# taz.de -- Protest gegen Stuttgart 21: Chronik des Schwabenstreichs | |
> Trillerpfeifen, Polizeigewalt und die Geißler-Schlichtung: Die Chronik | |
> des Protests gegen Ministerpräsident Stefan Mappus und die | |
> CDU-Herrschaft. | |
Bild: Die frechen Schwaben: Demonstration gegen das Bahnhofsprojekt "Stuttgart … | |
STUTTGART taz | Auf der Wiese neben dem Landtag sind Absperrgitter der | |
Polizei an Bäume gekettet. Sie gehören wie selbstverständlich zum | |
Stadtbild. Sie stehen dafür, wie sich Stuttgart verändert hat. Innerhalb | |
eines halben Jahres wurde aus Stuttgart die Demohauptstadt Deutschlands. | |
Als am 10. Februar 2010 Stefan Mappus (CDU) als neuer Ministerpräsident | |
seinen Amtseid leistet, erbt er ein Projekt, dessen Idee schon während der | |
Regierungszeit von Lothar Späth Ende der achtziger Jahre geboren und vom | |
Mappus-Vorgänger Günther Oettinger abgesegnet wurde. Doch erst unter Mappus | |
fängt der Protest gegen den Tiefbahnhof Stuttgart 21 zu brodeln an. | |
Anfang Februar 2010 beginnt auch der Bau des Mammutprojekts. "Erst da wurde | |
vielen Bürgern klar, dass der Bahnhof tatsächlich gebaut wird", sagte | |
damals Gerhard Pfeifer vom BUND. Doch auch im Frühjahr 2010 ahnte noch | |
keiner, was folgen sollte: ein Protestsommer, wie ihn Stuttgart noch nie | |
erlebt hat. | |
Es war im Juli, kurz vor einer lange geplanten Großdemonstration im | |
Schlossgarten, als ein Gutachten der Züricher Firma SMA aufhorchen ließ. | |
Die Botschaft: Das Großprojekt hat zentrale Mängel, die Infrastruktur ist | |
knapp dimensioniert, Engpässe und verlängerte Fahrzeiten drohen. | |
Entscheidend aber war die politische Botschaft. Denn das Gutachten war | |
bereits zwei Jahre alt, die Landesregierung hatte es geheimhalten wollen. | |
"Dieses Gutachten war ein wichtiger Motor für den Protest", sagt Simone | |
Lang, seit einem Jahr gegen Stuttgart 21 aktiv ist. | |
Drei Wochen später bekommen die Projektträger erstmals die | |
Mobilisierungskraft der Gegner zu spüren. Als die Bahn am letzten | |
Juli-Wochenende die ersten Bauzäune vor dem Nordflügel aufstellen lässt, | |
kommen sofort Hunderte von Demonstranten zusammen. Von nun an steht | |
Stuttgart Kopf. | |
Der Schauspieler Walter Sittler erfindet den Schwabenstreich und stellt | |
sich täglich um 19 Uhr mit Trillerpfeife eine Minute lang auf die Straße. | |
Bald machen es ihm Tausende Bürger nach. Nicht nur in Stuttgart. Auch in | |
Berlin, Bielefeld - und selbst in New York auf dem Times Square. Es sind | |
Umweltschützer, Grüne, Exil-Schwaben, engagierte Bürger für mehr direkte | |
Demokratie, die sich mit den Stuttgartern solidarisieren. Beim | |
Aktionstraining üben die sonst so anständigen Schwaben, wie Sitzblockade | |
und Baumbesetzung geht. Und alle warten auf den Tag X. | |
Wann rollt der erste Bagger an und reißt den Nordflügel ab? Die | |
Protestbewegung hat ein Alarmsystem eingerichtet. Mit einer Dauermahnwache | |
beobachten die Gegner Tag und Nacht, was an "ihrem" Bahnhof passiert. Über | |
eine Infokette werden alle Gegner per SMS, Telefon und via Internet | |
informiert. Einige Arbeitgeber haben ihren Angestellten sogar vorsorglich | |
protestfrei für den Tag gegeben. | |
Bald trägt die ganze Stadt Buttons an der Jacke. Wer in der U-Bahn | |
denselben Button trägt, kommt ins Gespräch. Wer den Button der Feinde | |
trägt, wird angegiftet. | |
In der Berliner Politik reden auf einmal alle vom Bahnhof. Bundeskanzlerin | |
Angela Merkel (CDU) macht Stuttgart 21 zur Chefsache. Einen Volksentscheid | |
lehnt sie in einer Bundestagsdebatte am 15. September entschieden ab. Dafür | |
gebe es die Landtagswahl. "Die wird genau die Befragung der Bürger über die | |
Zukunft Baden-Württembergs, über Stuttgart 21 und viele andere Projekte | |
sein", sagt sie. Das verstehen die Gegner als Aufforderung. Die "Mappus | |
weg"-Rufe werden noch lauter. | |
Der Ministerpräsident gerät unter Zugzwang. Bereits Ende August hatte er | |
sich mit seinem grünen Kontrahenten Winfried Kretschmann an einen Tisch | |
gesetzt. Beide wollen eine schwarz-grüne Streitschlichtung vorantreiben. | |
Doch die Annäherungsversuche im September scheitern schnell. Die eine Seite | |
spricht von "Berufsdemonstranten", die andere vom "Lügenpack". "Mir ist der | |
Fehdehandschuh hingeworfen worden, ich nehme ihn auf", sagte Mappus am 18. | |
September auf dem Landestag der Jungen Union. | |
Was Politik und Polizei in Hinterzimmern von langer Hand planten, wird ein | |
Desaster für alle Beteiligten. Die ernüchternde Bilanz nach dem brutalen | |
Einsatz von Wasserwerfern, Pfefferspray und Schlagstöcken am 30. September | |
lautet: 25 gefallene Bäume. Mehr als hundert Verletzte. Vier davon schwer | |
am Auge. Dieser brutale Einsatz war eine Zäsur. | |
Es musste politisch etwas passieren. Von den Grünen kommt der Vorschlag, | |
Heiner Geißler die Aufgabe zu übergeben. In seiner Regierungserklärung am | |
6. Oktober nimmt Mappus den Vorschlag auf. Und dann sitzt der ehemalige | |
CDU-Generalsekretär Geißler am 22. Oktober im Mittleren Sitzungssaal des | |
Stuttgarter Rathauses und sagt um 10.04 Uhr: "Meine sehr verehrten Damen | |
und Herren! Wir beginnen jetzt mit der Schlichtung Stuttgart 21." In mehr | |
als 80 Stunden wird das Projekt durchleuchtet. Integraler Taktfahrplan, | |
Mineralquellen, Gipskeuper. Deutschland kann live zusehen, wie sich | |
Bahnmanager, Landesminister und engagierte Bürger auf Augenhöhe duellieren. | |
Am Ende heißt Geißlers Zauberformel "Stuttgart 21 plus": "Einen Kompromiss | |
zwischen Stuttgart 21 und einem Kopfbahnhof 21 kann es nicht geben", sagte | |
er am Abend des 30. November. Stuttgart 21 müsse im Interesse der Menschen | |
"deutlich leistungsfähiger, baulich attraktiver, umweltfreundlicher, | |
behindertenfreundlicher und sicherer" gemacht werden. Heißt: Es wird | |
weitergebaut. | |
Fast gleichzeitig mit dem Ende der Schlichtung beginnt im Landtag der | |
Untersuchungsausschuss zum "schwarzen Donnerstag". Hat Mappus den Einsatz | |
der Wasserwerfer angeordnet? 69 Zeugen werden befragt, 2.250 Aktenseiten | |
durchforstet, Filmmaterial wird gesichtet. Beweise gibt es nicht. Aber | |
Indizien. Die Kette sei in sich schlüssig, sagte am 26. Januar der | |
Grünen-Abgeordnete Uli Sckerl. "Mappus trägt die politische Verantwortung | |
für den Polizeieinsatz." Mappus aber kann am Ende behaupten, sich der | |
Schlichtung und dem Untersuchungsausschuss gestellt zu haben. Das Ergebnis | |
der Schlichtung: weiterbauen. Das des Untersuchungsausschusses: keine | |
Beweise. | |
Heute stellen sich S-21-Gegner immer wieder die Frage, was eigentlich | |
gewesen wäre, wenn es die Schlichtung nicht gegeben hätte. Damals hatten | |
sie das Gefühl, kurz vor der Entthronung von Mappus zu stehen. Dann sprach | |
Heiner Geißler. Und die Luft war raus. | |
Der erste Bauzaun vom Nordflügel steht im Museum, Geißler wurde für sein | |
Schlichtungsverfahren geehrt und die Bürger in Stuttgart sind keine | |
Berufsdemonstranten mehr, sondern Wutbürger. | |
Am Wahlsonntag stehen sie, die "Wutbürger", auf dem Schlossplatz. Sie | |
nennen ihr Public Viewing "Mappschiedsfeier". Sie sehen um 18:17 Uhr die | |
erste Hochrechnung zur Landtagswahl. Grün-Rot hat die Mehrheit. Nach fast | |
58 Jahren CDU-Herrschaft ist das mehr als ein Schwabenstreich. | |
28 Mar 2011 | |
## AUTOREN | |
Nadine Michel | |
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