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# taz.de -- Debatte Stuttgart 21: Die Stuttgarter Gegenvernunft
> Heiner Geißlers Schiedsspruch zu Stuttgart 21 ist bitter. Doch wenn sich
> Zorn mit Wissen paart, blamieren sich gemeinhin die Interessen der
> Mächtigen.
Bild: Zum Glück sind Bauwerke geduldig.
Die Niederlage, die die Protestbewegung gegen Stuttgart 21 durch den
Schiedsspruch Heiner Geißlers erlitten hat, ist bitter. Sie kann aber nicht
vergessen machen, welchen Einschnitt im politischen Leben der
Bundesrepublik der Kampf für die Erhaltung des Stuttgarter Hauptbahnhofs
bedeutet. Erst recht kann sie nicht die demokratische Perspektive
verdunkeln, die sich mit diesem Kampf eröffnet.
Wie die Atomkritiker damals
Was am Stuttgarter Bürgerprotest hervorsticht, ist seine geradezu
penetrante Vernünftigkeit. Vernünftig und von den Abrissexperten nicht zu
widerlegen waren die technischen, ökologischen und ästhetischen Argumente
zugunsten des bestehenden Bahnhofs. Vernünftig aber war vor allem die Verve
und Genauigkeit, mittels derer die Kritiker des Neubaus die von den
Befürwortern vorgelegten Schätzungen der Kosten auseinandernahmen. Sie mit
Gegenrechnungen konfrontierten, die das Zahlenwerk der Bahn dem schlimmsten
Vorwurf preisgaben, den man in Stuttgart und Umgebung erheben kann:
mangelnde finanzielle Seriosität.
Der in Stuttgart im Lager der Bahnhofserhalter versammelte Sachverstand
bestreitet den Anspruch der herrschenden Machtelite, ihre Entscheidungen
auf eine überlegene Rationalität zu gründen und sich stets vom gemeinen
Wohl leiten zu lassen. Für die Zukunft zu arbeiten, heißt nach diesem
Anspruch, Deutschlands Position auf den internationalen Märkten durch
technologische Großprojekte zu fördern. Erfindungsgeist und schöpferische
Energie entzünden sich, so heißt es, erst im Verfolg solche Projekte.
Wer ein anderes Entwicklungsmodell vorschlägt, das sich von ökologischen
und sozialen Rücksichten leiten lässt, gilt bestenfalls als
rückwärtsgewandter Romantiker, schlimmstenfalls als Saboteur des
technischen Fortschritts. All diese Argumente, die seit Monaten die Seiten
der bürgerlichen Presse bevölkern, wurden durch die Stuttgarter
Gegenvernunft zunichte gemacht - wie schon eine Generation vorher die
Argumente der Atomlobby. Auch damals ging die Definitionsmacht der
AKW-Befürworter, was technischer Fortschritt sei und was nicht, zu Bruch.
Der Stuttgarter Massenprotest erhielt seine Schubkraft nicht allein durch
die Kraft der besseren Argumente. Sondern in Stuttgart, in Gorleben und
vielen anderen Orten lodert der Zorn. Es ist nicht die Zukunftsangst, wie
uns die Fetischisten der Großprojekte weismachen wollen. Sondern die Bürger
fühlen sich von allen wesentlichen politischen und ökonomischen
Entscheidungen ferngehalten. "Bürgerausschaltung" nennt das Peter
Sloterdijk mit einem glücklichen Ausdruck. Beispiele?
Eine Verfassung für das geeinte Deutschland wurde abgeblockt, damit aber
auch das im Grundgesetz für den Fall der Einheit vorgesehene
Verfassungsreferendum. Die Agenda 2010 war 2002 überhaupt nicht Gegenstand
irgendeines Wahlprogramms, geschweige denn einer öffentlichen Diskussion
vor der Wahl. Über das Ziel und die in Aussicht genommene Dauer des
militärischen Einsatzes in Afghanistan gibt die Regierung keine Auskunft.
Grundlegende Entscheidungen im Rahmen der Europäischen Gemeinschaft
unterliegen nicht dem Referendum, obwohl dies - in europäischem Rahmen -
mittels einer Gesetzesänderung möglich wäre.
Der vorläufig letzte Akt der Selbstherrlichkeit war die faktische
Bestimmung Gorlebens als Endlager für den Atommüll. Hier unternahm die
Regierung nicht einmal mehr den Versuch einer rationalen Begründung. Was
die gegenwärtige Regierung betreibt, ist Dialogverhinderung mittels
Pseudodialogen. Wo Sachauseinandersetzungen angezeigt wären, sieht sie nur
ein "Vermittlungsproblem".
Deshalb war es so wichtig, dass das Fernsehen, normalerweise das Medium des
Pseudodialogs, genauer der Sender Phoenix, die Stuttgarter
Auseinandersetzung live übertrug. Argument und Gegenargument verhakten
sich, kritische Nachfragen verhinderten die Flucht in Gemeinplätze. Wie in
einem Lehrstück wurde die Rationalität der Neubaugegner dramatisch
nachvollziehbar.
Dialogverhinderung von oben
Wird diese Kombination aus Vernunft und Zorn irgendetwas zustande bringen,
was die hohe Zeit des Protests überdauern, was die "Bürgereinschaltung" in
die politische Kultur Deutschlands befördern wird?
Es gibt Stimmen, keineswegs nur aus dem Lager der Rechten, die
Protestbewegungen wie denen von Stuttgart jede politische Bedeutung
absprechen. Für diese Kritiker sind solche Protestbewegungen partikular, am
eigenen Nutzen orientiert und ohne jeden Bezug auf das Gemeinwohl.
Angehörige der Mittelschichten, so ihre These, sind nur so weit zum Protest
willens, wie dieser in ihrem unmittelbaren Interesse liegt. Nach dieser
Logik dürften die Grünen nicht für die Bürgerversicherung eintreten,
immerhin verstößt sie gegen die materiellen Interessen ihrer Klientel. Tun
sie aber doch - um das Gesundheitswesen im Ganzen in Ordnung zu bringen.
Marx sagte zu Recht, dass sich Ideen (wie die des Gemeinwohls) stets vor
den Interessen blamieren. Aber der Anspruch protestierender Bürger, sich in
die eigenen Angelegenheiten einzumischen, erfolgt nicht im Rahmen einer
abstrakten Idee vom engagierten Citoyen. Sondern sie entspricht der
Einsicht, dass die Politikerkaste sich zunehmend unfähig zeigt, auf
vernünftige Weise praktische Probleme zu lösen. Der Griff nach der
Notbremse, von dem Georg Seeßlen in der taz schrieb, entspricht einem
vernünftigen, interessengeleiteten Nutzenkalkül. Und er dient dem
Gemeinwohl.
Aus dem Regierungslager tönt nun, die Mediation von Stuttgart könne das
Vorbild abgeben für die Beratung künftiger Großprojekte. Dabei bleibt die
Grundbedingung dieses Angebots, dass das Handeln des Staates stets
alternativlos ist, unangetastet.
Trotz der Niederlage durch den Schiedsspruch ist hier noch nichts verloren.
Wie schon zu Zeiten der AKW- und Friedensbewegungen eröffnet sich die
Chance, den Protest zu verstetigen, sogar durch neue Organisationsformen
abzusichern. Die Zeit ist der Gründung von autonomen Bürgerversammlungen
günstig, ins Leben gerufen, um sich über wirkliche Alternativen zu den
Projekten der Machtelite zu verständigen.
2 Dec 2010
## AUTOREN
Christian Semler
## TAGS
Schwerpunkt Stuttgart 21
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