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# taz.de -- Krieg in Libyen: Adschdabijas Neuanfang
> Die Stadt ist von den Aufständischen zurückerobert. Eine Reportage über
> zerstörte Panzer, kaputte Häuser, das Krankenhaus und einen Staatsanwalt
> ohne Mitleid.
Bild: Rebellen auf dem Vormarsch: Anti-Gaddafi-Kämpfer am Sonntag auf dem Weg …
Kurve 9 - so lautet die militärische Bezeichnung für die letzte
Straßenbiegung vor der Stadt. Kurve 9 ist das Problem. Bei Kurve 9 geht es
nicht weiter. Vor dieser Stelle parken in langer Schlange die Fahrzeuge der
Aufständischen, Toyota-Pick-ups, Lafetten mit Luftabwehrgeschützen, die als
Boden-Boden-Waffen dienen sollen, einfache Minibusse, in denen junge Männer
mit Kalaschnikows auf ihren Einsatz warten.
Vier haben gerade versucht, in einem Auto durchzukommen, jetzt sind sie
wieder zurück, bahnen sich hupend den Weg durch das Waffenarsenal zur
nächsten Ambulanz. Sanitäter ziehen einen leblosen Körper von der Rückbank,
betten ihn auf eine Bahre. Der schwer Verletzte heißt Ahmed. Scharfschützen
haben ihm den Hals durchschossen, wahrscheinlich von einem Haus am
Stadtrand aus.
"Luftunterstützung kommt gleich", kündigt ein grauhaariger Kommandeur in
Tarnfleck an, der sich nur unter seinem Nom de Guerre vorstellen will: Asad
Libi, libyscher Löwe, einer der Koordinatoren hier - Offiziersränge gibt es
nicht. Luftunterstützung? Gibt es eine direkte Verbindung? Libi lächelt.
"Wir sagen dem provisorischen Regierungsrat Bescheid, und die rufen die
Nato." Jets sind nicht zu sehen, doch nach einer Weile verrät sie ein
schwaches, dumpfes Rollen in der Luft.
Von Sandhügeln ringsum beobachten Aufständische die Einschläge. Über der
Silhouette Adschdabijas steigt eine Rauchsäule auf. Dann eine zweite und
eine dritte. "Allahu akbar!", tönt es bei jedem Treffer. Ein paar Kämpfer
entschließen sich die Dünen hinunterzuklettern und laufen waffenschwenkend
durch die Wüste auf das rauchende und brennende Adschdabija zu.
Am nächsten Nachmittag ist Kurve 9 kein Thema mehr. Gaddafis Truppen sind
abgezogen. Der Verkehr fließt an dieser Stelle vorbei, als wäre nie etwas
gewesen. Auch an den Rohbauten dreier Villen, auf denen die Scharfschützen
gesessen haben. Verkohlte Panzer stehen neben der Straße im Sand, wie von
überdimensionalen Hämmern aufgeknackt, einer brennt noch lichterloh.
Die Autos stauen sich bereits, denn viele Einwohner des nahe gelegenen
Bengasi wollen wissen, wie es in Adschdabija um ihre Verwandten steht. Ein
Neubauviertel, eine halbfertige Trabantenstadt am Ortseingang, wirkt
unbeschädigt. Doch an der Straße Richtung Stadtmitte klaffen die
Einschusslöcher von Raketen oder Panzergranaten in den Fassaden. Noch immer
lassen Gewehrsalven die Luft erzittern, doch diesmal sind es Freudenschüsse
der Einwohner Adschdabijas, die in einem Autokorso zum Zentrum fahren.
Ein älterer Mann winkt uns heran, steigt in unser Auto und führt uns in
sein Wohnviertel, wo an einer ungeteerten Straße ein- und zweistöckige
Einzelhäuser stehen. An einem ist ein Teil der ersten Etage eingefallen.
Polstersessel, Sofas, ein Kühlschrank liegen zwischen den Trümmern im
Parterre. Zwei Jungen, neun und dreizehn Jahre, seien umgekommen, der Rest
der Familie habe überlebt. An einem Haus ragt eine Treppe auf, die zum
linken Teil des ersten Stocks führt, den rechten hat eine Rakete
zusammenbrechen lassen. Vorsichtig tasten wir uns empor, um in eine Küche
zu treten, in der Mauersteine liegen wie Geröll. Ein Teil der Außenwand
fehlt. Nur auf der Anrichte neben dem Herd sind noch die Porzellantassen
säuberlich aufgereiht. Der Nachbar, ein 58-jähriger Angestellter einer
Ölfirma in Brega, hat jahrzehntelang auf sein kleines Einfamilienhaus
gespart. Im Trainingsanzug steht er an der Schwelle und bittet uns,
einzutreten. Aber hinter der Tür gibt es nichts, um einzutreten. Nur drei
Wände sind noch da. Was er jetzt machen will? Er zuckt die Achseln. Wie
will er den Neuanfang schaffen? Er zeigt zum Himmel: Gott wird helfen. Nach
dem Abschied kommt er uns hinterher: "Entschuldigung, dass ich Ihnen keinen
Tee anbieten konnte."
Wer sich in einem der getroffenen Häuser aufhielt und überlebte, kommt,
wenn er Glück hat, ins Krankenhaus nach Bengasi. Auf der Station für
Brandverletzungen liegen vier junge Männer in einem Zimmer. Sie haben keine
Haare, keine Lippen, keine Augenbrauen. Auf dem rötlich-gelben Fleisch
liegen Verbände. Der 17-jährige Mahmud heult auf, als eine Krankenschwester
die Mullbinden von ihm herunterzupft. Als das vorbei ist, erzählt er heiser
und stockend, wie alles passiert ist.
Zu Hause, unweit vom Zentrum Adschdabijas, saß er mit den Eltern und
Geschwistern vor dem Fernsehen. Das ist das Letzte, woran er sich erinnert.
Erst im Krankenhaus kam er wieder zu sich. Von seiner Familie weiß er
nichts. Gaddafis Truppen hätten keine Unterschiede zwischen zivilen und
militärischen Zielen gemacht. In Adschdabija sei er ihnen oft begegnet.
"Fast alle Schwarzafrikaner, manche sprechen kein Arabisch, die kommen aus
Ghana, Nigeria oder dem Tschad."
Auf der Polizeistation "17. Februar" - benannt nach dem Tag, an dem die
Revolution gegen Gaddafi begann - öffnet Staatsanwalt Mohammal al-Jaroushi
die Tür zu einem Arsenal. Zum Vorschein kommen russische Bazookas,
panzerbrechende Waffen aller Art. Die hätten sie jungen schwarzen Männern
abgenommen, die man vor zwei Tagen am Flughafen von Bengasi aufgegriffen
habe, in teuren Limousinen ohne Nummernschilder. Dann schließt er die Tür
wieder und geht zu seinem gegenüberliegenden Büro. Mit seiner Brille, dem
kurzen, gepflegten Vollbart, der Hose mit der Bügelfalte sieht er wie ein
ganz normaler Jurist aus, nur dass er am Gürtel einen Halfter mit Pistole
trägt. Er kramt in Kisten und Schatullen und wirft Dutzende von Ausweisen
auf den Schreibtisch: "République du Tchad" steht darauf. Andere weisen die
Inhaber als Libyer aus. "Alles von Gaddafis Geheimdienst gefälscht", sagt
al-Jaroushi. "Wir haben die Angaben bei den zuständigen Kreisämtern
überprüft, die Leute sind dort nicht gemeldet."
Im Nebenraum stehen acht Schwarzafrikaner mit dem Gesicht zur Wand.
"Umdrehen", schnauzt der Staatsanwalt. Die Augen der Männer sind
angsterfüllt. Ein neunter wird von einem Soldaten der Aufständischen
hereingeführt, der eine zerknülltes, eingeschweißtes Stück Papier in der
Hand hält. "Das wollte der Typ gerade auf der Toilette vernichten." Die
Karte weist den Inhaber als Mitglied von Gaddafis Revolutionsmiliz aus.
"Woher kommst du", herrscht Jaroushi den Jungen an. "Ich gehöre zu den
Tuareg und bin aus Südlibyen." "Woher hast du den Ausweis? - Schweigen.
"Wie kommst du zu dem teuren Auto, in dem wir dich gefunden haben?" -
"Durch einen Mann, der mich als Taxifahrer anheuern wollte." "Wieso waren
die Waffen darin?" - "Keine Ahnung."
Jaroushi stellt den anderen acht dieselben Fragen und erhält die gleichen
Antworten: Südlibyer auf Arbeitssuche in den Norden gekommen. Männer
stellen Taxis zur Verfügung, Autos ohne Kennzeichen. Wie die Waffen
reinkommen - ein Rätsel. "Lügner!", brüllt Jaroushi dann. "Du bist kein
Libyer, du sprichst nicht mal libysches Arabisch, was ist das für ein
Kauderwelsch!" Draußen warten noch Dutzende auf ihr Verhör. Nach zwanzig
Minuten wird die Szenerie immer schwerer erträglich, die einen sind
ausgeliefert, stottern und rechtfertigen sich, der andere brüllt und kostet
seine Macht aus.
Nach einer halben Stunde willigt Jaroushi ein, Schluss zu machen, und geht
in sein Büro zurück. Mitleid sei fehl am Platz, beteuert er, während er
sich den Schweiß von der Stirn tupft,. "Gestern ist eine Kolonne von
Schwarzafrikanern auf Bengasi zugefahren, in zivilen Pkws, damit die
Nato-Flugzeuge sie nicht bemerken. Die sollten die Stadt zurückerobern."
27 Mar 2011
## AUTOREN
Marc Thörner
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