# taz.de -- Bundeswehrreform und ihre Folgen: Arbeiten in einem sterbenden Amt | |
> Im Kreiswehrersatzamt Stade wurden früher täglich 30 Männer gemustert. | |
> Was heute bleibt, ist ein Gruppenfoto mit vielen Lücken - und | |
> Melancholie. | |
Bild: Schlange stehen ist nicht mehr: Skulptur vor dem Kreiswehrersatzamt in Fr… | |
STADE taz | Bitter war das große rote X. In der Lokalzeitung war das damals | |
zu sehen, ein großes Kreuz über dem Foto des Kreiswehrersatzamtes in Stade | |
bei Hamburg. "Das rote Kreuz fand ich doch etwas viel", sagt Marco Jentsch. | |
Der Leiter des Kreiswehrersatzamtes kann seine Verletzung kaum verbergen. | |
Auch seine Stellvertreterin Johanna Jirka empört sich über die | |
publizistische Austilgung ihres Amtes. "Das war unfair!", sagt sie | |
todernst. Melancholie ist spürbar. | |
Auf dem Kaffeetischchen liegt das Gruppenfoto, das ein langjähriger | |
Mitarbeiter und passionierter Hobbyfotograf an einem seiner letzten Tage im | |
Amt per Fernauslöser noch gemacht hat. Diese Mitarbeiterin sei nun weg, | |
sagt Jentsch, mit dem Finger auf eine Person auf dem Bild zeigend, diese | |
ebenfalls, und auch die schon. Und als der fotografierende Mitarbeiter dann | |
noch seine besten Landschaftsfotos, viele Mühlen und idyllisch gelegene | |
Bänke, von den Wänden genommen habe, das sei schon komisch gewesen. Jentsch | |
meint das "komisch", das tiefe Trauer bedeutet. | |
Das Kreiswehrersatzamt (KWEA) Stade befindet sich in einem Überlebenskampf. | |
Oder ist es schon der Todeskampf? Seit der Entscheidung der Bundesregierung | |
zur "Aussetzung der Wehrpflicht" ist das Schicksal der 52 | |
Kreiswehrersatzämter in Deutschland mehr als düster. Fast völlig | |
weggefallen ist deren Hauptaufgabe, die Musterung von jungen Männern samt | |
dem legendären "Husten 'Se ma!" bei der ärztlichen Untersuchung. Hier im | |
Stadener KWEA, einem erstaunlich hellen Backsteinbau aus den sechziger | |
Jahren, wurden früher täglich etwa 30 Männer untersucht und geprüft. Seit | |
Januar sind es nur noch etwa ein oder zwei pro Tag. "Recht spartanisch", | |
nennt Amtsleiter Jentsch diese Zahlen in schreiender Untertreibung, "das | |
Interesse ist nicht gerade groß." | |
## Früher 8.000 Musterungen | |
Noch im vergangenen Jahr wurden hier etwa 4.500 Männer gemustert, im Jahr | |
davor waren es sogar noch 8.000 - heute betreut man geradezu liebevoll | |
jeden, der hineinschneit. Es kommen nämlich nur noch die Männer, die | |
freiwillig zur Armee wollen. Es gibt keinen Zwang mehr. Das senkt die | |
Zahlen. Und das drückt auf die Stimmung. | |
Amtsleiter Jentsch versucht erst gar nicht, das zu vertuschen. Der | |
Oberregierungsrat, der seit etwa 20 Jahren Zivilangestellter der Bundeswehr | |
ist, musste bei seiner Amtsübernahme im November feststellen, dass er ein | |
womöglich sterbendes Amt übernimmt. Als er sich im Mai 2010 bewarb, schien | |
die Wehrpflicht noch sicher. Das kippte im Sommer nach und nach - bis zur | |
Aussage des Verteidigungsministers Karl-Theodor zu Guttenberg am 14. | |
September: Die Wehrpflicht wird ausgesetzt. Der Baron erklärte dies | |
typischerweise, ohne die KWEAs vorher informiert zu haben, und, klar, in | |
der Talkshow "Beckmann". | |
Als Jentsch ein paar Wochen später tatsächlich seinen Dienst als Amtsleiter | |
antrat, hörte er von mehreren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, dass er | |
oder sie ja sowieso bald weg seien. "War schon ein bisschen seltsam", | |
erzählt Jentsch mit sanftem Galgenhumor, "ich habe mich gefragt: Hat das | |
was mit mir zu tun?" Ursprünglich arbeiteten im KWEA Stade 56 Leute - | |
mittlerweile laufen nur noch 40 Mitarbeiter durch die Gänge, Tendenz: | |
fallend. Gibt es überhaupt genug zu tun? Der Wegfall der Hauptaufgabe des | |
KWEA habe dazu geführt, dass man "halbwegs mit Arbeit ausgelastet" sei, so | |
formuliert es der Amtsleiter, ein "bisschen Luft" gebe es etwa im | |
ärztlichen Dienst. | |
## Neuer Job | |
Christiane Samlert drückt das direkter aus. "Machen Sie einen großen | |
Strich", antwortet die Musterungsärztin auf die Frage, was sie denn jetzt | |
so mache: "Nichts!", schiebt sie trocken hinterher. Ihr Amtsleiter und | |
seine Stellvertreterin stehen neben ihr, aber die Medizinerin kann offen | |
reden, sie hat schon einen neuen Job in der Tasche, in Hamburg. Die Ärztin | |
hat Familie in Stade, zwei Kinder, ein Haus. Kürzlich hat sie die Eltern | |
nach Stade gebracht. "Wir kämpfen sehr um dieses Amt", wirft Johanna Jirka | |
ein, um die Stimmung etwas zu heben. Aber Christiane Samlert scheint keine | |
Lust zu haben, da mitzumachen. Sehe sie denn noch Chancen für den Erhalt | |
des Amtes? "Warum habe ich mich wohl wegbeworben?", antwortet sie mit einer | |
Gegenfrage. | |
Es habe schon schlaflose Nächte bei ihr gegeben, sagt Christiane Samlert. | |
Immerhin, nun habe sie zukünftig nicht mehr mit Männern zu tun, die im | |
Extremfall mit Polizeibegleitung und in Handschellen hier vorgeführt | |
wurden. Im Raum nebenan hängt in einer Ecke ein Briefkasten, auf dem | |
"Kummerkasten" steht. "Da liegt was drin", sagt Jentsch im Vorübergehen, | |
"das kann aber auch Müll sein." An der Pforte hat Hans-Joachim Busse noch | |
viereinhalb Jahre Dienst zu leisten. Jentsch fällt sofort auf, dass jemand | |
frische Blumen gebracht hat. Auf einem Tischchen in der Registratur liegen | |
ungeordnet rund ein Dutzend Stempel herum. Würde sich ja jetzt nicht mehr | |
lohnen, ein Stempelbord zu basteln, brummelt Busse vor sich hin. | |
Ein paar Zimmer weiter hat Jürgen Gätcke seinen Schreibtisch - schräg | |
gegenüber steht ein weiterer, der leer geräumt ist. Hier saß der Kollege, | |
der das KWEA mit seinen Fotos beglückt hat. Dahinter hängt noch ein Bild | |
des Verteidigungsministers, etwas maliziös lächelnd. "Mit einem lachenden | |
und einem weinenden Auge", so sagt Gätcke, sehe er das nahe Ende seiner | |
Dienstzeit. Er ist 59 Jahre alt und arbeitet seit mehr als 30 Jahren in | |
diesem Gebäude. Eben hat Gätcke einem jungen Mann gesagt, welchen | |
Tauglichkeitsgrad er erreicht hat. Auch dies läuft, wie fast alles hier, | |
ausgesprochen freundlich, ja ungemein zivil ab. Und sehr entspannt. | |
Der junge Mann, der mit dem Musterungsergebnis "T2" aus ärztlicher Sicht | |
alles werden kann außer Gebirgsjäger und Sanitäter, wird hier wie ein rohes | |
Ei behandelt - man will einen der wenigen Bewerber nicht verschrecken. Er | |
heißt Tim Kuhlmann und kommt aus dem niedersächsischen Ahausen. Kuhlmann | |
ist blond, 19 Jahre alt und wird im Juli die erste Phase seiner | |
Tischlerausbildung beenden. Wenn er genommen wird, will er sich als | |
Zeitsoldat für neun Jahre verpflichten und dabei eine | |
Kfz-Mechatroniker-Ausbildung machen. "Eigentlich war das schon immer mein | |
Traum, zur Bundeswehr zu gehen", sagt er schüchtern. "Doch irgendwie habe | |
ich mich die ganze Zeit gewundert: Wo bleibt die Musterung?" | |
Kuhlmann sitzt an einem Tisch im Warteraum des KWEA. Ein halbes Dutzend | |
Stühle sind leer. An den Wänden hängen Werbeplakate für die Bundeswehr, | |
zwei Jetpiloten im Gegenlicht, ein Getränkeautomat blubbert vor sich hin. | |
Der Soldat in spe hat gerade den psychologischen Verwendungstest ein | |
Stockwerk höher hinter sich gebracht. Hier ist das Reich von Nico von | |
Reith. "Ich bin der Rest vom Schützenfest", sagt der schneidige Mann von 32 | |
Jahren. In seiner Abteilung sind schon zwei Kollegen in den Ruhestand | |
gegangen. Die zehn Computer des Testraums stehen über Stunden ungenutzt | |
herum. Wegen seiner Arbeit im Personalrat sei er "derzeit ausgelastet". Bis | |
Sommer sei es für ihn kein Problem, sich "adäquat zu beschäftigen", sagt | |
er. "Langeweile kommt nicht auf." | |
Kaum gelangweilt wirkt auch Wolfgang Ferch. Der 62-jährige Beamte könnte | |
mit seinen lockigen weißen Haaren, der Nickelbrille und dem ebenfalls fein | |
gelockten Vollbart gut einen evangelischen Pfarrer in der Beratung für | |
Kriegsdienstverweigerer in den achtziger Jahren geben. Ferch hat schon sein | |
40-jähriges Dienstjubiläum hinter sich gebracht und erzählt im | |
gemütlich-langgezogenen Singsang der Norddeutschen, was für angenehme | |
Gespräche er so am Telefon habe. "Das ist so 'n büschen 'n Callcenter | |
geworden hier", sagt er. Ferch ruft jetzt junge Männer an, die nun zwar | |
nicht mehr zum Bund müssen, aber vielleicht ja freiwillig wollen. | |
Abends habe er eine raue Stimme vom vielen Reden, erzählt Ferch. Rund 2.700 | |
Leute habe man schon angesprochen, rund 100 von ihnen hätten bisher | |
Interesse an einem freiwilligen Dienst gezeigt. Als Vertrauensmann der | |
Schwerbehinderten hat er oft mit den Ängsten der Mitarbeiter zu tun, sagt | |
er. Das drohende Ende ihres KWEAs, hier häufig wie "Quer" ausgesprochen, | |
habe er schon zehn Mal beredet. Er versuche zu beruhigen. Aber es gebe eben | |
Kollegen, die sich nicht beruhigen ließen. "Herr Jentsch und ich", sagt er, | |
"wir schließen hier ab." Hinter ihm steht eine alte Schreibmaschine, mit | |
der er ab und zu noch etwas tippe. Das Farbband sei kaum mehr zu nutzen. | |
Dann erzählt er noch die Anekdote von dem Offizier, der am Ende seiner zwei | |
Monate Dienst im KWEA verschüchtert fragte, was denn das "Quer" sei, von | |
dem man die ganze Zeit gesprochen habe. | |
## Endverwendung geplatzt | |
Zurück im Dienstzimmer von Jentsch, bricht es aus Johanna Jirka heraus: | |
"Das sollte meine Endverwendung werden", sagt sie. Die 56-Jährige hat vor | |
einem Jahr ihre Arbeit in Stade angetreten - da habe sie sich gesagt: "Auf | |
diesen Stuhl kette ich mich fest." In Jentschs Vorzimmer steht auf einem | |
Tischchen ein Plastik-Oscar, darüber an der Wand hängt eine gerahmte | |
Urkunde. Das KWEA Stade erhielt von der Wehrbereichsverwaltung Nord in | |
Hannover einen Preis für die beste Medienarbeit des Jahres 2009. | |
Nach den deprimierenden Eindrücken des Rundgangs verlässt auch Jentsch | |
langsam der Mut. "Man hat zwar einen sicheren Arbeitsplatz, aber weiß | |
nicht, wo", sagt er. Der Amtsleiter zeigt wenig Hoffnung, dass es gelingt, | |
das KWEA Stade in ein "Nachwuchsgewinnungszentrum" zu überführen, wofür er | |
sich einsetzt. Es sei aber schwer, sich beispielsweise gegen das nahe | |
Hamburg durchzusetzen. Dort gebe es ja auch ein KWEA. Welches da wohl das | |
Rennen macht? | |
Am Freitag wurde bekannt, dass die Wehrbereichsverwaltung Nord aufgelöst | |
werden soll. | |
25 Feb 2011 | |
## AUTOREN | |
Philipp Gessler | |
## TAGS | |
Wehrpflicht | |
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