| # taz.de -- Der pädosexuelle Kollege: Die hässliche Seite des netten Didi | |
| > Bevor Dietrich W. die taz mitbegründete, hat er in der Odenwaldschule | |
| > über Jahre mit Kindern masturbiert. Pädosexuelle, die Missbrauch | |
| > propagierten, verlachte er als "Irre". | |
| Bild: Ober-Hambach bei Heppenheim im Odenwald. Von hier aus fuhr Dietrich W. mi… | |
| BERLIN taz | Erst necken sich die Schüler und der junge Mann nur. Dann | |
| beginnen sie zu raufen. Am liebsten balgt sich Dietrich W. mit Jörg*. Der | |
| gespielte Kampf geht in Umarmungen und Berührungen über, die an die eines | |
| Liebespaars erinnern. W. fährt dem Jungen immer wieder zwischen die Beine, | |
| sie umschlingen sich. Irgendwann liegen sich die beiden erschöpft in den | |
| Armen. | |
| Die Frau, die heute von dieser Szene erzählt, war vor vierzig Jahren selbst | |
| Schülerin der Odenwaldschule Ober-Hambach, jenes hessischen | |
| Landerziehungsheims, das lange als Modellschule für alternatives Lernen | |
| galt. Dietrich W. war auch ihr Lehrer. | |
| Didi, wie ihn seine Schüler nannten, mochte die Jungen. Und die Jungen ihn. | |
| "Didi war immer von Knaben umgeben", sagt die ehemalige Schülerin. Damals | |
| habe sie sich nichts dabei gedacht, wenn sie den Lehrer so mit den Schülern | |
| sah. Das änderte sich, als sie den Kunstlehrer Ende 2010 im | |
| Abschlussbericht zum sexuellen Missbrauch an der Odenwaldschule wiederfand | |
| - als mutmaßlichen Täter. Sie fragt sich heute: Was hat sie alles nicht | |
| gesehen? | |
| Wie ihr geht es vielen, die Dietrich W. gekannt und geschätzt hatten, bevor | |
| er 2009 an Lungenkrebs starb: Schülern und Freunden, Angehörigen und | |
| Kollegen - auch in der Redaktion der taz, zu deren Gründern W. gehörte, und | |
| für die er jahrelang als Stuttgart-Korrespondent arbeitete. | |
| Der 35-seitige Abschlussbericht zum sexuellen Missbrauch an der | |
| Odenwaldschule widmet seinem Fall sechs Zeilen. Dietrich W., der von 1969 | |
| bis 1972 an der Odenwaldschule unterrichtete, werden neun der bislang 132 | |
| dokumentierten sexuellen Übergriffe vorgeworfen. | |
| Insgesamt drei Männer, zur Tatzeit zwölf bis vierzehn Jahre alt, haben ihn | |
| beschuldigt und zudem sechs weitere Betroffene genannt. So zählen es die | |
| beiden unabhängigen Aufklärerinnen Brigitte Tilmann und Claudia | |
| Burgsmüller, die die Schule bestellt hat. | |
| Im Gegensatz zu vier Haupttätern wird Dietrich W. im Abschlussbericht nicht | |
| mit Namen genannt, sondern nur als "Kunstlehrer" bezeichnet. Aus Rücksicht | |
| auf seine Familie heißt er auch in diesem Text nur W. | |
| Die Taten an der Odenwaldschule werden von den Aufklärerinnen nach ihrer | |
| Schwere kategorisiert. Von der mildesten Stufe 1 bis zu Stufe 4 für | |
| Penetration und Stufe 5 für Vergewaltigung. | |
| Die Übergriffe von Dietrich W. waren demnach Stufe 3: "häufige Berührungen | |
| in sexueller Absicht" sowie gegenseitiges Masturbieren. Die Vorwürfe gegen | |
| ihn sind laut Tillmann und Burgsmüller weder in Zahl noch in Intensität mit | |
| denen gegen die vier Haupttäter vergleichbar. Dennoch wiegen sie schwer. | |
| Einige seiner Übergriffe ereigneten sich auf einer gemeinsamen | |
| Griechenlandreise mit Schülern. Details zu den Vorwürfen wollen die | |
| Juristinnen nicht öffentlich machen. Es ist eine schwierige Gratwanderung | |
| zwischen dem Wunsch nach Aufklärung und dem Schutz der Intimsphäre der | |
| Opfer. Man habe den "Wunsch der Betroffenen respektiert, selbst die Grenze | |
| für das für sie Mitteilbare zu ziehen", erläutern sie in ihrem Bericht. | |
| Andere ehemalige Schüler, die nicht zu den Betroffenen zählen, sprechen | |
| über ihre Erinnerungen. "Der Didi hatte die Jungs immer mit, da schliefen | |
| alle durcheinander", berichtet einer, der in Griechenland dabei war. | |
| Dietrich W. unternahm gern solche Reisen. Die Fahrten gingen mit dem | |
| VW-Bulli auch spontan in die nähere Umgebung der Odenwaldschule oder nach | |
| Frankreich auf einen Bauernhof in der Provence. | |
| "Ich habe gesehen, wie Didi an Jörg rumgefummelt hat, sie waren im Bett, | |
| und er hat sich an dem Jungen zu schaffen gemacht", berichtet ein Schüler, | |
| der in Frankreich dabei war. Mehrere Zeugen bestätigen zudem eine pädophile | |
| Beziehung W.s vor seiner Zeit an der Odenwaldschule. | |
| Als Dietrich W. von 1969 bis 1972 in Oberhambach arbeitet, missbrauchen | |
| pädosexuelle Männer immer wieder Jungen. Sie drängen sie in der Dusche, | |
| ihnen und sich gegenseitig einen runterzuholen, betatschten sie zum | |
| Aufwachen am Penis. Dem Schulleiter legte man einen kranken Jungen auch mal | |
| aufs Zimmer statt in die Krankenstation. | |
| Dietrich W. scheint eher spontihafte Beziehungen zu Jungen gepflegt zu | |
| haben. Von ehemaligen Schülern wird er als ein weicher Pädosexueller | |
| beschrieben, einer, der sich über Flirts an Jungen ranmachte, nicht mit | |
| Gewalt wie andere Pädagogen. | |
| Auch frühere Odenwaldschüler diskutieren deshalb: Wo genau beginnt | |
| sexueller Missbrauch? Was erschien damals und was erscheint heute als | |
| unverklemmter, akzeptabler Umgang mit der Sexualität von Kindern? Und was | |
| ist schon eine Grenzverletzung mit schweren Folgen? | |
| Für die Juristinnen, und nicht nur für sie, besteht kein Zweifel: | |
| Masturbieren mit Jungen ist sexueller Missbrauch. Immerhin waren manche | |
| erst zwölf Jahre alt und wussten nicht, was Sex ist, ehe sie von einem | |
| Pädosexuellen initiiert wurden. Nicht wenige verstehen erst als Erwachsene, | |
| was ihnen angetan wurde. | |
| Susan Clancy ist Psychologin an der renommierten Harvard-Universität. Sie | |
| hat in einer Studie Missbrauchsopfer befragt. "Der schlimmste Teil des | |
| Missbrauchs war, wie andere Menschen darauf reagierten", geben die Opfer zu | |
| Protokoll. Sie werden doppelt traumatisiert: durch die Tat - und durch die | |
| Reaktion der Umwelt, wenn sie sich offenbaren. Weil man ihnen nicht glaubt, | |
| sie zu Mitschuldigen erklärt oder die Tat bagatellisiert. "Da wurde ja nur | |
| gewichst!" - die gängige Verhöhnung männlicher Missbrauchsopfer. | |
| Als Dietrich W. 1969 an die Odenwaldschule kommt, ist er kein Lehrer. Er | |
| hat eine Tuchmacherlehre absolviert. Befreundete Pädagogen, die er wohl auf | |
| Burg Waldeck kennengelernt hatte, vermitteln ihn an die Schule. | |
| Die Burg Waldeck ist ein jugendbewegtes Zentrum, dessen Chansonfestival, | |
| das "deutsche Woodstock", politisierte Achtundsechziger anzieht. | |
| Dietrich W. leitet zunächst eine Internatsfamilie mit vier Kindern. Dass | |
| ihr Lehrer nicht einmal Abitur hat, ist den Schülern egal. Sie mögen den | |
| Mittzwanziger. In W.s "Familie" steht stets eine geöffnete Rotweinflasche | |
| auf dem Tisch. "Mit Didi konnte man gut einen Joint rauchen", erinnert sich | |
| ein Schüler. "Oder ein paar Flaschen Wein trinken." | |
| Dietrich W.s "Familie" wächst schnell, bald hat er eine Kommune mit sieben | |
| Jungen und einem Mädchen. Als W. einmal nicht zum Unterricht erscheint, | |
| wird eine Abordnung entsandt. Die Jungen klopfen an seine Tür, er liegt | |
| noch im Bett. "Wollt ihr nicht lieber frei haben?", fragt W. "Komm, wir | |
| machen dir auch einen Kaffee!", schlägt Philipp stattdessen vor. Die | |
| Schüler zerren W. aus dem Bett. | |
| Aus Philipp ist längst Dr. Dr. Sturz geworden. Ein Zahnarzt, der geschockt | |
| war, als er erfuhr, was W. vorgeworfen wird. "Didi war unser absoluter | |
| Lieblingslehrer", sagt Philipp Sturz, "bei ihm hat der Unterricht unendlich | |
| Spaß gemacht." | |
| Ende der Siebziger wurde der beliebte Lehrer Dietrich W. ein überaus | |
| beliebter Kollege in der taz-Redaktion. Und er war nicht irgendein | |
| Mitarbeiter. | |
| 1979, das Gründungsjahr der taz. In Stuttgart steht Dietrich W. für die | |
| Berichterstattung aus dem Südwesten bereit. Gerüchten zufolge investiert er | |
| sogar 20.000 Mark Startkapital in das linke Zeitungsprojekt. | |
| Bis 1989 schreibt er als taz-Korrespondent über Hausbesetzerszene, | |
| Friedensdemos, Landespolitik - und die Stammheim-Prozesse. W. gilt als | |
| Womanizer. "Didi pflegte immer Beziehungen zu selbstbewussten und gut | |
| aussehenden Frauen, viele von ihnen Feministinnen", sagt sein damaliger | |
| taz-Kollege Kuno Kruse, der mit W. in einer Stuttgarter WG wohnte und heute | |
| Stern-Reporter ist. | |
| Die Kollegen finden W. charmant, nett und kultiviert. "Es gibt in der | |
| taz-Geschichte wenige Personen, die über alle Fraktionen hinweg so beliebt | |
| und geschätzt waren wie Didi", sagt taz-Geschäftsführer Kalle Ruch. | |
| Auf den ersten Blick erscheint es als logischer Weg: Der pädosexuelle | |
| Lehrer wird Redakteur einer Zeitung, die auch jenen ein Forum bietet, die | |
| Straffreiheit für Erwachsene fordern, wenn sie Sex mit Kindern haben. Doch | |
| der Fall ist komplizierter. | |
| In der Anfangsphase der taz kämpften einige für eine regelmäßige Schwulen- | |
| und Lesbenseite - damit alle "Gruppen und Menschen" ein Forum bekommen, | |
| "die aufgrund ihrer Art zu LIEBEN diskriminiert werden", wie es in einem | |
| Editorial von 1979 heißt. | |
| Ein Trio namens Ulli Denise, Hans und Annette trat nicht nur für die Rechte | |
| von Homosexuellen ein, sondern auch für die von Pädophilen. So verlangte es | |
| "die Möglichkeit für Schwule, Lesben, Pädophile, Transsexuelle etc. sich | |
| autonom organisieren zu können auch in der taz-Redaktion und über ihre | |
| Belange zu berichten!!" Pädophilie als gleichberechtigte sexuelle Neigung | |
| neben anderen - dieser Forderung verschafften die drei regelmäßig Platz im | |
| Blatt. | |
| Für die Pädophilen gab es ideologische Sympathien | |
| Dass das gelang, erklärt sich auch aus der Struktur der taz. Seit ihrer | |
| Gründung verstand sie sich als Sprachrohr alternativer Aktivisten - von der | |
| Anti-Psychiatrie-Bewegung bis zu den RAF-Unterstützern. Mittwochs tagte in | |
| Berlin das Plenum. | |
| Am Holztisch saßen nicht nur feste Redakteure und die "Säzzer", die mit | |
| Papier und Schere die Zeitung bastelten. Auch freie Autoren und Gäste | |
| debattierten mit. "Oft ging das stundenlang, obwohl der Redaktionsschluss | |
| nahte", erinnert sich der damalige Kulturredakteur Mathias Bröckers. Da | |
| Chefs und Machtworte verpönt waren, kamen häufig die ins Blatt, die am | |
| lautesten schrien. Auch Pressure Groups, die ihre Anliegen in die Zeitung | |
| bringen wollten. | |
| Für die Pädophilen gab es außerdem ideologische Sympathien. Die Linken | |
| wollten sexuelle Befreiung. Pädophile durften als von staatlichen | |
| "Repressionsorganen" Verfolgte auf Solidarität hoffen. | |
| "Es war die zweite Welle der sexuellen Revolution", erinnert sich die | |
| damalige "Säzzerin" Doris Benjack: "Alle wollten sich von allem befreien." | |
| Niemand wollte prüde sein wie die Spießer. Kinder, die ihren Eltern beim | |
| Sex zusehen - kein Problem. Kinderläden, in denen ErzieherInnen und Kinder | |
| gegenseitig ihre Sexualorgane erkundeten - warum nicht? | |
| In den Anfangsjahren besetzte die Nürnberger Indianerkommune, in der | |
| Erwachsene mit Kindern zusammenlebten, mehrmals die taz-Redaktion. Ein | |
| gängiges Mittel extremistischer Grüppchen im Kampf um Öffentlichkeit. | |
| Entnervt druckte die taz daraufhin auch Texte der Indianer, zuletzt 1986. | |
| Von der Päderastengruppe der "Homosexuellen Aktion Hamburg" kam der offen | |
| praktizierende Pädosexuelle Olaf Stüben zur taz. Kollegen erinnern sich, | |
| dass er zuweilen sogar einen jungen Gefährten in die Redaktion mitbrachte. | |
| Anfang der Achtziger rechtfertigt Stüben auf einer Seite zum Thema | |
| Pädophilie "freiwillig eingegangene" sexuelle Beziehungen von Erwachsenen | |
| mit Kindern. | |
| W. bezog nie Stellung zur Pädophiliedebatte | |
| Laut Kollegen waren Stüben und seine ein, zwei Pädofreunde Außenseiter, | |
| "Nervbacken", denen man ab und zu Platz einräumte, damit sie Ruhe gaben. | |
| Ansonsten hielt man Abstand zu den Pädos. Das tat wohl auch W. Er zählte | |
| nicht zur Clique um Stüben. "Didi gehörte nicht zu diesen Kreisen", sagt | |
| Vera Gaserow, die für die taz und später für die Frankfurter Rundschau | |
| arbeitete. "Das wäre auch unter seinem Niveau gewesen." In der Erinnerung | |
| seines Kollegen Kuno Kruse regte Dietrich W. sich sogar über "diese Irren" | |
| auf. | |
| In seinen Artikeln hat W. nicht Stellung zur Pädophiliedebatte bezogen. Im | |
| taz-Archiv findet sich ein einziger Text, in dem er sich zu dem Thema | |
| äußerte. Anfang 1983 berichtete er über einen Parteitag der Grünen in | |
| Sindelfingen. | |
| Dort trat die Indianerkommune auf und forderte von der Partei, ein | |
| "Kinderprogramm" zu verabschieden. W. mokiert sich über die "nicht mehr | |
| ganz jungen Kinder der Indianerkommune" und zitiert deren krude Prosa: "Um | |
| die katastrophalen Auswirkungen der heutigen Wirtschaftsformen zu stoppen, | |
| gehört besonders auch das Glück der sexuellen Selbstbestimmung auf den | |
| Tisch der ökonomisch-ökologischen Auseinandersetzung." | |
| Eine Woche später erscheint in der taz ein Leserbrief. Die Indianer | |
| beschweren sich über den "diffamierfeldzug der taz-chauvis": "alles | |
| irgendwie negative auslegbare von sindelfingen" packe W. in seinen Text. | |
| Gitti Hentschel, bis 1985 taz-Redakteurin, erlebte Dietrich W. auch im | |
| Vorstand der "Freunde der alternativen Tageszeitung" - als angenehmen und | |
| zurückhaltenden Kollegen. "Ganz kalt", sagt sie, hätten sie die | |
| Enthüllungen über W. dennoch nicht erwischt. "In der taz wurde Pädophilie | |
| stark bagatellisiert", sagt die Frauenrechtlerin, die heute bei der | |
| Böll-Stiftung arbeitet. | |
| "Ein Teil der Männer, aber auch Frauen in der Redaktion gaben sich | |
| libertär", erinnert sie sich. Manche hätten wohl mit dieser Verharmlosung | |
| auch die "vermeintlich prüden Feministinnen provozieren oder bloßstellen | |
| wollen". | |
| Viele andere ehemalige Kolleginnen und Kollegen hätten Didi niemals | |
| sexuelle Übergriffe auf Schülern zugetraut. Stand er nicht auf gut | |
| aussehende Feministinnen? | |
| Für den Regensburger Medizinprofessor Michael Osterheider, ein Fachmann für | |
| Pädokriminalität, ist das kein Widerspruch. Männer seien häufig nicht nur | |
| pädosexuell veranlagt, sondern hätten auch Beziehungen zu Frauen. Man | |
| spreche dann von einer "pädophilen Nebenströmung". Pädosexuelle Männer | |
| wählten zudem auffällig oft Berufe, in denen sie direkt mit Kindern zu tun | |
| hätten. | |
| Osterheider leitet in Bayern das Projekt "Kein Täter werden", in dem | |
| Pädosexuelle sich behandeln lassen können. Er sagt: "Einmal pädophil, immer | |
| pädophil." Die sexuelle Präferenzstörung entwickle sich in der Pubertät und | |
| gehe nie mehr weg. Was aber nicht heiße, dass ein Mensch diese Neigung | |
| ständig praktiziere. | |
| Freunde, Verwandte und Weggefährten fragen sich nun: Hat sich Dietrich W. | |
| nach seiner Zeit an der Odenwaldschule weiteren Jungen sexuell genähert? | |
| Ein älterer Bruder W.s sagt, dass er nun sogar die alten Freunde aus der | |
| Zeit beim Stuttgarter Jungwandervogel befragt habe, ohne einen Hinweis "auf | |
| irgendeine Wahrnehmung von sexueller Gewaltanwendung" zu bekommen. Der | |
| Jungwandervogel-Bund sah sich in der Tradition des Wandervogels, einer | |
| Jugendbewegung vom Beginn des 20. Jahrhunderts, die stark homoerotische | |
| Strömungen entwickelte. | |
| Der Jungwandervogel habe die sexuelle Befreiung begrüßt, stellt W.s Bruder | |
| fest. "Aber es hat für uns eine klare Wasserscheide gegeben: Es galt als | |
| inakzeptabel, dass jemand seine Macht ausnutzt, um gegenüber Kindern | |
| sexuell aktiv zu werden." Auch Verwandte und Nachbarn von Dietrich W. haben | |
| ihre Kinder befragt, ob der ihnen zu nahe gekommen sei. Es heißt, es gebe | |
| keinerlei Beschwerden. Trotzdem, sagt der ältere Bruder, seien sie seit der | |
| Nachricht wie gelähmt. "Wir möchten es gerne verstehen." | |
| Dietrich W. hat nach seinem Abschied aus dem Odenwald immer wieder mit | |
| Kindern und Jugendlichen gearbeitet. Er zog nach Stuttgart, lebte in | |
| Wohngemeinschaften. In dieser Zeit radikalisiert sich "der Künstler", wie | |
| ihn die Jungwandervogel-Freunde nannten. | |
| In seiner WG will er zusammen mit zwei Frauen eine Wohngruppe für | |
| abgestürzte Jugendliche aufbauen, erinnern sich Mitbewohner von damals. | |
| Dietrich W. ist rastlos von Jugendprojekt zu Jugendprojekt unterwegs. Und | |
| er beginnt zu gründen. Erst einen Verein, der ein besetztes Haus für Kinder | |
| und Jugendliche sichern will. Später die taz. | |
| Eine Freundin von Dietrich W. träumte lange davon, autoritäre Heime durch | |
| offenen Gruppen in Wohngemeinschaften zu ersetzen, "wo sich die | |
| Jugendlichen dann selbst eine Bezugsperson suchen". Heute, sagt sie, "frage | |
| ich mich schon, ob er uns damals für andere Ziele benutzt hat". | |
| Warum verließ W. die Odenwaldschule? | |
| Zuletzt arbeitete Dietrich W. für die Kindersendung "Tigerenten Club" des | |
| Südwestrundfunks. Er betreute das "Tigerenten Club"-Magazin - und hatte bei | |
| Vorort-Aktionen auch Kontakt zu Kindern. Zudem entwickelte er das Konzept | |
| der "Kinderuni" mit und konzipierte für den Sommer 2003 ein Treffen von | |
| Kindern und Nobelpreisträgern auf der Insel Mainau. | |
| Nach Bekanntwerden der Vorwürfe habe man sofort alle früheren Vorgesetzten | |
| und Kollegen Dietrich W.s um Stellungnahmen gebeten, versichert der SWR. | |
| Ergebnis: "Es haben sich keinerlei Verdachtsmomente ergeben." | |
| Ein sehr früher Verdacht dagegen könnte dazu geführt haben, dass W. im Juli | |
| 1972 nach nur drei Jahren überstürzt die Odenwaldschule verließ. "Eines | |
| Morgens war er nicht mehr da", erinnert sich Philipp Sturz. Der Schüler war | |
| damals elf, der plötzliche Abschied W.s für ihn ein Schock. | |
| Die Arbeit als Lehrer sei für Dietrich W. nicht leicht gewesen, erzählen | |
| Bekannte. W. habe 24 Stunden als Familienoberhaupt ansprechbar sein müssen. | |
| "Didi putschte sich abwechselnd auf - und nahm dann wieder | |
| Beruhigungsmittel. So was hält man nur ein paar Jahre durch", berichtet der | |
| Pädagogikprofessor Günter Behrmann, der W. schon vor seiner Odenwald-Zeit | |
| kennen lernte. | |
| Es kursieren auch Gerüchte, dass Dietrich W. die Schule verlassen musste, | |
| weil er Jungs angefasst habe. Von einem Exkollegen heißt es: W. habe die | |
| falschen Jungs angefasst, darunter auch den Favoriten Gerold Beckers, des | |
| Schulleiters und Haupttäters aus dem Odenwald. | |
| Dass Dietrich W. immer engere Kontakte zu Beckers Liebling Jörg knüpfte, | |
| habe Unruhe in die aristokratische Männerherrschaft gebracht, die Becker | |
| ausgerufen hatte. In diesem System regiert der Mann mit der größten | |
| Ausstrahlung. W. machte Becker diesen Rang offenbar streitig. | |
| Becker wird am 1. April 1972 Schulleiter. Kurze Zeit später ist Dietrich W. | |
| kein Lehrer der Odenwaldschule mehr. | |
| * Name geändert | |
| Nina Apin, 36, ist Kulturredakteurin der taz. | |
| Astrid Geisler, 36, ist Reporterin der taz. | |
| Christian Füller, 47, ist taz-Redakteur. Im März erscheint sein Buch | |
| "Sündenfall: Wie die Reformschule ihre Ideale missbrauchte". | |
| Brigitte Marquardt, 52, hat für diesen Text etliche Archive und alte | |
| Zeitungen durchforstet. | |
| 19 Feb 2011 | |
| ## AUTOREN | |
| N. Apin | |
| C. Füller | |
| A. Geisler | |
| ## TAGS | |
| sexueller Missbrauch | |
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