# taz.de -- Aus der Literataz: Thomas Harlans "Veit": Bis zum Ende unerlöst | |
> Ein langer Brief an den Vater, Klage und Anklageschrift gegen den | |
> Nazi-Regisseur zugleich: Vor seinem Tod hat Thomas Harlan einen letzten | |
> Roman diktiert - "Veit". | |
Bild: Dass sich Thomas Harlan zu einem glühenden Antifaschisten entwickelte, g… | |
Thomas Harlan starb im Oktober 2010 im Alter von 81 Jahren. Er war viel: | |
Dramatiker, Regisseur, Filmer, Aufklärer, Romancier. Der Rowohlt Verlag | |
bringt gerade all seine Romane - "Heldenfriedhof", "Rosa", "Die Stadt Ys" - | |
als Taschenbücher neu heraus, sinnvollerweise ist der Werkausgabe auch der | |
Band "Hitler war meine Mitgift" hinzugefügt worden, die materialreiche | |
Dokumentation eines langen Gesprächs, das Thomas Harlan mit Jean-Pierre | |
Stephan geführt hat. | |
Doch es fehlt immer noch einiges - so die beiden Theaterstücke "Bluma" und | |
"Ich selbst und kein Engel" (die seit Jahren im Münchener Belleville Verlag | |
angekündigt sind) und andere, zum Teil noch nicht veröffentlichte große | |
Werke, vor allem aber Harlans Filme. | |
Doch man kann Thomas Harlan eh nicht bannen, nicht in einer Werkausgabe, | |
nicht in Buchdeckeln, nicht auf Zelluloid. Das musste schon sein Vater Veit | |
Harlan merken, der, ein talentierter Regisseur, sich den Nazis an den Hals | |
warf und mit später dreist verleugneter Begeisterung den antisemitischen | |
Hetzfilm "Jud Süß" drehte und 1944 zudem das Durchhaltedrama "Kolberg". | |
Dieser Vater, der weitaus mehr eine Mitgift war als Hitler - dem der | |
achtjährige Thomas Harlan in Begleitung seines Vaters persönlich begegnete | |
-, ist nun die Hauptfigur von Thomas Harlans letztem Buch "Veit", das er | |
noch kurz vor seinem Tod fertigstellte. Das Buch ist ein langer Brief an | |
den Vater, Klage und Anklageschrift zugleich. | |
Zeit seines Lebens musste der junge Harlan unter seinem Sohnsein leiden; | |
zunächst war Thomas Harlan begeisterter Hitlerjunge, dann floh er aus der | |
Landverschickung. Noch 1945 riet Vater Veit - der inzwischen von Thomas' | |
Mutter geschieden war und seinen Filmstar, Kristina Söderbaum, geheiratet | |
hatte - dem damals 15-Jährigen, sich freiwillig an die Front zu melden. | |
Nach 1945 vergaß Veit Harlan allerdings, welcher Nazi er gewesen war, er | |
vergaß es so gut und gründlich, dass er sogar bei der Entnazifizierung als | |
"unbelastet" eingestuft werden konnte. Der Sohn hingegen verließ | |
Deutschland, er konnte es nicht mehr ertragen, wie sehr ihn alte Nazis | |
allein dafür belobigen wollten, dass er das Kind dieses Regisseurs war. | |
Thomas Harlan floh vor der Selbstvergessenheit der Deutschen, er floh 1948 | |
nach Paris, studierte an der Sorbonne, wohnte zeitweise mit Gilles Deleuze | |
zusammen, vergaß die deutsche Sprache und mit ihr seine Eltern. | |
So erfuhr er 1949 eher beiläufig von dem Skandal, dass Veit Harlan, | |
angeklagt wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit, von einem Richter | |
freigesprochen wurde, der selbst ein Nazirichter war. Als dieser Freispruch | |
von einer höheren Instanz kassiert wurde, war es derselbe Richter, Walter | |
Tyrolf, der Goebbels' Lieblingsregisseur erneut freisprach (Tyrolf selbst | |
blieb natürlich auch weitgehend unbehelligt). Veit Harlan drehte bald | |
wieder, als sei nichts gewesen, während sich sein Sohn politisierte - und | |
radikalisierte. Mit seinem Freund Klaus Kinski - und mit gefälschten Pässen | |
- reiste er 1953 nach Israel, mit Nämlichem legte er in einem Kino Feuer, | |
das die Filme Veit Harlans zeigte, wegen ihm verdächtigte ihn der Vater der | |
Homosexualität. | |
## Angezeigt und enterbt | |
Veit Harlan zeigte seinen Sohn an, als dieser eine Versicherung betrog. | |
Veit Harlan enterbte seinen Sohn. Veit Harlan war es, der sich immer wieder | |
von seinem Sohn gekränkt wähnte. Denn Thomas Harlan entwickelte sich zu | |
einem glühenden Antifaschisten, der sich jedoch nicht von seinem Vater | |
lösen konnte - er schrieb sogar in jenen Jahren des Familienstreits das | |
Drehbuch zu Veit Harlans Film "Der Fall Dr. Sorge", der von den Behörden | |
als kommunistisches Machwerk eingestuft wurde. | |
Thomas Harlan inszenierte in dieser Zeit sein Stück "Ich und kein Engel" | |
über den Aufstand im Warschauer Ghetto und forschte bald darauf für mehrere | |
Jahre in Polen den Karrieren ehemaliger Nazis in der Bundesrepublik | |
hinterher. Am Ende, im Jahr 1963, hatte er 30 Mitarbeiter, und das Buch | |
"Das Vierte Reich", das aus seinen Recherchen entstehen sollte, sollte die | |
Biografien von 17.000 ehemaligen Nazis enthalten, die unbehelligt in der | |
Bundesrepublik lebten. Harlans Forschungen führten zu Hunderten Anklagen | |
gegen deutsche Kriegsverbrecher. Finanziert wurde das Buchprojekt von dem | |
kommunistischen Großverleger Giangiacomo Feltrinelli. | |
Doch während Italiener, Israelis, Polen und andere Thomas Harlan als | |
Antifaschisten schätzten, wurde er in Deutschland gehasst. Der | |
Staatssekretär im Adenauer'schen Kanzleramt, Hans Globke, Mitautor des | |
Kommentars zu den Nürnberger Gesetzen von 1935, den sogenannten | |
Rassegesetzen, stellt gegen Thomas Harlan Strafanzeige wegen Landesverrats. | |
Daraufhin wird diesem der Reisepass nicht mehr verlängert. Der Sohn Veit | |
Harlans muss Deutschland meiden, während sich sein Vater kaum angefeindet | |
sieht und sich munter mit alten Nazis trifft. | |
Nun dreht Thomas Harlan Filme, engagiert sich in linksradikalen Gruppen, | |
ist oft auf Reisen und doch stets bei sich. Sein Vater aber verlässt ihn | |
nicht, nicht einmal, als er 1964 stirbt - und den Sohn ans Sterbelager | |
ruft. | |
## Sauvater, du Un, du Tier | |
Harlan begann seine großen und literarisch gewichtigen Bücher zu schreiben, | |
als ihn eine Lungenkrankheit ausgerechnet in Berchtesgaden, unweit des | |
Obersalzbergs, in ein Krankenhaus einsperrte. Er hatte dabei das Glück, | |
dass er durch seine Jahre in Italien, Chile, Frankreich und Polen den | |
selbstverständlichen Zugriff auf seine Muttersprache verloren hatte. Er | |
schrieb nun mit einem eigenen Rhythmus, mit eigener Kraft, mit | |
unaufarbeitbarer Wut. In "Heldenfriedhof" liest sich das so: "Du Land, du | |
Deutsch, du, gehe, du, du, doch du, gehe, doch hin, knie, hin, du Tag, du | |
Sau, du einhelliges, Schwein du, ihr alle ihr, du, ihr alle ihr, | |
zweideutigen, ihr, du Hundeland, Sauvater, du Land, du Un, du Tier." | |
In "Veit" nun widmet er sich diesem "Un" erneut, diesem "Un", das sein | |
Vater verkörperte, dessen Lieblingssohn der Enterbte war. Veit Harlan sagte | |
an seinem Sterbebett zu seinem Sohn: "Ich glaube, ich habe dich verstanden, | |
ich habe deine Kämpfe verstanden, auch die Kämpfe gegen mich, so scheint es | |
mir." Dieser Satz, dieses zurücknehmende "scheint es mir" bietet nun den | |
Anlass zu der langen Klage des Sohnes, der dem geliebten Vater die | |
Verbrechen nicht verzeihen kann, der reden muss, weil der Vater nicht | |
redete, der die Verbrechen des Vaters auf sich nehmen will, um diesen zu | |
erlösen, der den Vater nicht erlösen kann. | |
Harlan hat dieses Buch krankheitsbedingt nicht mehr selbst schreiben | |
können, er hat es diktiert. Selten merkt man das, nur gelegentlich verliert | |
dieser disziplinierte Schriftsteller die Kontrolle über seine Sätze, im | |
nächsten Moment jedoch hat er sich wieder gefangen. Dieses Buch, von dem | |
Harlan wusste, dass es sein letztes sein wird, versucht noch einmal das | |
Vaterproblem zu lösen. Noch einmal gelingt es nicht. Diese Nichtgelingen | |
allerdings ist sehr lesenswert. | |
Thomas Harlan: "Veit". Rowohlt Verlag, Reibeck 2011, 160 Seiten, 17,95 | |
Euro. | |
17 Mar 2011 | |
## AUTOREN | |
Jörg Sundermeier | |
## TAGS | |
Antisemitismus | |
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