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# taz.de -- Debatte Wikileaks: Immanuel Kant 2.0
> Mit Wikileaks wird eine alte Utopie der Aufklärung Wirklichkeit. Im
> Umgang mit der Affäre zeigt sich die Überlegenheit von Demokratien.
Bild: Die Idee einer globalen Öffentlichkeit als Regulativ internationaler Pol…
Julian Assange ist verhaftet und die Diskussion über Wikileaks reißt nicht
ab. Während Unterstützer zu Cyberattacken übergehen, wettern Politiker und
Journalisten gegen die Plattform. Diese Kritik ist auch Ausdruck der Angst
analoger Autoritäten, im Zeitalter des Internets an Einfluss zu verlieren.
Vollkommen fremd ist den stets um Lockerheit bemühten Repräsentanten der
Unterhaltungsgesellschaft eine Generation, die trockene Zahlencodes wie
213.251.145.96 auf T-Shirts trägt - eine der neuen Wikileaks-Adressen.
Ausgerechnet sperrige, weitgehend unredigierte Dokumente haben eine
Aufmerksamkeit erfahren, von der infotainende Politiker und Journalisten
nur träumen können. In Zeiten postdemokratischer Politikmüdigkeit ist das
Interesse an derlei Interna überraschend.
Die eigentliche Sensation ist, dass damit die totgesagte, faktenorientierte
Auffassung von Öffentlichkeit eine Renaissance erfährt. Wikileaks mag
anarchisch scheinen, tatsächlich handelt es sich um die Verwirklichung
einer politischen Utopie der Aufklärung.
Das Phänomen lässt sich als eine zeitgemäße Umsetzung des Verständnisses
von Publizität deuten, wie es Immanuel Kant in seiner Schrift "Zum ewigen
Frieden" von 1795 entworfen hat. Der Königsberger Philosoph formuliert hier
grundlegende Gedanken zu internationalen Beziehungen und entwickelt im
letzten Teil des Textes das "Prinzip der Publizität": die Idee einer
globalen Öffentlichkeit als Regulativ internationaler Politik.
Kant zufolge ist die "Unverträglichkeit mit der Publizität ein gutes
Kennzeichen der Nichtübereinstimmung der Politik mit der Moral als
Rechtslehre". Kurz gesagt: Wer etwas im Hinterzimmer zu besprechen hat, hat
meistens nichts Gutes im Sinn. Umgekehrt ist davon auszugehen, dass jemand,
der die Öffentlichkeit nicht scheut, zumindest nicht ganz abgeneigt ist,
auch in ihrem Interesse zu handeln. Nach Kant ist deshalb die beste
Garantie für den Weltfrieden, wenn Diplomatie in aller Offenheit geschieht.
Der Königsberger konzipierte das Prinzip der Publizität nur als
Gedankenexperiment, doch jetzt ist seine Vision von einer globalen
Öffentlichkeit Wirklichkeit. Die Gefahr der weltweiten, unredigierten
Publikation interner Dokumente schwebt von nun an prinzipiell über der
internationalen Politik.
Ob diese damit tatsächlich besser wird, wie Kant zumindest für sein
Gedankenexperiment annahm, ist hingegen nicht gesagt. Diplomatie ist zu
einem gewissen Grad auf Geheimhaltung angewiesen und wird neue Wege für
diese finden, etwa durch mündliche Kommunikation. Nicht nur dadurch könnte
gerade die Arbeit von Journalisten erschwert werden. Auf dem Spiel steht
neben der Sicherheit von Informanten auch noch die Exklusivität
journalistisch relevanter Informationen - und damit die ökonomische
Grundlage der Zunft.
Lehre aus dem Kontrollverlust
Doch anders als etwa Dominic Johnson argumentiert (taz vom 4. 12.), sind
die pragmatischen Fragen nicht die wichtigsten. Eine Gesellschaft, die
Soldaten an den Hindukusch schickt, um dort für Menschenrechte und
Demokratie zu kämpfen, entbehrt schlicht der Legitimation, sich einer
kritischen Öffentlichkeit zu entziehen - ganz egal, ob diese sich nun im
Rahmen des institutionalisierten Journalismus oder im anarchischen
Geschehen des Internets zusammenfindet. Ohne ihre Anbindung an das Primat
objektiver Wahrheit entbehren die Werte des Westens jeglicher
Universalität.
Sie sind nur deswegen mehr als ein Teil einer bestimmten Kultur, weil sie
in der Vergangenheit der kritischen, tabufreien Überprüfung standgehalten
haben. Es gehört mit zum Anspruch der Demokratien, nicht auf dieselbe Weise
auf Geheimhaltung angewiesen zu sein wie andere Regierungsformen. Gerade in
Situationen wie dem Wikileaks-Cablegate zeigt sich ihre Überlegenheit.
Diese besteht darin, aus den stets unvorhersehbaren - und in den besten
Fällen unbequemen - Folgen von Transparenz zu lernen.
Mitreden in Echtzeit
Wikileaks geht es um mehr als Pressefreiheit. Es handelt sich um den
Versuch, der Welt des Politischen mit den wissenschaftlichen Methoden der
Wahrheitsfindung zu begegnen. Nicht Einzelpersonen publizieren hier
Meinungen oder die Ergebnisse von Recherchen. Nach dem Wiki-Prinzip wird
der Aufbau eines globalen Archivs angestrebt, in dem sich jeder selbst ein
Bild machen kann. Zumindest in den USA ist dies so neu nicht. Nach einer
Frist von mindestens 25 Jahren garantiert der Freedom of Information Act
die Einsicht in viele Verschlussdokumente - wenngleich die dann meist
bereits redigiert sind. Neu am Wiki-Ansatz ist, dass die Einsicht nahezu in
Echtzeit geschieht. Die Zeitgleichheit soll uns, so Assange, "durch den
Morast des Politischen hindurch zu einer Position der Klarheit" bringen.
Selbstverständlich sind solche antipolitischen Bestrebungen nicht
unproblematisch. Deswegen fiel die Kritik an Assange auch in
internetaffinen Kreisen harsch aus. Reine Netzmagazine wie die Huffington
Post warfen dem Wikileaks-Gründer vor, er habe "keine ethischen Standards"
als "Journalist, Blogger und Mensch". Insofern er das veröffentlichte
Material nicht selektiere, gefährde er die Privatsphäre einzelner Personen.
Es fragt sich aber, ob es eine Alternative zu seinem zweifellos auch
zynischen Handeln gibt. Gerade die Sicherheit der Privatsphäre des
Einzelnen ist durch das Netz bereits in erheblichem Maß in Frage gestellt.
Keineswegs sind manche Daten besser bei Firmen und staatlichen
Institutionen aufgehoben als in der Öffentlichkeit.
Das gilt besonders, wenn Wikileaks wie angekündigt demnächst wieder Interna
aus dem Bankwesen veröffentlicht. Möglicherweise hätte der kostspielige
Bankencrash von 2008 durch rechtzeitigen Verrat verhindert werden können.
Eliten müssen ja nicht überwacht werden, weil sie per se böswillig sind,
sondern weil sie in einer täglich komplexer werdenden Welt schlichtweg zu
viele Fehler machen, wenn man sie alleine lässt. Die momentane Aufregung
zeigt dagegen vor allem, wie wenig viele Journalisten und Politiker die
Partizipation der Bürger wirklich wünschen.
12 Dec 2010
## AUTOREN
Johannes Thumfart
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