Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Debatte Atom-Gau: Das geringere Übel
> Was haben wir aus unserer Welt gemacht, dass wir nur noch die Wahl
> zwischen verschiedenen Katastrophen haben? Fukushima ist ein Warnzeichen.
Bild: Was haben wir nur getan? Strahlenmessung in Hitachi.
Zehn Plagen mussten die Ägypter über sich ergehen lassen - seit der
biblischen Exodusgeschichte das Höchstmaß an Verheerungen. Was die Japaner
in den vergangenen Tagen zu ertragen haben, kann es aber bald mit den
legendenhaften Verwüstungen aufnehmen: Erdbeben, Tsunami, Atomkatastrophe -
und jetzt ist im Süden auch noch der Vulkan Shinmoedake ausgebrochen. Ein
bisschen viel für ein Wochenende.
Noch kämpfen die Ingenieure in den Atomanlagen von Fukushima gegen den
absoluten Super-GAU. Derweil wird vom Spiegel schon das "Ende des
Atomzeitalters" ausgerufen. Jetzt sind alle wieder ganz fest für den
Ausstieg aus der Atomenergie.
Aber natürlich werden ihre Fürsprecher, wenn die Horrorbilder von den
Titelseiten verschwunden sind, wieder ein paar nüchterne Erwägungen zu
bedenken geben - etwa, dass solche Katastrophen äußerst selten sind. Und
sie werden, wenn auch nicht offen, auch folgende Abwägungen in den Raum
stellen: Ja, wenn es tatsächlich zu einer Megakatastrophe kommt, dann
sterben Zehntausende. Aber wie viele Menschen sind durch AKW-Katastrophen
ums Leben gekommen in den vergangenen 50 Jahren? Wenn man alle potenziellen
Folgetoten von Tschernobyl dazuzählt, in etwa hunderttausend. Das ist viel.
Aber natürlich sterben auch Menschen im Kohlebergbau und an den
Gesundheitsrisiken, die wir mit der Verbrennung von Kohle und Öl auf uns
nehmen. Würde man alle Opfer zusammenzählen, sähe die Opferbilanz vieler
anderer Arten von Energiegewinnung nicht sehr viel besser aus als beim Atom
- eher schlechter.
## Wir nehmen die Toten in Kauf
Atomkraftgegner würden nun sicher einwenden, dass die Nukleartechnologie
nicht nur Todesopfer im Falle von Katastrophen oder Störfällen fordert,
sondern ganze Landstriche für tausende Jahre verstrahlen kann - und selbst
im "Normalbetrieb" radioaktiven Abfall produziert, dessen Endlagerung nicht
geklärt ist. Dass sie also erhebliche Risiken für hunderte Generationen
nach uns produziert.
Aber das, könnten die Atomkraftbefürworter ins Treffen führen, machen Öl
und Kohle auch. Ihr Beitrag zur globalen Erwärmung lässt die Polkappen
schmelzen, droht Meeresströmungen umzuleiten. Im Extremfall, den wir kaum
abschätzen können, werden durch sie ganze Kontinente unwirtlich,
möglicherweise werden die Lebensbedingungen für Milliarden Menschen
erheblich beeinträchtigt.
Sie könnten auch hinzufügen: Unsere Abhängigkeit von Öl stärkt Despoten in
aller Welt. Diktatoren wie Gaddafi können sich waffenstrotzende
Söldnerheere leisten, weil wir von ihren Rohstoffen abhängig sind. Jeder
Demonstrant, der in Tripolis erschossen wird, ist in gewisser Weise auch
ein Opfer unseres Energiehungers.
Kurzum: Wir werden also auch in den nächsten Jahren nicht eine entschiedene
Flucht aus der Atomenergie erleben, sondern wir werden weiter mit den
bekannten Abwägungsargumenten konfrontiert sein. Wir werden hören, dass
wir, wenn wir unseren Lebensstandard halten wollen, zwischen Risiken wählen
müssen. Und das ist schon eine Formulierung, die vernebelt. Denn das Wort
"Risiko" unterstellt ja, dass wir hier negative Folgen akzeptieren müssen,
die eintreten könnten, wenn es schlecht läuft, aber nicht so eintreten
müssen.
Aber das ist natürlich nur zur Hälfte wahr. Denn die Katastrophen finden
statt. Mal schleichend, mal sterben viele Menschen, manchmal wenige. Aber
wir nehmen nicht das Risiko von Todesopfern in Kauf, wir nehmen Todesopfer
in Kauf. Wir nehmen nicht das Risiko von Verheerungen in Kauf, wir nehmen
Verheerungen in Kauf. Das ist ein kleiner, aber entscheidender Unterschied.
An dieser Stelle fragt sich, ob man nicht aus der Logik der Abwägungen
ausbrechen und einmal auch simpel ausrufen muss: Was haben wir aus unserer
Welt gemacht? Genauer: Was haben wir aus uns gemacht - wenn wir uns in eine
Situation manövriert haben, in der wir es zwar als beklemmend,
nichtsdestoweniger aber selbstverständlich ansehen, dass wir nur mehr
zwischen verschiedenen Übeln und Verheerungen wählen können?
Sind wir nicht mit dieser Form, über die Dinge zu reden, an einen Punkt
gelangt, an dem man genauso gut dafür plädieren kann, Menschen zu erwürgen,
weil es noch schmerzhafter ist, sie zu verbrennen?
## Mehr politische Energie bitte!
Klar, wir wissen alle, wir können nicht von heute auf morgen aus Öl, Gas,
Kohle und Kernenergie aussteigen. Zwar gibt es Berechnungen des
Umweltministeriums, wonach in Deutschland bereits im Jahr 2020 78,3 Prozent
des Strombedarfs durch erneuerbare Energien gedeckt werden könnten - etwa
durch Windkraft, Wasserkraft und Solarenergie. Aber, erstens, deckt das, im
besten Fall, nur die Energie, die aus der Steckdose kommt. Mit der Energie
für unsere Mobilität ist das schon schwieriger. Zweitens sind das deutsche
Berechnungen, für die USA, China, Brasilien, Russland sieht die Sache schon
erheblich anders aus.
Und drittens wird auch das nicht von selbst geschehen. Es braucht dafür
einen Plan und entschiedenes Handeln. Energie also - aber diesmal nicht in
Form technologischer Energieträger, sondern in Form von gesellschaftlicher
Energie, energetische Akteure und, ja, nicht zuletzt Politiker, die dieses
Ziel mit Kraft angehen.
Dafür braucht es: effiziente Stromnetze, ganz neue Leitungen, Windparks mit
vielen hunderttausend Windrädern, Wasserkraftwerke, Speicherkraftwerke,
intelligente Tools zum Stromsparen in jedem Haushalt, Solarkraftwerke von
vielen hunderten Quadratkilometern, womöglich in der Wüste, und damit ein
integriertes Stromnetz, das von der Sahara bis nahe dem Polarkreis reicht -
denn Sonnenenergie gewinnt man am besten in Afrika, Speicherkraftwerke
lassen sich dagegen am besten an der norwegischen Steilküste errichten. All
das wird nicht "der Markt" erledigen, weder geniale Tüftler in
irgendwelchen Start-ups noch die großen Energiemultis. Dafür braucht es den
konzentrierten Willen ganzer Gesellschaften.
Solange wir das aber nicht angehen, können wir höchstens wählen, welche
Katastrophen wir vorziehen. Solche wie in Fukushima. Oder eben andere.
16 Mar 2011
## AUTOREN
Robert Misik
## TAGS
Schwerpunkt Atomkraft
## ARTIKEL ZUM THEMA
Innovative Energiegewinnung: Sauberer Strom, ganz schnell
Windräder in Hochspannungsleitungsmasten, Solarpaneele auf Mülldeponien:
Mit diesen Ideen wollen Wissenschaftler die deutsche Stromversorgung
revolutionieren.
Erneuerbare Energien: Da lacht die Sonne
Nach dem AKW-Abschalten: Wind, Sonne, Wasser, Biomasse - die erneuerbaren
Energien tragen ab sofort mehr zum Strommix bei als Atomkraftwerke.
Internationale Atomenergieorganisation: Hilflos und stumm
Die wirtschaftliche Nutzung radioaktiver Substanzen will sie fördern, die
militärische bekämpfen. Während der aktuellen Krise in Japan konnte die
IAEA bisher nicht glänzen.
Jürgen Trittin über das AKW-Moratorium: "Schwarz-Gelb hat Angst vor Wählern"
Die Abschaltung der AKWs soll die Koalition nur über die Wahlen retten,
kritisiert der Grünen-Fraktionschef. Um die Ängste der Menschen vor
Atomkraft ginge es nicht.
Tschernobyl-Doku auf Arte: Die große Verarschung
Arte zeigt mit "Die Wolke" (20.15 Uhr) eine Doku über den Reaktorunfall von
Tschernobyl. Beim Zuschauer bleibt eine Frage: Werden wir wenigstens
diesmal nicht belogen?
Gesichter der japanischen Katastrophe II: Sprecher im Blaumann
Yukio Edano ist der Überbringer furchtbarer Nachrichten. Der
Regierungssprecher ist dabei auf die Infos der Betreiberfirma angewiesen.
Er ist mehr als nur ein Sprecher.
Nuklearmediziner über Fukushima: "Jodtabletten an alle verteilen"
Japan ist auf die Katastrophe so gut vorbereitet wie kein anderes Land,
sagt der Nuklearmediziner Christoph Reiners. Es gibt Medizin, Messgeräte
und Notfallstationen.
Morgenzusammenfassung Akw Fukushima: Noch ein Druckbehälter beschädigt
Am Mittwoch mussten die Arbeiter wegen der hohen Strahlung zeitweise vom
AKW abgezogen werden. Vermutlich ist nun der zweite Druckbehälter
beschädigt.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.