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# taz.de -- Proteste in Ägypten: Das permanente Volksfest
> Das neue Ägypten entsteht auf der Straße. Auf dem Tahrir-Platz in Kairo
> üben die Ägypter die freie Debatte - und entdecken ihren Humor wieder.
Bild: Der Tahrir-Platz in Ägpyten ist zum öffentlichen Debattierclub geworden.
KAIRO taz | In meinem Büro gibt es einen Fernseher und ein Fenster. Beide
bilden derzeit höchst unterschiedliche Realitäten ab. Im ägyptischen
Staatsfernsehen stehen gerade die neuen Minister Schlange, um vor Präsident
Husni Mubarak den Regierungseid zu schwören. Draußen vor dem Fenster ziehen
immer wieder Gruppen mit dem Ruf "Stürzt Mubarak!" in Richtung des
zentralen Tahrir-Platzes, um dort mit hunderttausend anderen die Innenstadt
zu blockieren. Die eine Seite, die im Fernseher, führt ein Rückzugsgefecht
nach dem anderen, die andere, die vor dem Fenster, schafft auf den Straßen
Fakten.
Seit Tagen sitzen die Soldaten neben dem Ägyptischen Museum in
unmittelbarer Nachbarschaft zum Platz der Befreiung, während um sie herum
eine Art permanentes Volksfest tobt. Die Soldaten werden dort nicht als
Fremdkörper behandelt, sondern stehen mittendrin in den Debatten darüber,
wie es mit Ägypten weitergehen soll. Ihre Panzer sind vollgesprüht mit
Slogans, die zum Sturz des Regimes aufrufen. Auf dem Platz sind die
Soldaten und die Demonstranten schon längst zu einer Einheit verschmolzen.
Da wirkt das Bild, in dem Mubarak inmitten der Militärführung sitzt und das
stündlich im ägyptischen Fernsehen wiederholt wird, weit, weit weg.
Seit den Morgenstunden ist auch die Polizei zurück. Die meist verhassten
Einheiten, die Bereitschaftspolizei und die Männer der Staatssicherheit
aber sind weiterhin auf wundersame Weise aus dem Stadtbild verschwunden.
Und die Streifen- und Verkehrspolizisten haben den Befehl, sich keiner
Demonstration zu nähern und den Tahrir-Platz zu umgehen.
Die Polizei versucht, ihr Image als Beschützer des Regimes abzustreifen.
"Aber wir sind doch auch eure Söhne", sagt ein Polizeioffizier völlig
verzweifelt, fast weinerlich, als er bei einer der unabhängigen
Fernsehstationen anruft. Aber es gibt bei der Imagepflege einiges
aufzuholen. Die Geschichten von Polizisten, die in Zivil beim Plündern
erwischt wurden, sind inzwischen ins kollektive Gedächtnis eingegangen.
Im Therapierausch
So bleibt die Skepsis groß, dass die vorsichtige Rückkehr der Polizei der
Versuch des Regimes ist, durch die Hintertür auf den Straßen wieder Präsenz
zu gewinnen. Erst schaffen die Staatssicherheitsleute gezielt Unsicherheit
und schließen die Gefängnisse auf, damit sie und das Regime dann als Retter
in der Not erscheinen können. Aber wahrscheinlich haben die Ereignisse
diesen Plan längst überholt, wenn er denn tatsächlich existiert hat.
Denn auf dem Tahrir-Platz wird schon lange das neue Ägypten als eine Art
Befreiungskirmes zelebriert. Zwischen den Zigarettenverkäufern und
Menschen, die kostenlos Datteln verteilen, entsteht nicht nur ein neues
Ägypten, sondern es greift auch ein neues Gefühl um sich. Die jahrelange
kollektive Depression, die dieses eigentlich humorvolle Volk in den letzten
Jahren im Griff hatte, ist verschwunden.
Zunächst machten die Menschen ihrer Wut auf die Polizei Luft. Nun stehen
sie auf dem Platz, und jeder kann sich frei über die letzten Jahre
auslassen. Meist beginnt das mit dem Satz, "Weißt du, wie viel ich als …
verdiene?", und endet mit einer Aufzählung der wichtigsten
Lebensmittelpreise, die in keinem Verhältnis dazu stehen. Die Menschen
beschreiben im Detail, was sie in all den Jahren unterdrückt hat und hören
sich dabei gegenseitig zu, um schließlich einander in die Arme zu nehmen.
Es ist wie ein Therapierausch.
Den Glückstrip wieder erleben
Man wird den Eindruck nicht los, dass viele immer wieder jeden Tag auf den
Platz kommen um diesen Glückstrip zu erleben, der mit einem verwunderten
"Ach dir ging's auch so schlecht" beginnt, um mit dem enthusiastischen
Ausruf "Stürzt Mubarak! Nieder mit dem Regime!" endet. Die Militärführung,
der eigentliche Königsmacher im Land, sieht sich das alles verwundert an.
Für sie geht das wahrscheinlich alles ein bisschen zu schnell, um es
begreifen zu können. Aber da geht es ihnen wie den Journalisten.
Auch mit der neuen Diskussionskultur kommt man nicht mehr mit. "Ich
verstehe nicht, warum das Militär so lange zusieht und nicht Mubarak mit
samt seinem Stuhl ins Flugzeug setzt." Der Mann, der bei der Fernsehstation
anrief, um das zu sagen, ist kein Geringerer als ein hoher Offizier des
ägyptischen Militärgeheimdienstes. Da ist er wieder, der Impuls, den man in
den letzten Tagen so oft hatte: dass man sich vor Staunen ein wenig kaltes
Nilwasser ins Gesichts schütten möchte.
31 Jan 2011
## AUTOREN
Karim Gawhary
Karim El-Gawhary
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