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# taz.de -- Sechstagerennen in Berlin: Ein Spektakel wie eh und je
> Auch das hundertste Sechstagerennen in Berlin hält, was es verspricht.
> Jeden Abend peitschen rund 12.000 Zuschauer im Velodrom die Radsportler
> an - und pfeifen den Sportpalastwalzer.
Zur Halbzeit der ewig langen Nächte im Velodrom kocht die Stimmung so
richtig hoch. Es wird dann unheimlich laut. Selbst der Hallensprecher muss
dann kräftig in sein Mikrofon schreien, um sich Gehör zu verschaffen. Er
erklärt immer das, was da unten auf der Bahn so vor sich geht.
Beim populären Steherrennen rackern sich diesmal die Radrennfahrer hinter
einem brummenden Motorrad ab, was dem Sportler die Geschwindigkeit vorgibt.
Die meisten der Zuschauer - es sind jeden Abend rund 12.000 - sind
aufgestanden und peitschen die Sportler nach vorne. Die Regie spielt nun
auch noch den Sportpalastwalzer ein. Jeder hier im Velodrom weiß genau, was
jetzt von ihm verlangt wird: Nämlich nach dem ersten beiden Takten viermal
ganz kräftig pfeifen. Am besten auf zwei Fingern.
Für die, die das verlernt haben, werden draußen an den Ständen
Trillerpfeifen angeboten. Kaufen kann man so einiges beim Sechstagerennen.
Es gibt Bier vom Fass, Bratwürste, Scampi und österreichische Spezialitäten
an Holzbuden, die einen auf urige Skihütte machen. Drei Autohäuser
präsentieren ihre Modelle. Die BVG ist mit einem Imageteam angereist, zwei
Fahrradhändler versuchen, ihre Maschinen an den Mann zu bringen. "Wir
verkaufen beim Sechstagerennen aber höchstens ein paar Helme und einige
Trikots. Fahrräder wollen die Leute nicht. Die sind zu teuer", sagt Arnd
Heinze, der Seniorchef von Radsport Heinze.
Nicht weit von Fahrrad Heinze werben ein paar unermüdliche Nostalgiker für
die Wiederbelebung der Friedensfahrt. Das war einstmals eine Art
Gegenveranstaltung des Ostblocks zur Tour de France. Die beiden Herren der
Friedensfahrt wirken ein wenig verloren zwischen all diesem Trubel,
Geschiebe und Getöse, was das Velodrom zu den Sixdays vollends in den
Beschlag genommen hat. Und jeden Abend spielt auch noch eine Band. Am
Freitag City, heute, zum "Berliner Tag", der unerschütterliche Frank
Zander.
Es gibt im Velodrom aber auch noch Menschen, die interessiert das ganze
Unterhaltungsprogramm nicht. Sie bringen ihre Butterstulle mit, damit sie
auf ihrem für sechs Abende reservierten Sitzplatz kein einziges Rennen
verpassen. Das sind die Radsportexperten, die laut und böse schimpfen, wenn
dem Hallensprecher in der Interpretation eines Rennens ein fachlicher
Fehler unterlaufen ist. Diese Fans haben nur Augen für die 250 Meter lange
und schnelle Holzbahn, auf der die Fahrer scheinbar unermüdlich ihre Runden
drehen.
"Unser Publikum ist zwischen 35 und 60 Jahre alt und kommt zu achtzig
Prozent aus Ostberlin oder Brandenburg", hat Organisator Heinz Seesing
ausgemacht. Ob das irgendetwas zu bedeuten hat, sagt er nicht. Seesing ist
stolz, dass der Senat dem Velodrom endlich die lange versprochene
Anzeigentafel spendiert hat. Er hat das nicht verlangt, aber insgeheim doch
erhofft. Eine halbe Million Euro Miete zahlen die Organisatoren des Sixdays
schließlich für die Nutzung des Velodroms an den klammen Senat.
Seesing redet über das Sechstagerennen so stolz wie ein Politiker über ein
erfolgreiches, kleines Konjunkturprogramm und nennt beeindruckende Zahlen:
Rund 1.000 Menschen arbeiten in dieser Woche im Velodrom, über 3.000
zusätzliche Übernachtungen freuen sich die Hoteliers in der Stadt.
"Die Stimmung ist einzigartig, großartig, sehr speziell. So was haben wir
noch nicht erlebt", sagen die beiden aktuellen australischen Weltmeister in
der Mannschaftsverfolgung Leigh Howard und Cameron Meyer. Drei Tage
benötigte das Duett aus down under, bis sich ihre vom langen Überseeflug
schweren Beine endlich gelockert hatten. Dann drehten sie mächtig auf und
übernahmen am Samstagabend die Gesamtführung. "Wir werden jeden Tag
besser", davon sind die Australier jetzt fest überzeugt.
Hinter Howard/Meyer rangieren aktuell die beiden Brandenburger Robert
Bartko und sein Partner Roger Kluge vor den dänischen Titelverteidigern
Alex Rasmussen und Michael Mörköv. Das alles ist keine Überraschung.
Allein 800.000 Euro, ein Viertel des Gesamtetats dieses Sechstagerennens,
investiert Geschäftsführer Seesing in Gagen und Prämien für die
Spitzenfahrer. Zur Halbzeit der Sixdays haben die zahllosen Welt- und
Europameister sportlich gehalten, was sich die Veranstalter und die
Zuschauer von ihnen versprochen haben. Die Rennen waren spannend,
abwechslungsreich und vor allem sehr, sehr schnell. "Es ging gleich
ziemlich hastig los", hat Hallensprecher Uli Jansch ausgemacht. Am
Donnerstagabend wurde ein Stundenmittel von 57,66 Kilometern gefahren. In
45 Minuten schafften die besten Teams 173 Runden.
Manch einer aus dem oft zitierten fachkundigen Publikum schüttelte da nur
ungläubig den Kopf. "Mir sagt man immer, es sei das neue Material und die
schnellere Bahn, die solche Leitungen möglich macht. Ich sage dazu lieber
nichts", erklärt die Berliner Radsportikone und viermaliger Gewinner des
Sechstagerennens, Wolfgang Schulze.
30 Jan 2011
## AUTOREN
Torsten Haselbauer
## TAGS
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Radsport
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