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# taz.de -- Aus Le Monde diplomatique: Rebellion, Kritik, Aufklärung
> Der antiautoritäre Bildersturm von Tunis bis Bengasi zeigt uns
> überheblichen säkularen Linken, dass Emanzipation und Islam kein
> Widerspruch sind.
Bild: Teil des antiautoritären Bildersturms: Anti-Gaddafi-Demo in Bengasi.
Wo rührt das her, diese Bereitschaft zum Umsturz? Dieses jähe
Außerkraftsetzen von Angst, Hemmungen und lang eingeübter Demut? Die
Befähigung zur Revolte wurde Muslimen nicht zugetraut, gelten sie doch als
Gefangene einer religiösen Gefühls- und Geisteswelt, die mit Unterdrückung
besser harmoniere als mit Freiheitsdrang. Die Regime, die nun stürzen,
passten zum herkömmlichen Bild des Islam weitaus besser als die Umstürzler.
Auch der dumpfe bewaffnete Dschihadismus fügte sich in dieses Raster: eine
reaktionäre Revolte, extrem patriarchalisch. Und nun ein geradezu
anti-autoritärer arabischer Bildersturm. Passen Islam und Emanzipation
womöglich doch zusammen?
Ein befriedigtes "Allahu Akbar" beim Anblick einer brennenden Polizeiwache
- Religion ist bei den jüngsten Erhebungen immer dabei, als Triebkraft,
Ermunterung, Rückversicherung.* Doch sie definiert nicht das Ziel der
Erhebungen. Damit haben sich die neuen Bewegungen von der Dominanz des
islamistischen Diskurses befreit - und doch sind sie in einem
entscheidenden Punkt seine Kinder: in ihrem unbedingten, fast skrupellosen
Verlangen nach Gerechtigkeit. Die Aufständischen haben die Gewissheit, dass
Gott, der Islam und seine Werte auf ihrer Seite stehen beim Sturz eines
Präsidenten - das versteht sich für Muslime, zumal für sunnitische,
keineswegs von selbst.
Über Jahrhunderte haben sich sunnitische Rechtsgelehrte den Kopf zerbrochen
über die Frage, ob einem ungerechten Herrscher zu gehorchen sei. Sie
blieben, wie öfter, auf komplizierte Weise uneins. Erst in den vergangenen
Jahrzehnten hat sich unter dem Einfluss populärer islamistischer Prediger
ein radikalerer Konsens herausgebildet, nicht in den Gelehrtenstuben,
sondern auf der Straße und vor den Fernsehschirmen: Ungerechte Herrschaft
müsse von keinem Muslim anerkannt werden. Diese wirkmächtige Prämisse macht
nun für konservative Bevölkerungsteile all jene sozialen Tabubrüche
verzeihlich, die von den Jungen, Vorpreschenden im Moment der Revolte
begangen werden. "Allah hat uns den Rap gegeben, damit wir uns von Unrecht
befreien können", sagt der 22-jährige tunesische Rapstar Hamada Ben-Amor
("El Général"). Natürlich weiß er, dass er seine Stücke selber schreibt.
Aber so erklärt er die Akzeptanz durch seine religiöse Familie.
## Widersprüchliches Menschenbild
Zugleich haben die Revolten den Geist vieler Muslime aus einer
verhängnisvollen, falschen Alternative befreit: Als könne, wer
berechtigterweise antiwestlich ist, kein Demokrat sein, sondern allenfalls
Islamist. Demokratie ist kein westlicher Wert, sondern genauso ein
arabischer oder muslimischer. Dies auf großer Bühne gesehen zu haben, wird
gegen Islamismus resistenter machen.
Mit seinem Gottesverständnis, seiner Universalität und seinen
Gleichheitsidealen steht der Islam emanzipatorischem Denken nicht
prinzipiell im Wege. Trotzdem wirkt das islamische Menschenbild
widersprüchlich: Der Islam ermuntert zur Freiheit und betont zugleich so
sehr den Gehorsam. Zunächst die freiheitliche Seite: Ein transzendentes
Verständnis von Gott, dessen "Einheit" (tauhid) im Mittelpunkt des Glaubens
steht - keineswegs nur als Absage an die christliche
Dreifaltigkeitskonstruktion, sondern theosophisch verstanden als Einheit
des Universums. Der Mensch ist Teil davon, er hat göttliche Attribute,
braucht keine Popen für sein Heil, liegt nicht von Erbsünde verschmutzt im
Staub eines irdischen Jammertals. Das häufige Gebet soll helfen, dessen
gegenwärtig zu sein, sich von kleinlichen Abhängigkeiten zu lösen und -
Allahu Akbar, Gott ist größer als alles - innere Freiheit zu gewinnen. So
klar, so einfach, so schön ist der Islam.
Doch gleich daneben Enge und Kleingeistigkeit: Wie ein Kind, das sich
ständig selbst gefährdet, wird der Gläubige eingehegt von Regeln, umstellt
von Verboten. Mit der Erlahmung kreativen religiösen Denkens im Laufe der
Jahrhunderte wirkte die Religion immer mehr wie eine Anleitung zur
Unmündigkeit. So entstand das Bild vom Muslim als unfreiem Menschen: der
sich keine Entscheidungsfreiheit zubilligt, kein Selfmanagement zutraut;
der nicht neben einem Mädchen sitzen darf, weil ihn sonst die Begierde
übermannt. Ein Mensch, der sich nicht erproben, sich nicht korrigieren
kann.
Vor allem in der jungen Generation, aufgeputscht von Gerechtigkeitsidealen
und eingesperrt in patriarchale Strukturen, hat dieser Zwiespalt enormen
psychischen Sprengstoff produziert. Die Aufstände könnten nun der Beginn
einer neuen Selbstermächtigung der Individuen sein, die Befreiung aus einer
auch selbst verschuldeten Unmündigkeit. Weniger in Libyen, doch in
Tunesien, Ägypten, Jemen und Bahrain gibt die Rolle der Zivilgesellschaft
Anlass zu dieser Hoffnung. Wer morgens zur Revolte geht, kommt abends
verändert nach Hause zurück. Im Aufstand beteten Frauen neben Männern,
nicht hinter ihnen. Noch weiß niemand, was aus all dem folgt.
## Die FDP unter den Religionen
Revolte und Fatalismus: Zu jeder Unterdrückung gehört ein Selbstbild des
Unterdrückten. Dass der Muselmane besonders schicksalsergeben sei, ist
nicht nur ein westliches Stereotyp. Während des Osmanischen Reichs und der
nachfolgenden kolonialen Besatzungen nahm Untertanenbewusstsein Zuflucht
bei einem irrigen, keineswegs genuin islamischen Begriff göttlicher
Vorherbestimmung: kismet, nicht zu ändern. "Herabwürdigend" sei dieser
Fatalismus, klagte der indische Philosoph Muhammad Iqbal schon 1930; Iqbal,
der als geistiger Begründer Pakistans gilt, war mit Sigmund Freud vertraut.
Er rief die Muslime auf, die Rolle der Persönlichkeit wieder zu entdecken;
der Islam wolle "die Macht, frei zu handeln, als konstanten und
uneingeschränkten Faktor im Leben des Ego".
Wenn maghrebinische Blogger heute jubeln: "Es lebe die Revolution, es lebe
die Freiheit, es lebe der Islam", erinnert das ein wenig an Impulse im Iran
der 1970er Jahre. Ali Schariati, ein junger Soziologe, an der Sorbonne
promoviert, hatte damals immensen Einfluss auf die gebildete Jugend; ohne
ihn wäre die spätere Revolution nicht denkbar gewesen. Schariati verlangte
den radikalen Ausstieg aus der Selbstknechtung: Schluss mit religiöser
Unterwürfigkeit! Erlösung nicht durch rituelle Selbstgeißelung, sondern
durch Kampf, Kritik, Aufklärung. Schariati hatte Sartre gelesen, übersetzte
Frantz Fanon ins Persische. Ein Muslim des 20. Jahrhunderts, schrieb er,
atme intellektuell "innerhalb des Dreiecks Sozialismus, Existenzialismus,
Islam". Die Revoltierenden von heute springen kürzer, aber sie springen mit
einem ähnlichen Selbstbewusstsein: Islam und Freiheit passen zusammen.
Ungeachtet der jeweiligen Doktrinen ist die Geschichte des Islam reich an
Aufständen. Sie beginnt bereits kurz nach dem Tod des Propheten mit der
Rebellion derer, die später Schiiten genannt werden: gegen einen ihrer
Ansicht nach unrechtmäßigen Anführer der Gemeinschaft. Im Zeitraffer
erscheint die islamische Sozialgeschichte ruhelos, selbstquälerisch,
aufrührerisch - und dabei sisyphosgleich immer als ein Streben nach
Ordnung, nach einer geordneten Gemeinschaft. Fitna, das ist im Arabischen
der Bürgerkrieg, der Bruderzwist, aber auch der Unfrieden, den
verführerische Frauen anrichten könnten.
## Feudale Willkür
Legendär einige große antikoloniale Revolten. Der Mahdi-Aufstand ab 1881
gegen die britisch-ägyptische Herrschaft im Sudan gilt als erste
erfolgreiche Erhebung auf afrikanischem Boden. Ihr Anführer Muhammad Ahmad
hatte sich zum Mahdi, zum religiösen Erlöser erklärt. Die Rebellion währte
18 Jahre, führte zur Eroberung weiter Landesteile. Ungefähr zur selben
Zeit, von ganz anderer Art, die Tabakrevolte in Iran: Der damalige Schah
hatte den Briten das Monopol im iranischen Tabakhandel überlassen;
schiitische Geistliche riefen dazu auf, den Tabakkonsum einzustellen - die
erste Fatwa im Dienste antiimperialistischer Verbrauchermacht. Der Umsatz
brach ein, den Briten wurde die Lizenz wieder entzogen.
Im muslimischen Afrika richten sich ab dem späten 17. Jahrhundert
Dschihad-Bewegungen gegen feudale Willkür und die mangelnde islamische
Moral der Herrscher. Die Forderung nach Gerechtigkeit mit religiösem
Purismus zu verbinden, ist kein so neues Phänomen. In Ostafrika wird im
frühen 20. Jahrhundert die Konversion zum Islam ein Akt passiven
Widerstands gegen die Kolonialherrschaft. In den folgenden Jahrzehnten
bekommt der Islam unter Schwarzen in den USA eine besondere Aura: als
Bezugspunkt der radikalsten Bürgerrechtler. Malcolm X schließt sich 1948 im
Gefängnis der Gruppe "Nation of Islam" an. Gegen Martin Luther Kings
christlich-gewaltlosen Ansatz propagierte er die Selbstbehauptung der
Schwarzen mit allen Mitteln. "Immer wenn ich eine Religion sehe, die mich
nicht für mein Volk kämpfen lassen will, sage ich: zur Hölle mit dieser
Religion. Deshalb bin ich ein Muslim."
Die antirassistischen Prinzipien des Islam wurden vielfach geschändet,
zumal von Arabern: Jahrhundertelang handelten sie mit schwarzen Sklaven.
Dennoch haben die islamischen Gleichheits- und Gerechtigkeitsideale für die
meisten Muslime nichts an Strahlkraft verloren, und man kann unter
erbärmlichsten Umständen auf einen armen Mann treffen, der leuchtenden
Auges den Prophetensatz zitiert, die Menschen seien gleich "wie die Zähne
eines Kamms".
Freiheit und Gehorsam, Gleichheit und Differenz, das sind die Dichotomien
des Islam. Die Mekka-Pilger, ledig aller Attribute von Status und Herkunft,
baden in einem Meer der Gleichheit - das reale Saudi-Arabien ringsum ist
eine extrem hierarchische Gesellschaft, voller Verachtung für seine acht
Millionen Gastarbeiter. Der Islam ist entstanden als eine Religion der
Händler, er billigt das Reichwerden, liebt Unternehmertum und Mittelstand,
er ist sozusagen die FDP unter den Religionen, und bei den ägyptischen
Muslimbrüdern sind nicht zufällig viele Ärzte. Sie werden sich nun mühen
müssen, für die sozialen Forderungen des Volksaufstands Antworten zu
finden, die über ihre Wohlfahrtsideologie hinausgehen. In der Vergangenheit
hatten die Muslimbrüder den Slogan vom "Sozialismus des Islam" geprägt: Er
sei in der Religion bereits eingebaut, mit der Pflicht zu Almosen und
Abgaben; so werde Harmonie zwischen den Klassen erreicht.
## Düstere Alltäglichkeit
Algerien hatte bereits 1988 seine Jugendrevolte, noch ohne Facebook, doch
die Ziele waren nicht so sehr verschieden von den heutigen Aufständen. Die
Islamisten gerierten sich damals als Träger des sozialen Protests und
betrogen dann bitter alle Hoffnungen. Unter algerischen Jugendlichen, die
heute allem und jedem misstrauen, haben Versuche der Selbstverbrennung eine
düstere Alltäglichkeit. Die Revolte sei die Weigerung, "als Ding behandelt
zu werden", schrieb Albert Camus, in Algerien geboren. Für diese jungen
Algerier ist der Akt der Selbstzerstörung anscheinend die einzige
Möglichkeit, sich für einen Moment als autonomes Subjekt zu empfinden.
In der europäischen Linken sind praktizierende Muslime selten. Außerhalb
Europas stehen sie jedoch mit größter Selbstverständlichkeit in sozialen
Kämpfen. So war es schon in Ägypten unter Mubarak: Die Facebook-Gruppe "6.
April", die zum Tahrirplatz mobilisierte, erinnerte mit ihrem Namen an das
Datum eines großen Textilarbeiterstreiks in der Stadt Mahalla. In Mali
kämpfen Arbeiter durch monatelange Besetzungen gegen Privatisierungen. Im
Senegal erheben sich seit zwei Jahren in der Hauptstadt Dakar regelmäßig
ganze Stadtviertel gegen die miserable Stromversorgung. Imame, früher im
Senegal eher herrschaftstreu, setzten sich an die Spitze einer
Demonstration.
Und natürlich gibt es Muslime, die für eine andere Weltordnung eintreten -
bloß werden solche Aktivisten durch den hiesigen Blick meist ihres
Muslimseins entkleidet: Sie sind "Afrikaner", Vertreter des Südens. Der
überhebliche Säkularismus der Linken sortiert sich gern einen Islam
zurecht, der mit Fortschritt nicht kompatibel ist. Die Revolten in
Nordafrika haben diese Stereotype beschämt.
* Dieser Text befasst sich nur mit dem Islam. Natürlich spielen auch
christliche Bevölkerungsteile, zumal in Ägypten, bei den Erhebungen eine
Rolle.
aus: [1][Le Monde diplomatique] vom 11.3.2011, Seite 3
1 Apr 2011
## LINKS
[1] http://www.monde-diplomatique.de
## AUTOREN
Charlotte Wiedemann
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