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# taz.de -- Widerstand gegen den Castor-Zug: Der blockierte Polizeistaat
> Mit Entschlossenheit und guter Logistik besetzen die Castor-Gegner die
> Schienen 20 Stunden lang. Die Beamten kämpfen dagegen mit Frust und
> Überlastung.
Bild: Die Erschöpfung der Beamten bekommt mancher Aktivist schmerzhaft zu spü…
HARLINGEN taz | Die Polizei hat die Kontrolle verloren. Das kann man nicht
nur in Harlingen erleben, wo in der Nacht von Sonntag auf Montag die größte
Schienenblockade in der Geschichte des Wendlands läuft. Eine Schlüsselszene
spielt sich 11 Kilometer entfernt ab. Am Kreisverkehr westlich von
Dannenberg, dort wo sich die zentralen Kreisstraßen 216 und 248 kreuzen,
haben Bauern mit dutzenden Treckern eine schmale Passierstelle
eingerichtet: Hier kontrollieren sie den Zugangsverkehr in die Region.
„Klar darfst du durch", ruft ein Landwirt einem Autofahrer zu. "Nur keine
Polizisten!"
Bei Kilometer 188 auf der Schienenstrecke von Lüneburg nach Dannenberg
bekommen die Einsatzkräfte die Folgen dieser Aktion zu spüren. Es ist
Montag früh, kurz nach Mitternacht. Die Temperaturen sind in der
sternenklaren Nacht unter den Gefrierpunkt gefallen. Seit dem Mittag sitzen
hier mehrere tausend Menschen auf den Schienen. Die Polizei ist machtlos.
Auf der Böschung oberhalb der Schienen stehen einige Beamte und blicken
tatenlos zu, seit Stunden schon. "Gegen das hier kommt man einfach nicht
an", sagt einer der jungen Männer in Uniform. Nach über 20 Stunden
Dauereinsatz verlassen ihn seine Kräfte, doch ein Ende ist nicht absehbar.
Wegen der blockierten Zufahrtswege, kommt die Ersatzbelegschaft für die
erschöpften Beamten nicht durch. Auch Verpflegung trifft nur schleppend
ein. "Wer sich nicht selbst versorgt hat, hat schlechte Karten", sagt der
Polizist und deutet auf einen Vorrat an Schokoriegeln in der Tasche seiner
Uniform.
Solche Probleme haben die Aktivisten unten auf den Gleisen nicht. Steffi,
Markus und Ellen sitzen in Kälteschutzdecken gehüllt auf Strohsäcken. Sie
sind seit elf Uhr morgens hier. Gerade wird wieder eine Kiste mit Essen
durchgereicht. Salami-Brote. "Ich kann nicht mehr", sagt Markus. "Wir haben
den ganzen Tag nur gegessen." Tatsächlich funktioniert die Logistik der
Sitzblockade perfekt. Schon bald nach ihrem Beginn wird das erste Essen in
großen Töpfen aus dem Camp im nahegelegenen Hitzacker herbeigeschafft.
Lauchsuppe, wahlweise vegan oder mit Speck.
Als die Zahl der Blockierer am Nachmittag auf bis zu 5.000 anwächst, werden
Decken und Lebensmittel kurzzeitig knapp. Um 22 Uhr wird per Internet zu
Spenden aufgerufen: "Alles, was leicht genug ist, um über eine Polizeikette
geworfen zu werden, ist besonders willkommen." Schon eine Stunde später
wird Nachschub mit mehreren Autos bis kurz vor die Gleise gebracht – trotz
vieler Polizeisperren. "Wir kennen uns hier eben aus", sagt einer der
Fahrer trocken.
Zwei Samba-Bands und ein Musikwagen sorgen derweil für Unterhaltung, viele
kleine Lagerfeuer neben den Schienen halten die Blockierer warm. Als gegen
Mitternacht die Nachricht die Runde macht, dass der Castor im 20 Kilometer
entfernten Dahlenburg mit Zäunen gesichert wird, damit er dort über Nacht
bleiben kann, brandet Jubel auf. Viele legen sich im Gleisbett schlafen.
Doch die Nachtruhe währt nicht lange. Um ein Uhr nachts – nach über
zwölfstündiger Blockade - fühlt sich die Polizei schließlich doch in der
Lage zu räumen. Die Einsatzleitung sagt nach Gesprächen mit den
Organisatoren zu, dass dabei keine Gewalt angewendet werden soll: "Wer sich
nicht wehrt, wird nur weggetragen."
Doch dieses Versprechen hat der Polizeichef offenbar ohne seine
Untergebenen gemacht: Als die Räumung um viertel vor zwei in der Nacht
beginnt, haben viele – nach mittlerweile 30 Stunden im Einsatz – weder
Kraft noch Lust, die Blockierer weit zu tragen. Die ersten 20 Meter, wo die
Kameras sich tummeln, wird friedlich getragen – dann fordern die Beamten
zum Gehen auf. Teils freundlich - "Das ist doch für uns alle angenehmer" -,
teils unterschwellig drohend: "Ich bin so müde, ich könnte Sie sonst
fallenlassen".
Wer den Weg bis zur mehrere hundert Meter entfernten
Gefangenenssammelstelle dennoch nicht laufen will, muss mit Schmerzen
rechnen: Mit umgeknickten Armen, mit Griffen ins Gesicht oder damit, über
den Schotter geschleift zu werden. Die meisten beugen sich dem Druck und
gehen freiwillig mit. Dennoch ist die Räumung erst morgens um sieben
abgeschlossen.
Um zu verhindern, dass die Blockierer an anderer Stelle wieder auf die
Gleise gehen, werden knapp tausend von ihnen in ein Freiluft-Gefängnis
gesperrt: In einem geschlossenen Ring aus Polizeiautos müssen sie
ausharren, bis der Castor morgens um 9.01 Uhr an ihnen vorbeifährt. Weil
sie trotz stundenlanger Ingewahrsamnahme keinem Richter vorgeführt werden,
sprechen Anwälte der Bürgerinitative Lüchow-Dannenberg von "organisiertem
Rechtsbruch".
Im Polizeikessel bekommen erstmals auch die Blockierer die
Versorgungsengpässe der Beamten zu spüren: Decken stellt die Polizei zur
Verfügung, Wasser zunächst nicht. Auch dieser Polizeitransporter war bei
der Bauernsperre nicht durchgekommen.
8 Nov 2010
## AUTOREN
M. Kreutzfeldt
M. Kaul
## TAGS
Schwerpunkt Atomkraft
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