# taz.de -- Nach dem schweren Erdbeben: Atomalarm in Japan | |
> Bis zu fünf Reaktoren an der Ostküste Japans laufen auf einen GAU zu. | |
> Doch die Angaben von Behörden und Betreiber bleiben unklar. In | |
> Deutschland wird inzwischen heftig debattiert. | |
Bild: Brennende Häuser, verwüstete Straßen: In Iwaki in der Präfektur Fukus… | |
BERLIN taz | In Japan spielt sich ein leider sattsam bekanntes Schauspiel | |
ab: Wie häufig bei einem Atomunfall in dem Land versuchen Anlagenbetreiber | |
und Atombehörden die Bevölkerung durch verzögerte und unklare Informationen | |
zu beruhigen. Deshalb ist die Lage schwer zu beurteilen. Im Folgenden der | |
Stand 9 Uhr MEZ, zusammengefasst aus den japanischen Nachrichtenagenturen | |
Kyodo und Jiji, aus der dortigen Zeitung Asahi Shinbun, von BBC World News | |
und dem britischen Guardian und Telefonaten mit Experten. | |
In fünf Siedewasser-Reaktoren an den beiden Standorten Fukushima I und II | |
gibt es Probleme mit der Notkühlung. Am dramatischsten ist die Lage am | |
Standort Fukushima-Daiichi (Fukushima I). Dort stehen sechs Blöcke am Meer. | |
Drei davon waren zum Bebenzeitpunkt abgeschaltet. Nicht aber der älteste | |
Reaktor, der bis 1971 von General Electric erbaute Fukushima I, Block 1 mit | |
einer Nettoleistung von 439 Megawatt. | |
Dort ist auch das letzte Notkühlsystem inzwischen ausgefallen. Das | |
Kühlwasser verdampft nun rapide. Teile der Brennstäbe ragen bereits aus dem | |
Wasser. Greenpeace Atomexperte Heinz Smital am Samstagmorgen: "Die | |
partielle Kernschmelze dürfte dort schon begonnen haben." | |
Die Bevölkerung wurde zunächst in einem Radius von drei Kilometern | |
evakuiert. Bis zehn Kilomter um den Reaktor mussten die Menschen in ihren | |
Häusern bleiben. Andere Quellen sprechen davon, dass auch der | |
Zehn-Kilometer-Radius evakuiert wurde. | |
Die Radioaktivität in der Reaktorwarte war schon Freitag Nacht um das | |
1.000fache erhöht. In der Umgebung wurde radioaktives Cäsium angemessen. | |
Premierminister Naoto Kan bestätigte anlässlich eines Helikopterfluges über | |
dem Reaktor, dass radioaktiver Dampf aus dem erhitzten Reaktorkern in die | |
Luft abgelassen wurde, um den Druck im Reaktor zu senken. | |
Durch das Druckablassen versuchen die Betreiber, eine völlige Explosion zu | |
verhindern. Dieses Szenario funktionierte 1979 bei einem ähnlichen "station | |
blackout" am US-Standort Harrisburg. Dort konnte nach einem totalen | |
Stromausfall die Kernschmelze nicht verhindet werden, wohl aber eine | |
Explosion wie 1986 in Tschernobyl. In einer Beobachtungswarte im Ort Okuma | |
sind Vertreter der umliegenden Gemeinden versammelt, um die Kernkühlung | |
bzw. -schmelze zu beobachten. | |
Es sei jedoch derzeit nicht notwendig, den Evakuierungsradius um das AKW | |
von zehn Kilometern zu vergrößern, meldete der Fernsehsender NHK unter | |
Berufung auf die Atomsicherheitsbehörde. Wichtig sei, dass der Reaktor | |
weiter abkühle, zitierte NHK einen Atomexperten. Gelinge dies nicht, könne | |
weiterer Brennstoff schmelzen. | |
Um den Reaktor Fukushima I, Block 2 wird auch gekämpft. Dort ist aber nach | |
Stand 9 Uhr samstags mitteleuropäischer Zeit noch keine Kernschmelze | |
aufgetreten. Dieser Reaktor ging mit einer Nettoleistung von 760 Megawatt | |
1974 ans Netz. Die Erbauer waren Toshiba/General Electric. Betrieben werden | |
alle zehn Meiler der beiden Fukushima-Sandorte von TEPCO, der Tokyo | |
Electric Power Company. | |
Drei weitere Reaktoren am benachbarten Standort Fukushima-Daini (12 | |
Kilometer weiter südlich), auch Fukushima II genannt, leiden ebenfalls | |
unter einem totalen Stromausfall: Es sind die Blöcke 1, 2 und 4. Sie weisen | |
eine Nettoleistung von jeweils 1.067 Megawatt auf, vergleichbar der | |
deutschen Hauptbaureihe von Siedewasserreaktoren. | |
In einem dieser Reaktoren ist die Lage ebenfalls kurz vor der Kernschmelze | |
oder schon mitten drin. Die Informationen sind unklar. So meldet die TEPCO | |
etwa, es bestünde "die Möglichkeit, dass die Pumpen, die Meerwasser zur | |
Kühlung herbeiführen sollen, eventuell die Arbeit eingestellt haben". | |
Tepco hat 51 Fahrzeuge mit Stromaggregaten losgeschickt. Aber nur eines | |
konnte bis Samstagmorgen unserer Zeit angeschlossen werden: Es fehlt | |
offensichtlich an geeigneten Kabeln und eventuell auch an | |
Zufahrtsmöglichkeiten zu den beschädigten AKW für die schweren Lkw. | |
Heinz Smital von Greenpeace weist darauf hin, dass ein komplexes Kühlsystem | |
hochgefahren werden müsse, wo viele Anschlüsse und Details nicht üblichen | |
Normen entsprächen. Außerdem braucht ein Reaktor zum Kühlen etwa 1.000mal | |
so viel Strom wie ein Haushalt. Deshalb sind Aggregate mit hunderten | |
Kilowatt Leistung nötig. | |
Yukio Edano, Kabinettsekretär des Premierministers, hatte am Freitag | |
verkündet, dass um 16.36 Uhr Ortszeit zum ersten Mal in der japanischen | |
Geschichte der Atomalarm ausgelöst wurde, der "state of emergency at a | |
nuclear facility". | |
Henrik Paulitz von IPPNW weist auf die deutsche Situation hin. Dort wären | |
in einer solchen stromlosen Lage die Reaktorkerne viel schneller | |
geschmolzen. Der Atomsprecher der "Internationalen Ärzte für die Verhütung | |
eines Atomkrieges": "Die betroffenen AKW in Japan haben mit Dampf | |
betriebene Pumpen. Nur deshalb konnten die Reaktoren für einige Stunden | |
nach der Notabschaltung mit Batteriesteuerung gekühlt werden." | |
Paulitz weiter: "Das deutsche Atomkraftwerk Biblis B beispielsweise verfügt | |
nicht über eine derartige dampfgetriebene Notkühlpumpe. Und es gibt noch | |
einen weiteren, ganz wesentlichen Unterschied: In Biblis B reichen die | |
Batterien zur Steuerung des Kraftwerks nur für größenordnungsmäßig zwei | |
Stunden. Die Batterieversorgung in Fukushima Daiichi hingegen verfügte über | |
eine Batteriekapazität von sechs bis acht Stunden. " | |
Die Grünen-Fraktionsvorsitzende im Bundestag, Renate Künast, sieht durch | |
die kritische Situation der japanischen Atomkraftwerke nach dem Erdbeben | |
auch die Laufzeitverlängerung der deutschen Atomkraftwerke infrage | |
gestellt. Zwar sei Deutschland kein Erdbebengebiet, sagte sie am Samstag im | |
Deutschlandradio Kultur. | |
Dennoch zeige das Ereignis: "Wir beherrschen nicht die Natur, sondern die | |
Natur herrscht über uns." Deshalb müsse die Frage gestellt werden, ob nicht | |
die falschen Entscheidungen getroffen worden seien, zum Beispiel die | |
falsche Entscheidung, zwölf Jahre Laufzeitverlängerung zu beschließen durch | |
die schwarz-gelbe Bundesregierung. | |
Selbst das mit dem Erdbebengebiet stimmt für den Rheingraben nur begrenzt. | |
Das AKW Mülheim-Kärlich (zehn Kilometer nördlich von Koblenz) wurde 1998 | |
von Bundesrichtern am Betrieb gehindert, weil es nicht gegen Erdbeben | |
abgesichert war – geschweige denn wie die japanischen Reaktoren bis zu | |
Bebenstärken von 8,2. Das Beben vom Freitag hatte eine Stärke von 8,9 auf | |
der Amplitudenskala. | |
Am Rhein gab es in den vergangenen Jahrzehnten Beben bis zu einer Stärke | |
von 5,3 laut IPPNW. | |
12 Mar 2011 | |
## AUTOREN | |
Reiner Metzger | |
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