TAGS
Ehe
## ARTIKEL ZUM THEMA
Eheschließung und Adoptivrecht: Chile führt Homoehe ein
Als achtes Land Lateinamerikas führt Chile die Homoehe ein. Die Reform wird
ausdrücklich auch vom konservativen Lager mitgetragen.
Deutsche AKW-Exporte: Samba und Atom
In Brasilien finanziert Deutschland weiter Nukleartechnologie.
Sozialdemokraten und Grüne fordern die Bundesregierung auf, die
Hermesbürgschaft zurückzuziehen.
Regenwald in Brasilien: Baustopp für Megastaudamm
Ein Richter kassiert die Genehmigung für das weltweit drittgrößte
Wasserkraftwerk Belo Monte. Es fehlten Programme zum Schutz der indigenen
Bevölkerung.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.