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# taz.de -- Gründerin der Berliner Tafel: "Wir müssen das System umkrempeln"
> Sabine Werth gründete 1993 die Berliner Tafel. Heute versorgt ihr Verein
> im Monat 125.000 Bedürftige mit Lebensmitteln.
Bild: "Gerade ist einiges an Salat und Radieschen da" - Sabine Werth in der Lag…
taz: Frau Werth, wenn Sie essen gehen, lassen Sie sich die Reste dann immer
für zuhause einpacken?
Sabine Werth: Ich hab im Restaurant nie Reste. Normalerweise sind das
Portionen, die ich auch schaffe. Ich esse immer alles auf. Selbst wenn ich
schon satt bin.
Und wenn Ihnen übel wird?
Mir wird so schnell nicht schlecht. Ich bin auch so erzogen worden: Nix
darf auf dem Teller bleiben, weil ja die Sonne morgen wieder scheinen soll.
Das steckt tief drin.
Lebensmittel zu verwerten, statt sie wegzuwerfen, ist auch das Prinzip der
Berliner Tafel, die Sie 1993 als erste ihrer Art in Deutschland gegründet
haben. Die Mitarbeiter verteilen aussortiertes Essen an soziale
Einrichtungen und Bedürftige. Eine einfache, gute Idee. Wie kamen Sie
darauf?
Wir haben uns das von den Amerikanern abgeguckt. Ich war damals Mitglied
der Initiativgruppe Berliner Frauen, ein Verein für bessergestellte Damen,
die sich der Wohltätigkeit verschrieben hatten. Heute wundere ich mich, was
ich da verloren hatte - aber gut. Wir wollten etwas für Obdachlose tun und
hörten von "City Harvest" in New York, einem Projekt, bei dem Lebensmittel
gesammelt und verteilt wurden. Das versuchten wir auf Berlin zu übertragen.
Wie sind Sie vorgegangen?
Zunächst haben wir Kontakt zu den Obdachlosen-Organisationen aufgenommen.
Wir luden auch die Presse ein, um unser Vorhaben bekannt zu machen. Wir
haben schon die ersten Pfannkuchen in die Kameras gehalten, da gab es noch
gar nichts zu verteilen. Schnell stellten wir fest, dass die Obdachlosen
nur ein Teil der Bedürftigen sind. Es riefen Frauenhäuser, Beratungsstellen
und andere Vereine bei uns an. Also beschlossen wir, das Ganze zu öffnen.
War es Teil des Konzepts, dass am Anfang nur Frauen mitmachten?
Nein, das hat sich durch die Initiativgruppe so ergeben. Allerdings musste
ich feststellen, dass ich die Einzige war, die von einem Laden zum nächsten
fuhr und Lebensmittel einsammelte. Die anderen Mädels kamen nur, wenn auch
die Presse anrückte. Das wurde mir bald zu blöd. Ich habe das Projekt aus
der Initiativgruppe herausgenommen und die Berliner Tafel als Verein
gegründet. Von da an halfen auch Männer mit.
Sie haben Sozialpädagogik studiert und sich dann mit einem Unternehmen in
der Familienpflege selbstständig gemacht. Sind Sie gerne Ihr eigener Chef?
Auf jeden Fall. In einem Amt irgendwo zu vergammeln, mit so einer
Amtsleitung über mir, das wäre nichts für mich.
Sie lassen sich nicht gerne was von anderen sagen?
(lacht) Hm, ja. Ich würde niemals von mir behaupten, ich sei teamfähig. Das
stimmt einfach nicht. Ich bin ein Platzhirsch, da führt kein Weg dran
vorbei. Aber ich habe mich schon sehr gebessert. Ich kann inzwischen auch
delegieren. Früher dachte ich: Nur was ich alleine mache, ist gute Arbeit.
Wie schafft man das, ein Unternehmen und gleichzeitig ehrenamtlich die
Tafel zu leiten?
Es geht nur, weil ich mein Unternehmen direkt am Standort der Tafel habe
und so beides koordinieren kann. Aber es gibt manchmal schon sehr viel zu
tun. Gestern Abend bin ich fünf Minuten vor Mitternacht aus dem Büro
gekommen.
Sind Sie ein Workaholic?
Ja, aber ein trockener. Ich bin mir der Gefahr bewusst. Früher habe ich 80
Stunden die Woche gearbeitet, jetzt sind es vielleicht 60 Stunden. Ich
brauche auch einfach Ruhepausen. Ich habe seit 14 Jahren multiple Sklerose
und muss mir schon überlegen: Was mache ich mit meinem Körper, auf Dauer
gesehen? Deshalb versuche ich, in meiner Freizeit wirklich abzuschalten und
mich nicht ununterbrochen um die Tafel zu kümmern.
Genug zu tun gäbe es sicherlich immer. Ihr Verein versorgt inzwischen
125.000 Arme im Monat mit Essen. Fühlen Sie sich manchmal wie ein moderner
Robin Hood?
Schon. Ich hab mir anfangs aus dem Sammeln von Lebensmitteln und anderen
Dingen eine Art Spiel gemacht. Wir hatten ja gar kein Auto für die Tafel,
ich fuhr alles mit meinem eigenen Wagen. Da bin ich einmal zu einer
alternativen Autovermietung, in Jeans und Turnschuhen, mit einem
taz-Artikel über die Tafel und habe gesagt: "Hey, Jungs, könnt ihr mir
nicht helfen? Ich brauche ein Mal die Woche ein Auto, und zwar kostenlos."
Oder ich bin zum Chef eines Obsthandels, im schicken Outfit, ein bisschen
geschminkt, habe einen Artikel aus der Welt vorgelegt und gesagt: "Schauen
Sie mal, das machen wir." So lief das.
Sie haben sich Ihrem Gegenüber angepasst?
Immer.
Anders als Sie hat Robin Hood die Reichen nicht gefragt, ob er ihr Hab und
Gut bekommt. Er hat sie bestohlen.
Das ist ein Unterschied, weil wir den Firmen ja nichts wegnehmen. Für die
ist das, was wir von ihnen wollen, Müll. Klar, manchmal bewegen sich unsere
Unterstützer am Rande der Illegalität. Zum Beispiel gab es mal einen jungen
türkischen Lagerleiter eines Gemüsehändlers in Brandenburg. Wir kamen immer
freitags, um Lebensmittel zu holen. Und jeden Freitag hatte er zufällig
morgens einen Havarieschaden, war aus Versehen mit dem Gabelstapler gegen
die Eierkiste gefahren oder über die Paprikakiste. Er hatte jede Woche
unverkäufliche Sachen da und grinste sich einen. Das war klasse. Aber
richtig was Verbotenes haben wir nie gemacht. Trotzdem finde ich es toll,
wenn Robin Hood mit meinem Namen in Zusammenhang gebracht wird. Viel lieber
Robin Hood als Mutter Teresa.
Warum?
Mutter Teresa war eine wundervolle Frau, absolut beeindruckend. Aber ich
bin nicht einfach nur gut. Ich schwimme gerne mal gegen den Strom. Robin
Hood liegt mir mehr, denn irgendwo bin ich auch ein bisschen anarchisch
drauf.
Inwiefern?
Ich bin der Meinung, wir müssten den gesamten Staat ein Mal in die Tüte
kloppen, kräftig schütteln und gucken, wie wir ihn neu sortieren können.
Wenn wir etwas an der Lage der Bedürftigen, die zur Berliner Tafel kommen,
ändern wollen, müssen wir das ganze politische System umkrempeln.
Wie denn?
Die Länderhoheiten müssten zum Beispiel abgeschafft werden. Schauen Sie
sich die deutsche Bildungslandschaft an. Aufgrund dieses unsinnigen
föderalen Systems gibt es viel zu viele verschiedene Schultypen und
überhaupt keine Bildungsgleichheit. Wir müssten auch die Uni-Gebühren
streichen.
Das sind Bildungsfragen. Aber wie wollen Sie Arbeitslosen und armen
Rentnern helfen, die ja einen großen Teil Ihrer Klientel ausmachen?
Ich bin für ein bedingungsloses Grundeinkommen. 1.100 oder 1.200 Euro
sollten es schon sein. Dagegen gibt es immer das Argument, dass unser Staat
zusammenbricht, weil niemand mehr arbeiten will. Das glaube ich nicht.
Viele bei der Berliner Tafel arbeiten ehrenamtlich, inklusive mir selbst.
Sie tun das, weil ihnen der Job Spaß macht. Ich glaube, dass auch mit
Grundeinkommen in allen Bereichen Leute arbeiten würden, und sie hätten
endlich Freude daran, weil sie es freiwillig täten. Wir hätten Gelder frei
ohne Ende, weil wir die ganzen Leute auf den Ämtern nicht mehr bräuchten.
Die könnten wir in anderen Bereichen sinnvoller einsetzen, zum Beispiel in
den Arbeitsvermittlungen. Ich würde wirklich das ganze System neu stricken
wollen.
Sie versorgen heute viel mehr Menschen als früher. Ist die Armut in den
letzten 15 Jahren so viel größer geworden?
Ich bin mir ganz sicher, dass das nicht der Fall ist. Die Berliner Tafel
ist einfach gewachsen. Durch die Hartz-Reformen hat es vielleicht so
ausgesehen, als ob die Armut zunimmt, aber das lag nur an der
Zusammenlegung der Arbeitslosen- und der Sozialhilfestatistik. Die Zahlen
wurden größer. Die Situation der Menschen hat sich nicht geändert.
Mit Hartz IV wurden auch Kürzungen umgesetzt. Wer seinen Job verliert,
fällt viel schneller auf das Existenzminimum als früher.
Natürlich. Sicher ist es ein Unterschied im Alltag, ob ich 100 Euro mehr
oder weniger habe. Aber Armut kann man nicht steigern.
Man kann die Armen noch ärmer machen.
Armut ist immer relativ. Im Verhältnis zum Rest der Gesellschaft war ein
Sozialhilfebeziehender früher arm und ist es als Hartz-IV-Empfänger
weiterhin.
Kommen heute andere Leute zur Berliner Tafel als früher?
Schon. Es ist kein Gesichtsverlust mehr, zur Tafel zu gehen, weil alle in
der Umgebung das auch machen. Im Gegenteil: An den Ausgabestellen für
Lebensmittel schätzen die Leute gerade den sozialen Kontakt. Sie sitzen
zusammen bei Kaffee und Kuchen. Es gibt auch viele, die selbst bedürftig
sind und mithelfen. Sie sagen, sie fänden es toll, wieder eine sinnvolle
Aufgabe zu haben.
Bei den Anti-Atom-Demos sind Hunderttausende auf die Straße gegangen, in
Stuttgart ist Schwaben-Aufstand. Nur der angekündigte "heiße Herbst" gegen
die Sozialkürzungen fiel mau aus. Warum?
Das war meiner Einschätzung nach ein Problem der beteiligten
Organisationen. Aber es stimmt schon: Es gibt eigentlich genug arbeitslose
Berliner, die von den Kürzungen betroffen sind. Die hinter dem Ofen
vorzulocken ist schwer. Da herrscht eine große Resignation. Ich merke das
vor Wahlen auch immer wieder bei den Ehrenamtlichen der Berliner Tafel. Die
wollen alle nicht ihre Stimme abgeben.
Mit welcher Begründung?
Sie sagen, es gehe ihnen beschissen, und es werde auch morgen nicht anders
sein. Die da oben schöpfen eh nur das Geld ab, ist auch ein häufiger
Vorwurf. Viele haben schlicht die Hoffnung aufgegeben, dass sich für sie
etwas zum Guten ändern könnte. Es ist auch ein Aufklärungsproblem. Ich habe
in der Schule gelernt, wie unser Staat funktioniert. Hier haben viele davon
noch nie gehört, sie verstehen das politische System nicht.
Was müsste Ihrer Meinung nach passieren, um soziale Proteste in Gang zu
bringen?
Ich glaube, der Armenbewegung fehlt eine charismatische Erscheinung. Wenn
es irgendjemand gäbe, der den Leuten einheizen würde, könnte schon was
draus werden.
Was ist mit Ihnen? Als Chefin der Berliner Tafel würden Sie sehr viele
Menschen erreichen.
Das Charisma einer Person ist das eine, aber mir fehlen die Inhalte.
Wahrscheinlich geht es mir als Mittelschichts-Vertreterin noch zu gut. Ich
könnte ein bedingungsloses Grundeinkommen fordern, aber das ist vielen zu
kompliziert und schwer zu vermitteln. Es gibt auch genug Leute, die sagen,
das rechnet sich nicht. Um das zu überprüfen, müssten alle Zahlen auf den
Tisch. Ich würde das unheimlich gerne mal komplett durchrechnen lassen von
jemanden, der es nicht totmachen will.
Aber es wäre schon Ihr Ding, derart im Mittelpunkt zu stehen?
Auf jeden Fall. Ich war mit 14 Jahren schon Schülersprecherin, da musste
ich mich vorher auch ständig allen präsentieren. Das mache ich einfach
gerne.
Haben Sie als Chefin der Tafel schon mal zu sozialen Protesten aufgerufen?
Das Problem ist: Ich könnte mich nicht hinstellen und einfach höhere
Hartz-IV-Sätze fordern. Dafür hätte ich zwar sofort eine Mehrheit hinter
mir und alle kämen mit auf die Straße. Aber das ist in meinen Augen keine
Lösung. Wenn, dann will ich eine radikale Änderung des Systems.
Wären Sie denn überhaupt bereit, die Berliner Tafel zu einer politischen
Organisation zu machen?
Ich stelle mich schon öfters hin und kommentiere politische Entscheidungen.
Aber zu Demos rufe ich nicht auf. Das habe ich ein Mal gemacht, sofort gab
es einen Austritt aus unserem Verein. Das ist auch der Grund, warum ich in
keiner Partei bin: Zum einen will ich nicht vereinnahmt werden. Zum anderen
fühle ich mich den 1.500 Fördermitgliedern der Berliner Tafel gegenüber
verpflichtet, eine gewisse Neutralität zu wahren. Jeder, auch die
Konservativeren, sollen sich mit der Idee der Tafel identifizieren können.
Wenn ich ein bedingungsloses Grundeinkommen fordere, tue ich das als
Privatperson, nicht als Chefin der Tafel.
Es gibt immer wieder den Vorwurf, dass die Berliner Tafel das System nicht
verbessere, sondern stabilisiere, indem sie die Not der Menschen lindere.
Ich sehe das anders. Ich glaube, dass die Armutsdiskussion gerade aufgrund
der Tafeln entstanden ist. Diese Debatte wäre ohne uns in dieser Form nicht
geführt worden. So stehen an 877 Stellen in diesem Land - so viele Tafeln
gibt es inzwischen - Schlangen vor der Tür. Die Armut wird sichtbar, sie
ist nicht mehr zu verdrängen.
Trotzdem kann man sagen: Wer keinen Hunger hat, geht weniger schnell auf
die Barrikaden.
Diesen Gedanken kann ich schon nachvollziehen. Wenn die Tafeln dann auch
noch größer werden und Kleider anbieten und Kinderspielzeug, müssen die
Leute tatsächlich nicht mehr viel kaufen. Da denke ich: Die Tafeln müssen
eine Übergangslösung sein. Sie dürfen keine Grundversorgung bieten. Es gibt
meiner Meinung nach inzwischen zu viele Tafeln in Deutschland. Wir nehmen
uns gegenseitig die Lebensmittel weg. Deshalb halte ich es auch für
schwierig, dass allein in Berlin 16 verschiedene Organisationen Obst,
Gemüse und anderes an Bedürftige verteilen. Wenn sich jemand 16 Mal die
Woche mit Lebensmitteln eindecken kann, ist das eindeutig mehr als eine
Zusatzversorgung.
Apropos Versorgung: Wie könnte ein Weihnachtsmenü aussehen, das man sich
bei der Tafel zusammenstellt?
Gerade ist einiges an Salat und Radieschen da. Wir verteilen zu Weihnachten
oft auch Gänsekeulen oder sogar ganze Gänse oder Truthähne, das sind
ausrangierte Werbegeschenke.
Findet nicht erst nach Weihnachten das große Resteessen statt?
Früher war das so. Da haben wir bis Ostern die ganzen Weihnachtssachen
bekommen und bis Weihnachten die Ostersachen. Heute wird schneller
sortiert. Inzwischen gibt es oft auch schon gute Lebensmittel vor dem Fest.
19 Dec 2010
## AUTOREN
Antje Lang-Lendorff
Antje Lang-Lendorff
## TAGS
Diversity
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Ausnahmeregelung verständigt.
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