# taz.de -- Mit Familie al-Beigo unterwegs in Libyen: An der Front von Adschdab… | |
> Mit dem Pick-up der Familie al-Beigo ins Kampfgebiet – und vor dem | |
> Abendessen zurück nach Bengasi. Und durchs Fenster wird lächelnd eine | |
> Tüte Gewehrpatronen gereicht. | |
Bild: Jeden Tag machen sich Einwohner Bengasis in Pick-ups mit aufgeschraubten … | |
BENGASI taz | Mohammed al-Beigo ist ein Großvater, wie er im Buche steht: | |
weißer Vollbart, Lachfalten um die Augen, hochgewachsen, autoritär und | |
sanft zugleich. Er schiebt die Garagentür auf, klettert auf die Ladefläche | |
des Toyota-Pick-ups, kramt zwischen Kisten und Tauen und gibt währenddessen | |
seinen 30- bzw. 35-jährigen Söhnen barsche Anweisungen: Sie sollen etwas | |
holen. "Das? Quatsch! Das da, das andere! Hopp, hopp. Warum dauert das so | |
lange?" Mit den drei Enkeln, die an seiner Hose zerren, spricht er mild, | |
fast flüsternd: "Kannst du schon die Munition tragen? Das ist ja toll. | |
Bitte unter die Halterung für das Maschinengewehr stellen. Machst du das? | |
Danke schön, mein Lieber." | |
Als alles vorbereitet scheint und der Toyota voll beladen auf der Straße | |
steht, verschwindet der Hüne noch einmal in der Garage und kommt ächzend, | |
aber gut gelaunt mit einem schweren russischen Maschinengewehr auf den | |
Schultern heraus. Sein Sohn Ali nimmt es oben auf dem Wagen in Empfang. | |
Al-Beigo schraubt es mit kurzen, fachmännischen Griffen fest. Fertig. Die | |
Fahrt kann losgehen. | |
In letzte Sekunde steckt der kleine Hamid noch lächelnd eine Tüte | |
Gewehrpatronen durchs Fenster, als reiche er Kekse für ein Picknick. Mit | |
dem schwenkbaren Maschinengewehr beladen hoppelt der Toyota über das | |
beschädigte Pflaster der Seitenstraße aus Bengasi heraus. | |
"Zenga, Zenga, Dar, Dar, Beid, Beid!" - "Straße um Straße, Haus um Haus, | |
Wohnung um Wohnung", wolle er das Land von seinen Gegnern säubern, hatte | |
Mummar al-Gaddafi in seiner ersten, wirren Brandrede nach Beginn des | |
Aufstands erklärt. Die al-Beigos singen das als Persiflage und hauen sich | |
vor Lachen auf die Schenkel. Ja: Straße für Straße, Haus für Haus geht es | |
nach Adschdabija, gegen Gaddafi, und überall hängen, kleben und flattern | |
die schwarz-rot-grünen Fahnen des anderen Libyens. | |
## Pick-ups wie von Riesenfaust zusammengeknüllt | |
So wie der ehemalige Polizist und seine Söhne machen sich täglich viele | |
Einwohner Bengasis zur etwa 150 Kilometer entfernten Front in Adschdabija | |
auf. Abends kommen sie zurück – wenn alles gut geht. Junge Männer bleiben | |
manchmal drei Tage, ehe sich wieder ablösen lassen. | |
Nur fünf Minuten vom Haus der al-Beigos entfernt, am Stadtrand, wo | |
gesichtslose Hochbauten stehen – die libysche Version von Berlin-Marzahn - | |
ist unter einer Autobahnbrücke alles Gras verkohlt. Links und rechts in den | |
Fassaden: Einschüsse von Panzergranaten oder Raketen. An einer Straßenecke | |
klaffen große Löcher in der Mauer eines Ladens. Das zerbrochene | |
Schaufensterglas liegt überall herum. Bis hierher kamen vor ein paar Tagen | |
die Truppen Gaddafis. Die drei sind sich sicher: Hätten "die Franzosen" | |
nicht im letzten Moment mit ihren Kampfflugzeugen die Panzer gestoppt, es | |
wäre alles aus gewesen. | |
An beiden Seiten der Straße stehen zerstörte Panzer, fahrbare Raketenwerfer | |
("Stalinorgeln"), gepanzerte Mannschaftstransporter, Pick-ups, alle | |
ausgebrannt, verbogen, wie von einer Riesenfaust zusammengeknüllt und | |
weggeworfen. | |
Zwanzig Kilometer vor Adschdabija taucht der erste große Posten der | |
Rebellen auf. Hier sammeln sie sich mit allem, was sie haben. Es wimmelt | |
von Toyota-Pick-ups, die wie der der al-Beigos aussehen. Ein fahrbares | |
Flakgeschütz parkt am Straßenrand, die Mannschaft hantiert an der Kanone | |
herum, feuert ohrenbetäubend laute Schüsse ab. Warum, ist nicht klar, | |
vielleicht einfach zur Übung. Dreimal spuckt die Kanone Rauch und | |
Mündungsfeuer, dann folgt Ladehemmung. Ein älterer Mann in | |
zusammengewürfelten Uniformteilen flucht und bastelt am Rohr herum. | |
Vergeblich, es knallt nicht mehr. Die anderen grinsen und zucken mit den | |
Achseln. | |
## "Gekommen, um zu kämpfen" | |
Die Szenerie wirkt wie eine Mischung aus Feldlager und Picknick, Ziviles | |
und Militärisches mischt sich in immer neuen Varianten. Neben | |
übergelaufenen ehemaligen Soldaten warten auch Jugendliche, Familienväter | |
und Graubärtige auf das Zeichen zum Vorrücken. Einige Figuren wirken wie | |
von Spitzweg gemalt, ein dicker Ingenieur mit Brille etwa, Ende 30 mit | |
Bäuchlein und weißer Mütze, dem ein blaues Oberhemd über der zu kurzen Hose | |
weht und der eine alte Jagdwaffe über der Schulter trägt. "Gekommen, um zu | |
kämpfen", sagt er strahlend auf die Frage, warum er hier sei. Ob er Angst | |
habe? Er deutet auf den Himmel: "Nur vor Gott." | |
Eine Kommandostruktur gibt es hier nicht, bekennen sie, nur Beobachter vorn | |
an der Front. "Wenn die meinen, es geht", sagt ein stoppelbärtiger | |
Exsoldat, "dann greifen wir unsere Waffen und rücken zusammen vor." Die | |
Waffen, das sind schwere Maschinengewehre, Bazookas, aber auch Gewehre aus | |
dem Ersten Weltkrieg und selbst gebastelte Harpunen. | |
Die mangelnde Organisation ist offensichtlich, aber ist sie auch ein Manko? | |
Nein, findet Salwa al-Bughaigis. Wenige Stunden vor dieser Szene versucht | |
die junge Anwältin, die seit Beginn des Aufstands als Sprecherin der | |
Rebellin fungiert, im Gerichtsgebäude von Bengasi dem Ganzen etwas | |
Positives abzugewinnen: "Ist diese …", sie sucht nach passenden Worten, | |
"ist diese Unorganisiertheit … nicht gerade der Beweis dafür, dass diese | |
Menschen keiner Ideologie folgen, keinem Führer? Dass sie nichts eint als | |
die Entschlossenheit, sich nicht weiter von den alten Diktatoren | |
beherrschen zu lassen? Dass sie sich nicht kommandieren lassen wollen, dass | |
sie spontan zur Front eilen, um für ihre Freiheit einzustehen? Für die | |
arabische Welt ein Quantensprung!" | |
Dezent geschminkt, im Trenchcoat auf ihrem Bürostuhl sitzend, versucht | |
Salwa al-Bughaigis, die Ziele der Rebellen kurz zusammenzufassen: Es gehe | |
darum, in Libyen einen Rechtsstaat aufzubauen. Gewaltenteilung, Trennung | |
von Staat und Religion, einen Gesetzeskodex, der, wie früher schon einmal, | |
auf dem Code Civil basiert. Natürlich mit Referenzen an die islamische | |
Kultur, aber eben nur mit Referenzen. Keine Scharia im Familienrecht, nur | |
so viel, wie es der kulturellen Prägung Libyens entspreche, nicht mehr. | |
## "Warum hilft uns Deutschland nicht?" | |
Dann beginnt sie, Gegenfragen zu stellen: "Warum hilft uns Deutschland | |
nicht?" Vielleicht, so lautet die Antwort, weil eine westliche Intervention | |
die Freiheitsbewegungen in Nordafrika diskreditieren, ja, ins Gegenteil | |
umschlagen lassen könnte. Guido Westerwelles Argument erscheinen ihr | |
abgehoben und schulmeisterlich. "Jahrzehntelang haben die jungen Araber den | |
Westen gehasst, euch Neokolonialismus vorgeworfen. Seit die westlichen | |
Kampfflugzeuge uns helfen, ist das wie weggeblasen. Man sieht nur noch das | |
Verbindende, Frankreich als Vorreiter und Mutterland des Säkularismus, das | |
uns zu Hilfe eilt, weil wir und die Europäer gemeinsame Ideale haben. | |
Deutschland verpasst den Anschluss an die arabische Moderne." | |
Wann kommen "die Franzosen"? Das ist die Frage, die sich die Kämpfer vor | |
Adschdabija stellen. In der Stadt, in die sich Gaddafis Truppen | |
zurückgezogen haben, sollen Tote auf den Straßen liegen, dem Krankenhaus | |
fehlen Medikamente. Familienväter, die mit vollbepackten Autos aus der | |
Stadt eintreffen, erzählen von Vergewaltigungen, Plünderungen, Mord. | |
Das Gerücht breitet sich aus, der provisorische Regierungsrat habe bei der | |
Nato angerufen und um Luftunterstützung gebeten. Eine Viertelstunde später | |
sind tatsächlich Jets zu hören. Von einer Düne aus kann man mit bloßem Auge | |
schwarzen Rauch über den Häusern von Adschdabija aufsteigen sehen. Die | |
Kämpfer jubeln, klatschen, schwenken die Gewehre. "Sarkozy! Sarkozy!" | |
Motoren springen an, eine Gruppe bricht in Richtung Stadt auf. An der | |
vordersten Linie, neun Kilometer von der Stadt entfernt, spähen schon ein | |
paar Mutige von einer Anhöhe herab. | |
## Blutüberströmte Leichen im Kofferraum | |
Als sich in der Ferne ein Auto zeigt, das aus der Stadt kommt, stürzen alle | |
aufgeregt zur Straße hinunter. Hat es jemand hineingeschafft und bringt nun | |
die lang erwartete Nachricht vom Abzug der Gaddafi-Truppe? Im Auto sitzen | |
vier bunt uniformierte Rebellen. Der Kofferraum steht offen, weil darin die | |
blutüberströmten Leichen von vier Kameraden liegen. Einem fehlt der Kopf. | |
"Allahu Akbar", tönt es: Gott ist groß. Wut macht sich breit. "Los, wir | |
zeigen es den Gaddafi-Typen!" - "Angriff, Angriff!", schreien immer mehr. | |
Dann folgt ein dumpfer Knall, ein Raketenabschuss. Alle werfen sich zu | |
Boden. Ein zweiter Knall. Die Kämpfer laufen zu den Autos. Motoren werden | |
angelassen, in wilder Jagd geht es davon. Aber in entgegengesetzter | |
Richtung, nach Bengasi. Die Dunkelheit ist eingebrochen, auf der Straße | |
liefern sich die Autos der Rebellen ein Rennen darum, wer als Erster die | |
sichere Stadt erreicht. Auch Mohammed al-Beigo und seine Söhne rasen mit, | |
zurück, zurück. Mit dem Maschinengewehr haben sie nicht geschossen. An der | |
Halterung klammert sich ein Teenager fest, der in der Panik in den Pick-up | |
gesprungen ist. Familie al-Beigo ist sich einig: Zum Abendessen können sie | |
es noch rechtzeitig nach Hause schaffen. | |
25 Mar 2011 | |
## AUTOREN | |
Marc Thörner | |
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