# taz.de -- Referendum in Ägypten: Wählen in Festtagskleidung | |
> 60 Prozent der Wahlberechtigten in Ägypten nahmen an der ersten freien | |
> Abstimmung seit 1952 teil. In einigen Wahllokalen mussten Urnen | |
> nachgefordert werden, weil sie überfüllt waren. | |
Bild: Referendum in Ägypten: Schlange stehen um die Stimme abgeben zu können. | |
BERLIN taz | Das Referendum über die Verfassungsänderung am Samstag war die | |
erste freie Abstimmung in Ägypten seit 1952. Für viele war es ein Fest der | |
Freiheit. Sie zogen Festtagskleidung an und warteten geduldig in langen | |
Schlangen, bis sie an die Reihe kamen. Zwischenfälle oder Betrugsmanöver | |
blieben die Ausnahme und wurden sofort geahndet. | |
60 Prozent der 45 Millionen Wahlberechtigten gingen zur Abstimmung - anders | |
als bei vielen früheren Parlamentswahlen, an denen oft nicht mal fünf | |
Prozent teilnahmen. Die Öffnung der Wahllokale wurde verlängert, in einigen | |
Wahllokalen mussten sogar Urnen nachgefordert werden, weil sie überfüllt | |
waren. | |
"Das beweist, dass die Ägypter politisches Verantwortungsbewusstsein | |
haben", schreibt Ibrahim Issa, der Chefredakteur der Internetausgabe von | |
al-Dustur. Wie Reuters am Nachmittag unter Berufung auf informierte Kreise | |
meldete, hätten rund 70 Prozent für eine Verfassungsänderung gestimmt. | |
Die Änderungen sollen den Weg zu freien Parlaments- und | |
Präsidentschaftswahlen ebnen. Sie begrenzen die Amtsperiode des Präsidenten | |
auf maximal zwei vierjährige Amtsperioden verpflichten ihn, einen | |
Vizepräsidenten zu ernennen, und erleichtern eine Kandidatur zur | |
Präsidentschaft. | |
Die Verfassungsänderungen beinhalten zudem einen klaren Verfassungsauftrag | |
an das neue Parlament und den neuen Präsidenten, eine verfassunggebende | |
Versammlung einzuberufen, die dann eine völlig neue Verfassung erarbeiten | |
soll. Die jetzigen Änderungen stellen damit nur eine Übergangsphase dar. | |
## "Ich habe Nein gesagt" | |
Die Meinungen in Ägypten waren tief gespalten. Man könne keine Verfassung | |
ändern, die vom Obersten Militärrat im Februar annulliert wurde, war der | |
Einwurf vieler Rechtsexperten. Zahlreiche Angehörige der revolutionären | |
Jugendorganisationen, linke und liberale Parteien, aber auch die koptischen | |
Kirchen lehnten die Verfassungsänderung deswegen ab. | |
Sie weisen darauf hin, dass sich neue Parteien erst konsolidieren müssten. | |
Von Wahlen zu einem frühen Zeitpunkt würden allein die Muslimbrüder oder | |
die ehemalige Regierungspartei NDP mit ihren immer noch vorhandenen | |
Netzwerken profitieren. | |
Für das Ja haben die Muslimbrüder, ehemalige NDP-Abgeordnete und | |
islamistische Salafisten geworben, aus unterschiedlichen Gründen. Während | |
die Salafisten in der Zustimmung zur Verfassungsänderung die beste Garantie | |
für die Beibehaltung der Scharia sahen, haben Muslimbrüder betont, dass es | |
ihnen um die Stabilisierung des revolutionären Prozesses geht. Ohne | |
gewählte Parlamente, ohne legitimierten Präsidenten befände sich das Land | |
in einem Vakuum, das zu Instabilität führen könnte. | |
Im Falle eines Nein-Votums wäre das weitere Prozedere unklar. | |
Möglicherweise würden dann die Militärs für eine Übergangszeit von bis zu | |
zwei Jahren an der Macht bleiben. Außerdem wäre die Frage, nach welchen | |
Kriterien dann eine verfassunggebende Versammlung zusammengesetzt sein | |
soll. | |
"Ob Ja oder Nein, ich respektiere die Meinung des anderen." Mit solchen | |
Parolen haben viele Facebook-Aktivisten zu einem Zusammenhalten der | |
revolutionären Kräfte aufgerufen. "Ich habe Nein gesagt", schrieb Wael | |
Ghonim, der Administrator der Facebook-Gruppe "Wir sind alle Khaled Said", | |
auf die Pinnwand. | |
"Aber wenn die Mehrheit Ja sagen sollte, dann respektiere ich das. Dann ist | |
es so, als hätte auch ich Ja gesagt. Wir müssen lernen die Mehrheit zu | |
respektieren. Wir müssen unsere Differenzen vergessen, um unser Land | |
aufzubauen und die Elemente bekämpfen, die das politische, wirtschaftliche | |
und soziale Leben in Ägypten korrumpiert haben." | |
21 Mar 2011 | |
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