# taz.de -- Italienischer Journalist über freie Presse: "Unsere Sprache ist ei… | |
> Marco Travaglio ist Chefredakteur der freien italienischen Tageszeitung | |
> "Il fatto quotidiano". Im Interview erzählt er über abgelehnte | |
> Subventionen, Berlusconi und ihren großen Erfolg. | |
Bild: Will kritischen Journalismus verhindern: Italiens Ministerpräsident Berl… | |
taz: "Il fatto quotidiano" ging im September 2009 an den Start. Welches | |
Auflagenziel hattet ihr damals? | |
Marco Travaglio: Wir wollten bei der verkauften Auflage ein Minimum von | |
12.000 Stück pro Tag erreichen. Als wir dann schon vor dem Start 30.000 | |
Abos verkauft hatten, haben wir unser Ziel - bei dem wir schwarze Zahlen | |
geschrieben hätten - auf 25.000 erhöht. Glücklicherweise verkaufen wir fünf | |
Mal soviel; im Freiverkauf gehen täglich über 70.000 Exemplare weg, dazu | |
kommen 40.000 Abonnements. | |
Andere Zeitungen müssen schließen oder kämpfen mit drastischen | |
Auflagenrückgängen. Ihr dagegen könnt eine in Europa derzeit wohl | |
einzigartige Erfolgsgeschichte verbuchen. Was ist das Geheimnis? | |
Wir schrieben die Nachrichten, die die anderen nicht bringen, entweder weil | |
sie nicht wollen oder weil sie es sich nicht erlauben können. Und wir | |
nennen die Dinge bei ihrem Namen, unsere Sprache ist einfach und direkt, | |
wir verstecken Fakten nicht hinter politisch-journalistischem Jargon. Und | |
da wir keinen "Padrone" haben, keinen Verleger, der uns Vorschriften machen | |
kann, da wir zudem ganz wenig Werbung im Blatt haben und damit auch durch | |
Werbekunden nicht erpresst werden können, da wir drittens anders als so | |
viele Zeitungen in Italien keine staatlichen Subventionen kriegen, sind wir | |
niemandem Rechenschaft schuldig - außer unseren Lesern. | |
Wir können uns mit den großen Banken anlegen, mit der Industrie, mit den | |
Energiekolossen. Die ENEL hat uns zum Beispiel vor kurzem die Werbung im | |
Blatt gestrichen, weil wir kritisch über den Börsengang von des | |
Ökostrom-Tochterunternehmens ENEL Green Power berichtet hatten. Wir können | |
so etwas mühelos verkraften und lassen uns nicht konditionieren. In den | |
ersten Monaten hatten wir 21 Millionen Euro Erlös durch den Zeitungsverkauf | |
und nur 486.000 Euro Werbeeinnahmen. | |
In Italien genießen Zeitungsverlage, die als Genossenschaft organisiert | |
sind, kräftige staatliche Subventionen. Warum seid ihr diesen Weg nicht | |
gegangen. | |
Wir glauben, dass eine Zeitung dann Sinn hat, wenn sie sich bei den Lesern | |
durchsetzt. Außerdem werden die subventionierten Zeitungen erpressbar. | |
Jedes Jahr erwägt die Regierung, sie zu kürzen oder ganz zu streichen - und | |
jedes Jahr kann man besichtigen, wie der Ton der subventionierten Blätter | |
gegenüber der Regierung vorsichtiger wird. | |
Mit oder Subventionen - auf Papier gedruckte Zeitungen gelten als | |
Auslaufmodell. Jüngere Menschen sind im Internet unterwegs, statt sich am | |
Zeitungskiosk rumzutreiben. | |
Wir haben insgesamt eine recht junge Leserschaft. Unsere Abonnenten sind im | |
Schnitt unter 40, oft unter 30 Jahren. Und das Gros von ihnen hat ein | |
Internet-Abo. Wir achten auch darauf, dass wir trotz des großen Erfolgs | |
unserer traditionellen Zeitung den Anschluss nicht verpassen. Unser | |
Online-Auftritt "[1][ilfattoquotidiano.it]" gehört mittlerweile zu den vier | |
im Internet meistgeklickten Tageszeitungen. Täglich gehen im Schnitt | |
300.000 Besucher auf unsere Website. Das liegt nicht zuletzt daran, dass | |
wir Dubletten-Angebote mit der gedruckten Zeitung so weit wie möglich | |
vermeiden, auch wenn wir eine sehr kleine Web-Redaktion haben. Wie bei der | |
Druckausgabe gilt aber: Der Erfolg lebt davon, dass wir jene Nachrichten | |
bringen, die die Leute nicht im Fernsehen hören, die sie in den anderen | |
Zeitungen nicht lesen. | |
Euer Erfolg wäre, böse gesagt, also weniger durch eigene Meriten zu | |
erklären als dadurch, dass im Lande Berlusconis die anderen einfach ihren | |
Job nicht machen? Droht Euch das Aus, wenn Berlusconis Kontrolle | |
verschwindet? | |
Stimmt. Uns gäbe es nicht, wenn die Medien die Fakten, die Nachrichten | |
brächten, wie es in anderen Ländern Normalität ist. Wir füllen in Italien | |
ein enormes Vakuum. Aber Achtung: Dieses Problem kann man nicht auf | |
Berlusconi zusammenkürzen. Traditionell sind unsere Zeitungen durch die | |
Parteien konditioniert, durch die Banken, durch Großunternehmen, und dies | |
so stark wie nirgendwo sonst. Denn bei uns haben Unternehmer und Parteien | |
direkten Zugriff auf die Medien. Die Unternehmer kontrollieren die Presse - | |
den klassischen, "reinen" Verleger gibt es praktisch nicht -, die Parteien | |
kontrollieren das Fernsehen. Auch in den Jahren nach Berlusconi wird sich | |
an diesem Zugriff wenig ändern. Medien, die nicht informieren, werden uns | |
in großem Maßstab erhalten bleiben. | |
Apropos Information: In den letzten Wochen hielt Wikileaks mit seinen | |
Enthüllungen die Welt in Atem. Ein neues Modell, das die Krise der | |
"traditionellen" Medien weiter verschärfen wird - oder ging es da bloß um | |
"Gossip"? | |
Wikileaks ist in ähnlicher Mission unterwegs wie wir. Und die Folgen werden | |
nicht ausbleiben: In Zukunft können Diplomaten nicht mehr so leichthändig | |
in der Öffentlichkeit das Gegenteil dessen sagen, was sie hinter | |
verschlossenen Türen äußern. Aber aufgepasst: Wikileaks ersetzt den | |
Journalismus nicht, es braucht ihn. Wikileaks stellt da hunderttausende | |
Dokumente ins Netz, Berichte, Kablogramme etc. - und im zweiten Schritt | |
sind dann Journalisten gefragt, um das enorme Material kompetent | |
aufzubereiten und einem breiten Publikum im eigentlichen Sinne erst | |
zugänglich zu machen. | |
Wikileaks ist das Archiv - und da müssen dann die Journalisten rein. Aber | |
natürlich verteidigen wir Wikileaks. Da geht es eben absolut nicht bloß um | |
Gossip. Klar, wir wussten, wer Berlusconi ist, das mussten wir da nicht | |
erst nachlesen. Aber wir haben jetzt mit den veröffentlichten Dokumenten | |
zum Beispiel schwarz auf weiß dargelegt bekommen, wie sehr die | |
US-Diplomatie ihm misstraut, während hier immer erzählt wurde, das | |
Verhältnis zu den USA sei ausgezeichnet. | |
Trotz eures sensationellen Erfolgs: Wie seht ihr die kommende Entwicklunge | |
Papier versus online? | |
"Il fatto quotidiano" nutzt heute schon alle verfügbaren | |
Kommunikationsinstrumente, die Social networks, Facebook, Twitter etc. Und | |
wir würden in Zukunft gern auch mit Web-TV experimentieren; wir wissen | |
allerdings noch nicht, ob wir uns das leisten können. Mag sein, dass die | |
neuen Kanäle in Zukunft an Stelle des Papiers treten. Momentan allerdings | |
passiert das noch nicht, auch weil in Italien Internet noch | |
unterdurchschnittlich verbreitet ist. Der Auflagenschwund der anderen | |
Zeitungen in Italien hat meiner Meinung auch nicht so sehr mit ihrer | |
Papierform zu tun - sondern damit, was sie drucken. Unsere Leser sind | |
Leute, die teils seit Jahren keine Zeitungen mehr kauften, oder jünger | |
Menschen, die noch nie Zeitungen kauften. Die stoßen sich keineswegs daran, | |
dass wir auf Papier rauskommen, weil sie jetzt endlich die Nachrichten | |
lesen, die sie vorher nicht bekamen. | |
Und Sie selbst, lesen Sie lieber auf Papier oder auf dem iPad? | |
Für mich ist Papier unersetzlich, das kann man knicken, da kann ich | |
unterstreichen - und wenn mich beim Lesen eine Fliege nervt, kann ich sie | |
mit der Zeitung erschlagen. | |
10 Dec 2010 | |
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[1] http://www.ilfattoquotidiano.it/ | |
## AUTOREN | |
Michael Braun | |
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taz.lab 2011 „Die Revolution haben wir uns anders vorgestellt“ | |
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