# taz.de -- Nuklearmediziner über Fukushima: "Jodtabletten an alle verteilen" | |
> Japan ist auf die Katastrophe so gut vorbereitet wie kein anderes Land, | |
> sagt der Nuklearmediziner Christoph Reiners. Es gibt Medizin, Messgeräte | |
> und Notfallstationen. | |
Bild: Bestens auf Katastrophen vorbereitet: Ein Kind wird auf Strahlung untersu… | |
taz: Herr Reiners, die japanische Regierung warnt erstmals vor einer | |
Gesundheitsgefährdung durch radioaktive Strahlung. Was genau droht der | |
japanischen Bevölkerung? | |
Christoph Reiners: Der Unfall geht weit über die Reichweite der havarierten | |
Anlage hinaus, das heißt, die drohenden Gesundheitsschäden sind nicht mehr | |
lokal begrenzt. Aus den Erfahrungen von Tschernobyl wissen wir, dass die | |
engere Gefahrenzone nach einer Explosion im Reaktor und einer eintretenden | |
Kernschmelze die 30-Kilometer-Zone um das Atomkraftwerk ist. Diese wurde | |
evakuiert. Das ist gut und richtig. | |
Was, wenn die radioaktive Wolke direkt auf den Großraum Tokio zieht? 35 | |
Millionen Menschen leben dort. Die kann man unmöglich alle evakuieren. Wie | |
kann man sie schützen? | |
Gefährlich für die Bevölkerung dort ist vor allem das austretende | |
radioaktive Jod, das Schilddrüsenkrebs hervorrufen kann. Durch die | |
Verteilung und Einnahme von Jodtabletten kann man diese gesundheitlichen | |
Folgen aber eindämmen. | |
Wie genau? | |
Vor allem dürfen die Menschen nicht in Panik verfallen. Es ist wichtig, | |
Jodtabletten an alle zu verteilen. Das wurde damals in Tschernobyl | |
versäumt. In Japan ist dafür noch Zeit. Wenn die Wolke dann tatsächlich | |
durchzieht - und über diese Information verfügen die japanischen Behörden | |
-, müssen alle Menschen in ihren Häusern bleiben. | |
Wie groß ist das Zeitfenster, um das Jod einzunehmen? | |
Frühestens 24 Stunden vor dem Durchzug der Wolke muss man die Tabletten | |
einnehmen oder 24 Stunden danach. Innerhalb dieses 48-Stunden-Zeitfensters | |
gibt es die Flexibilität. | |
In Deutschland haben bereits Jodtabletten-Hamsterkäufe begonnen. Haben Sie | |
Erkenntnisse darüber, ob die japanischen Behörden über genügend | |
Jodtabletten verfügen? | |
Ich bin relativ oft in Japan, zuletzt vor zwei Wochen bei einem Treffen der | |
Weltgesundheitsorganisation. Wir haben uns über den Umgang mit | |
Strahlenunfällen ausgetauscht. Die Vorbereitung der Japaner auf | |
Katastrophen ganz generell ist ausgezeichnet. | |
Das können Sie beurteilen? | |
Ich beziehe mich dabei auf aktuelle Medienberichte. Es gibt | |
Notfalltrainings für die Bevölkerung und flächendeckende medizinische | |
Notfallstationen. Insofern kann man hoffen, dass auch Tabletten in | |
ausreichender Zahl zur Verfügung stehen und die Bevölkerung Zugang zu ihnen | |
hat. | |
Wie bereitet man sich auf Strahlenunfälle vor? | |
Die Japaner haben Messstationen eingerichtet, sogenannte Notfallstationen, | |
in denen die evakuierte Bevölkerung aus der Krisenzone untersucht wird, | |
damit keine Kontamination verschleppt wird. Die Leute, die das machen, sind | |
mit den richtigen Geräten ausgerüstet. Falls jemand eine Strahlenbelastung | |
hat, registriert man die Dosis. Das ist für die spätere Nachsorgephase | |
wichtig. | |
Warum? | |
Strahlenschäden treten meist erst nach Monaten oder Jahren auf. Bei den | |
Kindern und Jugendlichen, die nach dem Tschernobyl-GAU an Schilddrüsenkrebs | |
erkrankten, brach die Krankheit im Schnitt nach zehn Jahren aus. Das | |
bedeutet im Umkehrschluss: Erste Knoten können durch regelmäßige | |
Ultraschallvorsorgeuntersuchungen frühzeitig entdeckt und der Krebs dann | |
operiert werden. Mit einer nuklearmedizinischen Nachbehandlung binnen eines | |
Jahres kann Schilddrüsenkrebs durchaus geheilt werden. | |
Wer ist besonders gefährdet? | |
Kinder, Jugendliche und Schwangere. Bis zum Abschluss des Wachstums teilen | |
sich die Körperzellen sehr rasch und reagieren sensibel auf den | |
Störungseinfluss von Strahlen. | |
Gibt es einen speziellen Schutz für sie? | |
Leider nein. | |
Es ist aber nicht nur Jod freigesetzt worden, sondern auch Cäsium, | |
möglicherweise auch Plutonium. | |
Die Gefahr ist tatsächlich, dass auch Plutonium freigesetzt werden wird. | |
Plutonium setzt sich zwar - anders als radioaktives Jod - vor allem in der | |
näheren Umgebung des Reaktors ab. Aber es ist ein Alphastrahler: Seine | |
Strahlengefährlichkeit ist 20-mal höher als die von Gammastrahlen wie bei | |
Jod-131 oder Cäsium-137. | |
Welche Krankheiten löst das Einatmen von Plutonium aus? | |
Plutonium lagert sich in den Knochen und in der Lunge ein und kann zu | |
Lungen- oder Knochenkrebs führen, mit geringen Heilungschancen. | |
Welche gesundheitlichen Spätfolgen drohen aufgrund der atomaren | |
Katastrophe? | |
Die Erfahrung von Tschernobyl zeigt, dass das Hauptrisiko die Entwicklung | |
von Schilddrüsenkrebs ist. Nach Tschernobyl gab es 6.000 Fälle von | |
kindlichem und jugendlichem Schilddrüsenkrebs in den angrenzenden Regionen. | |
Nur 15 sind gestorben, davon die Hälfte an Krebs, die anderen an anderen | |
Ursachen. Das relativiert die Aussagen, Tschernobyl habe Millionen Tote | |
gefordert. | |
Sind die Japaner auch deswegen so gut aufgestellt in der Nuklearmedizin, | |
weil sie die schreckliche Erfahrung mit den Atombombenabwürfen 1945 haben? | |
Man muss vorsichtig sein, die Effekte der Bombenabwürfe über Hiroshima und | |
Nagasaki mit der jetzigen Reaktorkatastrophe zu vergleichen. Bei Nagasaki | |
waren etwa 600.000 Menschen der Explosion akut ausgesetzt. Es gab eine | |
enorme Sprengwirkung, viele sind an den Verbrennungen gestorben und an der | |
akuten Strahlenkrankheit, wie sie bei extremen Dosen auftritt. Das ist mit | |
der Situation in Fukushima - so schlimm sie ist - nicht zu vergleichen. | |
Trotzdem gibt es verheerende Spätfolgen, Missbildungen, Genveränderungen. | |
Es gibt eine Gruppe von 150.000 Überlebenden der Atombombe, die sehr | |
engmaschig überprüft wird. Darauf beziehen sich übrigens unsere | |
Erkenntnisse über strahlenverursachten Krebs. In dieser Überlebendengruppe | |
sind 800 zusätzliche Fälle von Krebs aufgetreten. Das wissen die Japaner. | |
Deswegen verfallen sie nicht in Panik. Die Langzeitrisiken sind eben gerade | |
nicht so hoch, wie teilweise vermittelt wird. | |
Wollen Sie damit sagen, es gebe keine strahlenverursachten Erbschäden? | |
Wir wissen durch die Untersuchungen der Überlebenden, dass das Risiko | |
hierfür nicht höher ist. Weder in Hiroshima noch Nagasaki sind | |
Fehlbildungen häufiger gefunden worden, als das normalerweise für die | |
jeweilige Bevölkerungsgruppe der Fall ist. | |
Wird die unmittelbare Region um das AKW herum jemals wieder bewohnbar sein? | |
Vermutlich wird es auch in Japan, ähnlich wie in Tschernobyl, eine engere | |
Zone von einigen Kilometern geben, die nicht mehr bewohnt werden sollte. | |
Aber große Teile der 30-Kilometer-Zone werden wieder bewohnbar sein. | |
16 Mar 2011 | |
## AUTOREN | |
Heike Haarhoff | |
## ARTIKEL ZUM THEMA |