# taz.de -- Missbrauch an der Odenwaldschule: "Es hat mich mein Leben gekostet" | |
> Vor einem Jahr wurden die Missbrauchsfälle an der Odenwaldschule | |
> öffentlich. Aber was haben die Pädagogen ihren Schützlingen wirklich | |
> angetan? Ein Betroffener berichtet. | |
Bild: "Die Wahrheit ist, dass man uns als Kindern Gewalt angetan hat." | |
Ein Jahr ist es nun her, dass es gelang, aus dem Schweigen auszubrechen. | |
Die sexuelle Gewalt an der Odenwaldschule wurde damals aufgedeckt. Aber | |
nicht jeder hatte sich gewünscht zu reden. Für mich war schweigen nicht das | |
Schlechteste. Das Schweigen verhinderte, wieder zurückgeschleudert zu | |
werden in jene Momente, in denen ich nichts als Hilf- und Wehrlosigkeit | |
empfand. Zu schweigen verhinderte auch, die vielen Sympathiebekundungen für | |
die Täter erleben und ertragen zu müssen. | |
Die reformpädagogische Vorzeigeschule, an der wir 20 Jahre verführt und | |
vergewaltigt wurden, hat gerade erklärt, "die Betroffenen erschweren durch | |
ungerechtfertigte Anwürfe und Anfeindungen die Arbeit". Die Täter, das | |
sollen also wir sein? | |
Opfer und Betroffene gelten wenig. Oft anerkennen wir uns ja selbst nicht | |
als solche. Aber die Täter werden immer noch als originelle und einfühlsame | |
Pädagogen beschrieben, deren segensreiche Elemente nicht ganz verschwiegen | |
werden sollten. So sagen es Hartmut von Hentig und viele andere über ihren | |
Freund Gerold Becker, jenen Mann, der so vielen Kindern schwersten Schaden | |
zugefügt hat. | |
Und dann kamen also die Enthüllungen. Mehr und mehr Schreckliches trat ans | |
Licht. Und bei jedem neuen Täternamen geschah dennoch immer das Gleiche. Es | |
meldeten sich jene zu Wort, die es immer noch nicht glauben wollen. Sie | |
sagen, "das kann doch nicht sein", sie denken, "das glaube ich nicht". Und | |
jedes Mal steht das zum Mann gewordene Kind da und spürt die Ohnmacht | |
vergangener Tage, spürt die Scham und das Gefühl, selbst schuld zu sein, | |
als wäre es gestern gewesen. Und jedes Mal steht es da, fühlt sich als | |
Lügner und Nestbeschmutzer, dem man vorwirft: "Du hast doch mitgemacht". | |
Oder: "Es hat dir doch Spaß gemacht." | |
Lähmung macht sich breit, wenn jemand beinahe herausfordernd fragt: "Was | |
ist eigentlich passiert?" Weil es einem unendlich schwerfällt zu | |
beschreiben, was geschah - gegenüber Menschen, denen man nicht vertraut und | |
von denen man nicht weiß, ob sie einem glauben. Immer noch muss ich Angst | |
vor den Reaktionen haben. Auch deshalb das lange Schweigen. | |
Die Wahrheit ist, dass man uns als Kindern Gewalt angetan hat. Also denen, | |
die doch das höchste Gut der Pädagogik sein sollen. Vor allem | |
Reformpädagogen behaupten, dass sie "vom Kinde aus" denken. Aber sie taten | |
es gar nicht. Nicht die Täter an der Odenwaldschule. | |
Jüngst las ich einen wohl gut gemeinten Beitrag: "Ich bin zutiefst davon | |
überzeugt, dass Opfer ihren Frieden finden können." Seinen Frieden finden - | |
das hört sich fast so an wie "Ruhe in Frieden". Aber es gibt keinen | |
Frieden, niemals. Es ist eine nicht enden wollende Anspannung. | |
Als Betroffener fühlt man sich wie an einer Reckstange. Um mit den anderen | |
Menschen mithalten und leben zu können, müssen Betroffene immer Klimmzüge | |
machen. Schlimmer noch, ein von sexualisierter Gewalt Betroffener befindet | |
sich dauernd im Zustand des gehaltenen Klimmzuges. | |
Die Klimmzugstange hat einen Namen: "Das normale Leben". Um "das normale | |
Leben" immer auf Augenhöhe zu haben, muss der Betroffene ständig den | |
Klimmzug auf der höchsten Position halten. Nur so kann er teilhaben. All | |
das, was zum richtigen Leben gehört, tanzen, lachen, singen, klatschen, | |
sich konzentriert am Kopf kratzen, charmant oder auch wütend zu sein, all | |
das fällt schwer, wenn man sich die ganze Zeit in dieser Anspannung an der | |
Reckstange halten muss. Manchmal wünscht man, sich loszulassen, für immer | |
loszulassen. | |
Es wird uns nie loslassen, was geschehen ist. Aber was ist eigentlich | |
geschehen? Was ist Missbrauch? | |
Ich stand als Zwölfjähriger im Duschraum eines der Häuser im Odenwald, als | |
der von allen verehrte Schulleiter Gerold Becker hereinkam und sich neben | |
mich unter die Dusche stellte. Nach einiger Zeit fing er an, mir zu zeigen, | |
wie man sich das Glied richtig wäscht. Dabei kam er immer näher. Ich konnte | |
nicht weiter zurück. Ich stand schon ganz in die Ecke gedrückt. Da | |
ejakulierte er mir ans Bein. | |
Er hat mich nicht mal berührt. | |
Ist das Missbrauch? | |
Oder ist das etwa kein Missbrauch? | |
Mir fiel es schwer, noch geradeaus zu schauen. Jeder kannte das Kind, das | |
ich war. Das Kind, das immer auf den Boden schaut, hieß es. | |
## Das Kind will nicht mehr | |
Als Kind, das missbraucht wurde, versuchte ich in meiner zwangsläufig | |
aufkommenden Einsamkeit Strategien zu entwickeln. Strategien zum Schutz des | |
eigenen Seins. Diese einsamen Gedanken, wie ich der Gewalt Einhalt gebieten | |
könnte "beim nächsten Mal", wie ich mich verhalten würde "beim nächsten | |
Mal", wie ich mich wehren könnte "beim nächsten Mal", was ich sagen würde | |
"beim nächsten Mal", diese Gedanken halfen mir. Sie ließen mich | |
zwischendurch etwas aufrechter gehen - bis zum nächsten Mal. | |
Aber dann kommt es wieder zum Übergriff. Wieder ist es dem Kind nicht | |
möglich, sich zu wehren, wieder ist es wie gelähmt, es wird erneut | |
entwürdigt. Irgendwann entwirft das Kind keine Abwehrstrategien mehr. Es | |
kann nicht mehr an sie glauben, es kann nicht mehr an sich glauben, es kann | |
an überhaupt niemanden mehr glauben. | |
Das Kind kann nicht mehr, nein, es will nicht mehr aufrecht gehen. | |
Aus dieser Erfahrung wuchs ein Misstrauen, ein Misstrauen gegen sich und | |
gegen alle Menschen. Glaube niemanden! Glaube auch dir selbst nicht! Trau | |
den eigenen Gedanken nicht mehr, die dir glaubhaft gemacht hatten, wie man | |
das nächste Mal diesem Geschehen entgehen könnte. | |
Für das missbrauchte Kind werden danach schon kleinste Obszönitäten, | |
Andeutungen oder Kränkungen eines Erwachsenen zu einer Katastrophe. | |
Wenn dir der Lehrer an den Arsch fasst, der irgendwann schon deinen | |
Kinderschwanz im Mund hatte, dann denkst du: "Jetzt ist es wieder so weit, | |
jetzt passiert es wieder." | |
Ich bin als Letzter noch im Klassenzimmer mit dem Lehrer. Zwischen mir und | |
dem Lehrer steht, was ich nicht einordnen kann, was aber eklig ist. Und | |
dann grabscht er wieder. In aller Öffentlichkeit. "Was mach ich bloß, was | |
mach ich denn bloß?" Und wieder dieses Gefühl, gelähmt zu sein. Der Lehrer | |
geht wieder. Nichts weiter ist passiert - außer dem Griff an den Arsch. | |
Nichts weiter ist passiert - außer Augenblicken qualvoller Angst. Und in | |
der nächsten Stunde soll ich wieder das große Einmaleins lernen. Aber ich | |
kann nicht an die Tafel schauen, denn da steht das Ekel, das anscheinend | |
machen kann, was es will. | |
Wenn ich es heute erzähle, sagen die Leute manchmal: "Oh, er hat dir doch | |
nur an den Popo gelangt!" Aber das hat mich mein Leben gekostet. Eines, das | |
ich hätte führen können. | |
Denn das Kind kommt da nicht mehr raus. Es zweifelt immer mehr an sich. Und | |
das zum Mann gewordene Kind beginnt seine erlebte Geschichte in Frage zu | |
stellen. War das ein deutlicher Übergriff, und das andere eher nur eine | |
Bagatelle? Später wird er nicht mehr sagen können: Dies war ein sexueller | |
Missbrauch und jenes war, auch wenn es noch so erniedrigend erschien, nur | |
eine Grenzüberschreitung. Ohne Berührung. Das führt zu dem Gefühl: "Selbst | |
schuld, wenn du so empfindlich bist!" | |
## Suizid als Hoffnung | |
Nach und nach wurde mir die Bedeutung meiner Erlebnisse bewusst. Ich | |
begriff, dass meine Kindheit und Jugendzeit gar nicht existiert hatten. Ich | |
hatte nach allem gegriffen, was mich betäubte. Ich habe meine Sozialisation | |
im Rausch erlebt. Noch heute bin ich mir fremd. Ich kann mein eigenes Ich | |
nur schwer erkennen. Oft war mein letzter Tröster der Gedanke an den | |
Suizid, er war meine Hoffnung, mein Angstnehmer, sollte es nicht mehr | |
ertragbar sein. | |
Seit einem Jahr wird nun nicht mehr geschwiegen. Heute helfen diejenigen, | |
die Mitgefühl zeigen, die glauben und versuchen zu verstehen. Durch sie | |
kann ich mehr und mehr jene ignorieren, die keine Helfer sind, die uns bis | |
jetzt nicht zuhören und nicht glauben, die das Leben noch schwieriger | |
machen, als es schon ist: die Schweiger, Vertuscher und Mitwisser. Auch | |
jene, die ihre Unfähigkeit zu handeln uns zum Vorwurf machen. | |
4 Mar 2011 | |
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