# taz.de -- Demos und Atom-Debatte: Deutschland kann abschalten | |
> Umweltbundesamt: Bis 2017 kann ohne Gefährdung der Klimaschutzziele | |
> abgeschaltet werden. CDU- und FDP-Politiker vielstimmig dagegen. | |
> Veranstalter: Mehr als 200.000 bei Demos. | |
Bild: Demonstrantinnen in Köln. "Ich will lachen, nicht strahlen" | |
BERLIN afp/dpa/dapd | Die Anti-Atom-Demonstrationen in vier deutschen | |
Großstädten am Samstag haben nach Veranstalterangaben so viele | |
Atomkraftgegner wie nie zuvor auf die Straße getrieben. In Berlin, Hamburg, | |
Köln und München hätten insgesamt 210 000 Menschen das Abschalten aller | |
Atommeiler gefordert, teilten die Initiatoren der Demonstrationen am | |
Samstag mit. Allein in Berlin hätten 90 000 Demonstranten Kanzlerin Angela | |
Merkel (CDU) aufgefordert, den Atomausstieg nicht auf die lange Bank zu | |
schieben. In Hamburg seien 50 000 Menschen auf die Straße gegangen, in Köln | |
40 000 und in München trotz Regens 30 000. | |
Die Zahlen der Polizei lagen zunächst niedriger. In Berlin ging ein | |
Sprecher von weit mehr als 50 000 Demonstranten aus, in Hamburg nannte ein | |
Sprecher die Zahl von 40 000 Menschen. In München schätzte ein | |
Polizeisprecher die Zahl der Demonstranten auf mehr als 25 000. In Köln | |
nennt die Polizei bei Großveranstaltungen grundsätzlich keine | |
Teilnehmerzahlen. | |
Redner warnten auf den Demonstrationen vor den Gefahren der Atomkraft. Die | |
Technik sei nicht beherrschbar. Das Motto lautete: "Fukushima mahnt: Alle | |
AKWs abschalten." Auch Gewerkschaften, Oppositionsparteien und Kirchen | |
unterstützten die Proteste. Organisator Jochen Stay von der Organisation | |
".ausgestrahlt" sagte: "Wir werden jetzt nicht mehr locker lassen, bis die | |
Atomkraftwerke endgültig stillgelegt werden. | |
## Umweltbundesamt: Bis 2017 ist Komplettabschaltung möglich | |
Bis 2017 wäre dies nach Ansicht des Umweltbundesamts (UBA) möglich. | |
Deutschland kann nach Ansicht des UBA bis 2017 alle Atomkraftwerke | |
stilllegen, ohne dass die Versorgung oder die Klimaschutzziele gefährdet | |
wären. Im deutschen Kraftwerkspark bestünden Überkapazitäten von elf | |
Gigawatt, was es erlaube, die sieben ältesten Kernkraftwerke plus Krümmel | |
nicht wieder anzuschalten, berichtete der Spiegel unter Berufung auf neue | |
Berechnungen der Behörde, die dem Bundesumweltministerium vorlägen. | |
Vor allem Erdgas-Wärme-Kraftwerke könnten bis 2017 sukzessive die | |
Stromproduktion der neueren Meiler übernehmen, heißt es demnach in dem | |
UBA-Bericht. Deutlich höhere Strompreise werde es infolge eines | |
Schnellausstiegs nicht geben. | |
## Klaus Töpfer warnt vor Umstieg auf Erdgas | |
Der Vorsitzende der neuen "Ethikkommission für sichere Energieversorgung", | |
Klaus Töpfer, warnte vor einem vorschnellen Umstieg auf Erdgas und Kohle: | |
"Wenn wir verstärkt auf Erdgas setzen, dann müssen wir uns auch fragen, was | |
die ökologischen Folgen der neuen Erdgasfördertechniken sind." Einem Ausbau | |
von Kohlekraftwerken steht Töpfer nicht nur aus klimapolitischen Gründen | |
"äußerst skeptisch" gegenüber. | |
Der frühere Bundesumweltminister sagte, die Reaktorkatastrophe von | |
Fukushima sei ein desaströser Anlass, "doch zugleich auch eine Chance, von | |
einem Pfad abzukommen, der Kollaps, Katastrophen und Kriege | |
heraufbeschwört". Er begrüßte, dass Deutschland nun "nicht mehr für immer | |
mehr Bruttoinlandsprodukt immer mehr Risiken in Kauf nehmen will". | |
## Pfeiffer: "Industrie geht aus Deutschland weg" | |
In den Koalitionsfraktionen stößt Merkels Kurs auf Widerstand. Der | |
CDU-Energiepolitiker Thomas Bareiß sagte laut Spiegel: "In der Atomfrage | |
wurde überhitzt eine Entscheidung getroffen, die unsere Glaubwürdigkeit | |
infrage stellt." Fraktionsvize Michael Fuchs (CDU) warnte weiterhin, ohne | |
die sieben jetzt abgeschalteten Meiler würden die Klimaschutzziele nicht | |
erreicht. Der CDU-Wirtschaftspolitiker Joachim Pfeiffer warnte, "dass die | |
stromintensiven Industrien (...) aus Deutschland weggehen". | |
Bayerns Ministerpräsident Horst Seehofer (CSU) sagte dem Spiegel, er glaube | |
nicht, dass die sieben nun abgeschalteten Atomkraftwerke wieder in Betrieb | |
genommen werden. "Ich kann mir schwer vorstellen, dass es wirtschaftlich | |
ist, sie noch einmal nachzurüsten." Er wünsche sich bis 2020 einen | |
weitgehenden Abschied von der Kernenergie. Seehofer sagte, er wolle | |
"energiepolitisch ein grünes Bayern schaffen"." | |
## Geißler: "Zum Atomausstieg gibt es keine Alternative" | |
Der CDU-Politiker und "Stuttgart 21"-Schlichter Heiner Geißler attackierte | |
im Magazin Focus Wirtschaftsminister Rainer Brüderle (FDP), der das | |
Atommoratorium vor Industrievertretern als dem Wahlkampf geschuldet | |
gewertet haben soll. Zum Atomausstieg gebe es keine vernünftige | |
Alternative, sagte Geißler, "höchstens eine Brüderle-FDP-Alternative". | |
Geißler forderte eine Volksabstimmung über den Atomausstieg. | |
Der FDP-Wirtschaftspolitiker Martin Lindner wertete das Moratorium laut | |
Spiegel als "Hauruck-Entscheidung". Der FDP-Finanzexperte Hermann Otto | |
Solms sagte, durch das Abschalten sei "der falsche Eindruck entstanden, die | |
Überprüfung sei nicht ergebnisoffen". Merkel-Kritiker wollen dem | |
Nachrichtenmagazin zufolge ein eigenes Beratungsgremium zur Kernenergie | |
aufstellen. Die Kanzlerin hatte eine Ethik-Kommission berufen. Dort will | |
BASF-Chef Jürgen Hambrecht für die Kernenergie werben. "Wir können doch | |
nicht einfach aussteigen und uns den Strom aus dem Ausland holen, der dort | |
mit Kernkraft erzeugt wird und uns dabei wohlfühlen", sagte er der | |
Frankfurter Allgemeinen Zeitung (Samstag). | |
## Maschinenbauverband: "Europäisches Stromnetz könnte zusammenbrechen" | |
Auch der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Robert Zollitsch, | |
führte im Hamburger Abendblatt Argumente gegen einen schnellen Atomausstieg | |
ins Feld: "Zunächst einmal gilt: Wir brauchen eine stabile und zuverlässige | |
Energieversorgung. Der Verzicht auf die Atomenergie setzt Alternativen | |
voraus." Der Präsident des Verbands Deutscher Maschinen- und Anlagenbau | |
(VDMA), Thomas Lindner, sagte der Zeitung Euro am Sonntag, gingen am Ende | |
80 Prozent der Atommeiler vom Netz, könnte das europäische Stromnetz | |
zusammenbrechen. | |
## Ilse Aigner warnt Konzerne in der Super Illu | |
Verbraucherministerin Ilse Aigner (CSU) warnte die Konzerne in der Super | |
Illu davor, "schon jetzt Preiserhöhungen herbeizureden". Es entstünden | |
keine entsprechenden Kosten. Laut Wirtschaftswoche kostet die Abschaltung | |
von insgesamt 13 deutschen Kernkraftwerken im Mai pro Tag 13 Millionen | |
Euro. Fünf AKW seien dann noch wegen Routinekontrollen vom Netz. Ein | |
massiver Ausbau des Stromnetzes für Ökoenergie führe nicht zu spürbar | |
höheren Strompreisen, sagte der Präsident der Bundesnetzagentur, Matthias | |
Kurth, der Neuen Osnabrücker Zeitung. | |
Die Grünen-Politikerin Rebecca Harms zeigte sich vor den geplanten | |
AKW-Checks skeptisch. "Bei der Überprüfung muss man dafür sorgen, dass | |
nicht die alten Pappenheimer wieder die Anlagen prüfen, die sie schon immer | |
geprüft haben und bei denen sie nie ein Problem gefunden haben", sagte sie | |
der dpa. Der Deutsche Feuerwehrverband forderte im Focus eine Revision beim | |
Bevölkerungsschutz. Schwere Atomunfälle wie in Tschernobyl oder Fukushima | |
seien nicht erprobt. | |
## Frank Bsirske: "Atomkraft taugt nicht als Brückentechnologie" | |
Auch der Verdi-Bundesvorsitzende Frank Bsirske hat angesichts der | |
Reaktorkatastrophe im japanischen Fukushima die Rücknahme der | |
Laufzeitverlängerungen deutscher Atomkraftwerke gefordert. "Atomkraft taugt | |
nicht als Brückentechnologie", sagte Bsirske am Samstag auf der | |
Verdi-Landesbezirkskonferenz Niedersachsen-Bremen. Die Bundesregierung | |
müsse "den Ausstieg aus dem Ausstieg zurücknehmen". Nachdem sieben Meiler | |
abgeschaltet worden seien, stelle sich heraus: "Wir brauchen sie nicht. Es | |
entsteht kein Stromengpass", sagte Bsirske. Die Delegierten beschlossen | |
einen Initiativantrag zum schnellstmöglichen Atomausstieg. Darin wird unter | |
anderem die dauerhafte Abschaltung der sieben vor 1980 gebauten Werke | |
gefordert. | |
Die Atomkonzerne bereiten Schadensersatzforderungen wegen der | |
Zwangsabschaltung vor, berichtete der Spiegel unter Berufung auf | |
Unternehmenskreise und ihr Umfeld. In den nächsten 10 bis 14 Tagen gebe es | |
Vorstandsentscheidungen. | |
26 Mar 2011 | |
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