# taz.de -- Kommentar Bildungsbürgerdünkel: Herakles, Jesus, Guttenberg | |
> Weil Dr. Hinz und Dr. Kunz einen haben, brauchte auch der Freiherr einen | |
> Doktortitel. Doch erst der Makel macht aus dem Überflieger einen Helden | |
> im klassischen Sinne. | |
Bild: Von Bildungsbürgern verhasst, von Proleten geliebt: KT zu Guttenberg | |
Der Akademiker versteht das schwer: Da hat einer beschissen und betrogen, | |
was das Zeug hielt, hat sich obendrein dabei unglaublich dumm und selten | |
dreist angestellt und lässt noch immer jede Einsicht in die Sträflichkeit | |
seines Tuns vermissen. Und doch hält das Volk, jedenfalls ein beachtlicher | |
Teil davon, zu ihm: Die Facebookseiten [1]["Gegen die Jagd auf Karl-Theodor | |
zu Guttenberg"] und [2]["Wir wollen Guttenberg zurück"] verzeichnen | |
hunderttausende Mitglieder, und laut einer Umfrage des ZDF-Politbarometers | |
vom Freitag sehen Dreiviertel der Deutschen nicht ein, warum Karl-Theodor | |
zu Guttenberg, ihr nach wie vor liebster Politiker, zurücktreten sollte. | |
Wie kann das sein? | |
Lassen wir die simpelste, aber unzureichende Erklärung (Anhänger der | |
CDU/CSU wollen sich nicht mit dem Fall des Kronprinzen abfinden) ganz und | |
die zweiteinfachste (die Sehnsucht nach einem Führer oder wenigstens | |
Kaiser) für den Moment beiseite und beginnen mit einer dritten Erklärung: | |
die Vermenschlichung eines Helden. | |
Denn ein echter Held, also einer, den das Publikum nicht nur bewundert und | |
verehrt, sondern mit dem es sich auch identifiziert, braucht etwas | |
Menschliches, gern auch Tragisches: Herakles erschlägt im Wahnsinn seine | |
Familie, Lancelot begeht mit der Frau seines Königs Ehebruch, Jesus | |
zweifelt an Gott. Ob die Ferse des Achill oder die Haare des Samson – jeder | |
bessere Held hat Schwächen und Makel. Aber erst die seine Verwundbarkeit | |
macht es gewöhnlichen Menschen möglich, sich in ihn hineinzuversetzen, erst | |
seine Fehlbarkeit macht ihn interessant und liebenswert. Wenn das Publikum | |
sich schon nach einem Monarchen sehnt, dann nach einem echten Helden – nach | |
einem mit menschlichen Antlitz. | |
Und für diese Rolle eignet sich Guttenberg nicht weniger, sondern mehr als | |
je zuvor. Hätte er von Anfang an sein Vergehen eingestanden, er wäre | |
vielleicht genauso gestärkt aus der Affäre hervorgegangen wie einst Joschka | |
Fischer aus der Debatte um seine linksradikale Vergangenheit, die, trotz | |
des Geschreis der Union, der Bild oder des Focus, dessen Beliebtheit kein | |
bisschen schadete. So aber hat Guttenberg, noch indem er in seiner | |
Rücktrittserklärung viel Pathos, aber keine Zerknirschung demonstrierte , | |
das Skript seines Comebacks geschrieben: Erst die (von unzähligen Lektoren | |
überprüfte) Autobiografie (irgendwas von Aufstieg und Fall), dann die | |
rührenden Auftritte in den Heulsusen-Talkshows (irgendwas von Reue und | |
Familie), schließlich die umjubelte Rede auf dem Aschermittwoch der CSU | |
(irgendwas von Deutschland und Verantwortung), kurz: die Rückkehr des | |
geläuterten und vermenschlichten Helden. | |
Aber worauf die einen schon am Dienstag zu warten begonnen haben, ist den | |
anderen ein Graus. Schließlich werden die Sympathien für Guttenberg nicht | |
minder leidenschaftlich vorgetragen werden wie die Empörung über ihn. | |
Woher kommt das? "Ganz erlich alle behinderet da oben, ich will nicht | |
wissen wie viel jugendsünden die anderen politiker alle gemacht haben", | |
kommentiert ein Supermarktangestellter auf einer Pro-Guttenberg-Seite, und | |
schon der Stil dieses in jeder Hinsicht typischen Eintrags deutet darauf, | |
dass in dieser Sache Empathie und Empörung weniger zwischen Links, Mitte | |
und Rechts, aber umso mehr zwischen Oben, Mitte und Unten verteilt sind. | |
Die Frisörin oder der Bauarbeiter erinnern sich an die eigenen Spickzettel, | |
mit denen sie durch manche Klassenarbeit kamen und können in Guttenbergs | |
Abkupferei kein großes Vergehen erkennen. Das eint sie mit Leuten aus | |
großbürgerlichem oder aristokratischem Haus, mit Guttenberg selbst, dem man | |
es getrost abnehmen kann, dass er die Empörung nicht wirklich versteht. | |
Denn für ihn war der Doktor nur einer unter mehreren Titeln; einer, den er | |
zwar schon deshalb brauchte, weil Herr Dr. Hinz und Frau Dr. Kunz ihn auch | |
hatten, aber nicht der Ritterschlag, den hatte er schon; nicht der Ausweis, | |
"es geschafft" zu haben, das hatte er schon mit seiner Geburt. (Dies dürfte | |
auch der Grund dafür sein, warum er nicht einmal einen ordentlichen | |
Ghostwriter beauftragt hat: Es war ihm halt nicht so wichtig.) | |
Das aber unterscheidet ihn von all jenen, die ihren eigenen sozialen | |
Aufstieg allein oder vorrangig ihrer Ausbildung zu verdanken haben und die | |
deshalb auch "die Bildung" als Allheilmittel für dit und dat halten, egal | |
ob es gerade um Globalisierung, Armut oder Rechtsextremismus geht. Die | |
Bildungsbürger sind denn auch diejenigen, die sich am meisten über | |
Guttenberg aufregen – und am wenigsten verstehen, warum nicht ein jeder | |
ihre Empörung teilt. Ihre Sorge gilt nicht "der Wissenschaft", sondern sich | |
selbst; sie sind wütend, weil sich einer, noch dazu so einer, das, wofür | |
sie selbst geschwitzt und geackert und geblutet haben, einfach so ergaunert | |
hat. Die Aufregung um Guttenberg ist partikularer Standesdünkel des | |
Bildungsbürgertums. Sie ist – im besten wie im schlechtesten Sinn des | |
Wortes – bürgerlich. Nicht unbegründet, aber eben auch ein wenig | |
langweilig. | |
Und, da wir gerade dabei sind und unter uns: Sind Leute, die nie etwas im | |
Supermarkt geklaut, niemals einen Pflasterstein geworfen oder ein Amt übers | |
Ohr gehauen haben, nicht furchterregender als ein tricksender Freiherr? Wer | |
will solche Leute schon zu Nachbarn haben? Oder von ihnen regiert werden? | |
2 Mar 2011 | |
## LINKS | |
[1] http://www.facebook.com/ProGuttenberg | |
[2] http://www.facebook.com/pages/Wir-wollen-Guttenberg-zur%C3%BCck/13678622305… | |
## AUTOREN | |
Deniz Yücel | |
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Guttenberg | |
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