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# taz.de -- Schriftsteller über libyschen Aufstand: "Es geht nicht um Brot"
> Die Revolte im Lande Gaddafis hat nichts mit Armut zu tun, sagt der
> Schriftsteller Ibrahim al-Koni. Die Geduld des Volkes sei schlicht am
> Ende.
Bild: "Die eigentliche Frage ist die Frage der Demokratisierung."
taz: Wie geht es Ihrer Familie in Libyen, Herr al-Koni?
Ibrahim al-Koni: Meine Frau ist hier bei mir, aber der Rest der Familie ist
in Libyen, im Süden des Landes. Der Kontakt zu ihnen ist im Moment sehr
schlecht. Nur sehr früh am Morgen kann man sie erreichen, zwischen vier und
fünf Uhr. Danach ist es unmöglich. Die Situation ist, wie Sie im Fernsehen
sehen können, sehr, sehr schlecht.
Was hat Ihre Familie Ihnen erzählt?
Blut fließt, unschuldige Menschen sterben. Das ist eine Tragödie! Eine
sehr, sehr große Tragödie.
Wie lange wird dieser Zustand Ihrer Meinung nach noch anhalten?
Ich denke, es kann lange dauern, weil wir eigentlich nicht auf die Stimme
der internationalen Öffentlichkeit zählen können. Das ist unmoralisch, wie
sie die Hände im Schoß liegen lassen, zuschauen und nichts tun – nur wegen
des Öls oder wegen irgendwelcher Geschäfte und Abmachungen mit dem Regime.
Und kann die libysche Armee als ordnende Kraft auftreten, wie in Ägypten?
Die Armee in Libyen war immer zerstückelt und verstreut über das ganze
Land, damit sie Gaddafi nicht gefährlich werden konnte. Der große Teil der
Armee ist im Osten und er hat sich auf die Seite der Demonstranten
geschlagen. Dieser Landesteil ist befreit, die ausländischen Söldner wurden
gefangen genommen.
Was ist die Ursache der aktuellen Revolte?
Die Macht. Sie ist immer unmoralisch. Sie ist immer krankhaft, wie ein
Tumor. Diese Liebe zur Macht bringt einen so weit, dass man nicht mehr
bereit ist, lebend auf sie zu verzichten. Was ist das für ein Verlangen,
sich die Welt anzueignen und sich dabei selbst zu verlieren? Die Liebe zur
Macht ist gleich dem Verlust seiner selbst. Dieses Drama in Libyen hat
deshalb angefangen. Wieso braucht man die Macht, wenn dafür Blut fließt?
Wie kann man an der Macht bleiben, wenn man sich auch von ihr befreien
könnte und damit selbst frei werden? Der Mensch kann nie frei sein, wenn er
die Macht liebt. Und die Dinge.
Was wird nach dem Aufstand kommen?
Ich weiß eines: Dass Libyen nie wieder so wie früher sein wird. Die
Menschen haben dieses Regime sehr lange geduldet. Sie haben sehr lange auf
Änderungen, auf Reformen gewartet. Sie haben zu viel verziehen und wurden
dabei immer enttäuscht. Was kann man da erwarten, wenn immer Reformen
versprochen werden und grundlegende Änderungen – 42 Jahre lang. Und jedes
Mal wurden sie enttäuscht. Ich weiß nicht, was ein Herrscher eines Landes
erwarten kann, dem 42 Jahre gegeben wurden, um etwas zu verändern. Das
Regime hat sich diesen Aufstand selbst gezüchtet. Libyer waren in der
Geschichte immer ein sehr duldsames Volk. In religiöser, in kultureller, in
ethnischer Hinsicht: da lebten alle Nationen der Welt. Es kam ein Regime
mit Parolen gegen Panarabismus, gegen Tuaregs, gegen Berber, gegen andere
Völker, und das wurde alles geduldet. Dann der wirtschaftliche Druck, keine
Meinungsfreiheit und so weiter.
Geht es den Libyern tatsächlich um Demokratie und Meinungsfreiheit? Oder
ist das eine westliche Wunschvorstellung und die Leute revoltieren, weil
sie so arm sind?
Es geht in Libyen eben nicht um das Brot. Die Frage des Brotes steht nicht
zur Diskussion. Es geht nicht um Armut. Die eigentliche Frage ist die Frage
der Demokratisierung, der Reformen, der Meinungsfreiheit, Pressefreiheit,
und natürlich die Korruption. Korruption ist eine schreckliche Sache! Und
die Leute haben sehr lange dieses System ertragen. Und jedes Mal haben sie
sich selbst was vorgemacht und wurden wieder enttäuscht. Sie fühlen sich
betrogen. Und deswegen sind die Leute jetzt bereit zu sterben, und es ist
ihnen egal. Und das libysche Volk hat bewiesen, dass es das heroischste
Volk der Welt ist. So etwas gab es noch nie. Weder die Französische
Revolution, noch die Ägyptische, noch die Tunesische, weder im Iran, noch
auf Kuba. Dass Menschen sterben und mit bloßen Händen ins Schießfeuer
gehen. Seit zwei Wochen schon. Gegen diese un-, un-, unvorstellbaren Waffen
der Söldner. Ausländische Söldner. Und wieso Söldner? Weil denen egal ist,
auf wen sie schießen. Die nehmen das Geld, vernichten alles und dann sind
sie weg.
Warum konnte sich das Regime so lange halten?
Wegen der Toleranz und der Duldsamkeit der Menschen. Wegen ihrer Güte. Weil
sie abwarten, weil sie versuchen zu verzeihen. Libyen hat ertragen,
ertragen, und wissen Sie, was das Schlimmste ist? Es hat diese Schande
ertragen. Gaddafi hat die Geschichte Libyens geschändet. Und seine
Gegenwart. Was ist das für ein Politiker? Die Libyer sind ein ernstes Volk.
Und sehr fähig. Und sehr tolerant. Schade, dass ich nicht in Libyen war.
Ich lebe ja in der Fremde in Europa, seit 42 Jahren. Als Gaddafi an die
Macht kam, bin ich in die Sowjetunion geflohen, wo ich am Gorki-Institut in
Moskau studiert habe. Alle Leute, die nach Libyen kommen, wundern sich,
dass die Libyer so herzlich und so gütig sind.
Haben Sie unter dem libyschen Regime gelitten?
Ich war immer wieder zu Besuchen im Land. Ich habe keine Posten angenommen
und auf eine Beamtenlaufbahn verzichtet. Ich habe mich entschieden, mein
Wort durch die Literatur zu sagen. Sie bedient sich der metaphorischen
Sprache. Und Metaphern sind schwieriger, sie sind ebenso schwer eindeutig
zu beurteilen wie Menschen. Diese Fremde ist ein Teil von mir geworden. Und
ich bin Teil der Fremde geworden. Es hat sich so tief in die Seele
eingegraben. Wenn ich mein Volk frei sehe, bevor ich sterbe, wenn es seine
wahre Seele wiederfinden kann, dann kann ich ruhig sterben. Ich war immer
das Gewissen von Libyen. Ich habe Libyen nicht im Stich gelassen. Und es
ist herrlich, dass es mich letztendlich auch nicht im Stich gelassen hat.
Es gibt nichts Höheres als Freiheit. Die Libyer konnten letztendlich diese
Pflicht finden, von der Kant spricht: Wir sind in dieses Leben gekommen,
nicht um glücklich zu sein, sondern um unsere Pflicht zu erfüllen. Und
meines Erachtens nach gibt es keine Pflicht, die heiliger ist, als die,
frei zu sein.
Europäische Regierungen verbinden ganz andere Fragen mit Libyen. Viele
Politiker haben Angst, dass Flüchtlinge nach Europa kommen werden.
Die Libyer sind im Land geblieben, egal wie hoch der Druck des Regimes war.
Sie sind nicht geflohen wegen der Armut während der italienischen
Besatzung, nicht wegen Hunger, nicht wegen Kälte, nicht wegen des Druckes
durch das Regime. Deswegen sage ich Ihnen, dass es keine Geduld gibt wie
diejenige des Libyschen Volkes. Libyer sind nicht nach Europa emigriert wie
so viele andere Völker. Nur vereinzelte Personen. Aber die meisten ertragen
alles dort und sterben dort. Ist das kein Heroismus? Der Mensch lebt nicht
vom Brot allein, wie Christus gesagt hat. Wir leben von etwas anderem. Das
Wichtigste ist, dass die Leute verstehen, dass es nicht um die Armut geht
wie in Tunesien und in Ägypten. Hier sind die Gründe ganz andere.
40 Jahre unter Gaddafi sind eine lange Zeit. Gibt es überhaupt noch
gesellschaftliche Gruppen, die das Land organisieren können?
Selbstverständlich wurden alle Teile des gesellschaftlichen Lebens zerstört
und unterdrückt und vernichtet. Aber der Geist der Freiheit, der Wille zur
Freiheit, zum wirklichen Leben, zum Guten, ist nicht gestorben. Das haben
diese Ereignisse bewiesen. Die Libyer haben sich gewehrt und sie halten
immer noch durch. Und das mit dem Schweigen des Westens. Der Westen
schweigt, als ob es ihn nichts angehe. Und dann werden Sie hören von
Völkerrecht und Menschenrechten, von UNO und USA und dabei haben sie haben
längst bewiesen, was das für eine Doppelmoral ist.
Fürchten Sie, dass nach Gaddafi ein noch schlimmerer Diktator kommen wird?
Nein. Dann wird alles besser. Obwohl alles besser wäre, als das, was jetzt
ist. Das Volk wird nie mehr zulassen, dass sich so etwas wiederholt, dass
man es noch einmal so betrügt.
Übersetzung aus dem Russischen: Vladimir Viro
2 Mar 2011
## AUTOREN
Carmen Reichert
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