# taz.de -- Neues Konzept zum Atomausstieg: Ab 2020 geht es weltweit ohne | |
> Das Projekt des globalen Atomausstiegs ließe sich nach Ansicht von | |
> Forschern des Fraunhofer Instituts bis 2020 realisieren. Ab 2050 könne | |
> man ohne Kohle und Stahl auskommen. | |
Bild: Freizeitspaß ab 2020 unverstrahlt möglich: Jogger vor dem kalifornische… | |
Keine Atomkraftwerke mehr, Strom zu 100 Prozent aus Wind und Sonne, | |
trotzdem freier Blick aus dem eigenen Garten bis zu den Alpen. So mag sich | |
mancher Grüner in den beschaulichen Kleinstädten der Schwäbischen Alb die | |
Zukunft vorstellen. Aber auch was die Energieversorgung betrifft, ist die | |
beste aller denkbaren Welten eine Utopie. | |
Der das sagt, heißt Claus Leggewie, ist Kulturwissenschaftler und Berater | |
der Bundesregierung. Er und seine Kollegen vom Wissenschaftlichen Beirat | |
für Globale Umweltveränderungen überreichen der Regierung am Donnerstag in | |
Berlin ein Gutachten. Der darin enthaltene zentrale Rat ist dieser: | |
Komplettausstieg aus der nuklear-fossilen Energieproduktion, sobald wie | |
möglich. Vollversorgung mit erneuerbarer Energie ohne Kohle, Öl und | |
Atomenergie - auch in Deutschland sei das bis 2050 möglich, wenn man es | |
wolle. Das Projekt nennen die Wissenschaftler "Gesellschaftsvertrag für | |
eine Große Transformation". Gesellschaftsvertrag - das ist Leggewies | |
Stichwort. Er plädiert für die Erfindung eines neuen "demokratischen | |
Tauschgeschäfts: Partizipation gegen Selbstbeschränkung". Damit der Umbau | |
des Energiesystems gelinge, solle die Politik die Bürger viel umfassender | |
und früher als heute in die Planung einbeziehen. Als Gegenleistung für | |
diesen Zuwachs an Mitwirkung müssten die Menschen aber "eine | |
Selbstbeschränkung ihrer Aufschiebe- und Verweigerungsmöglichkeiten" | |
akzeptieren, so Leggewie. | |
Wie darf man sich das praktisch vorstellen? Lange bevor der grüne | |
Ministerpräsident von Baden-Württemberg die Schwäbische Alb mit Windrädern | |
zubauen und mit Stromtrassen untertunneln lässt, muss er den Städten und | |
Landkreisen ein umfassendes Gesamtkonzept mit echten Wahlmöglichkeiten | |
präsentieren. Dann darf ausgiebig diskutiert, verworfen und umgeplant | |
werden. Neue demokratische Institutionen wie Ombudsleute und | |
Zukunftskammern helfen den Bürgern dabei. "Irgendwann muss aber auch | |
Schluss sein, dann wird gebaut", sagt Leggewie. Wer sich dann immer noch | |
gegen die Windräder am Horizont wehrt, kann sich nicht mehr legitimerweise | |
auf sein Widerstandsrecht berufen. | |
Während Leggewie die politikwissenschaftliche Seite des Gutachtens | |
bearbeitete, war Jürgen Schmid vom Fraunhofer-Institut für Windenergie und | |
Energiesysteme (Iwes) mit der Technik beschäftigt. "Wir können bis 2020 | |
ohne Probleme vollständig aus der Atomenergie aussteigen", sagt Schmid zur | |
Debatte über den Ausstieg in Deutschland. Mehr noch: Sogar den Abschied vom | |
nuklear-fossilen Energiesystem hält der Forscher bis 2050 für möglich. | |
Grundsätzlich gilt dieses Plädoyer auch für die weltweite | |
Energieproduktion. | |
## Leistung der 17 deutschen AKWs schon heute überflüssig | |
Der relativ kurzfristige Atomausstieg in Deutschland bis 2020 lässt sich | |
laut Jürgen Schmid so bewerkstelligen: Vordringlich sei es, die Windenergie | |
auf der Nord- und Ostsee beschleunigt auszubauen. Außerdem müsse man die | |
alten Windparks an Land mit leistungsstärkeren Anlagen aufrüsten und | |
zusätzliche Standorte für Windmühlen ausweisen. Hinzu kommt, dass die | |
Leistung der 17 deutschen Atomkraftwerke schon heute rechnerisch | |
überflüssig ist. Der Strombedarf Deutschlands kann auch ohne sie gedeckt | |
werden. | |
Insgesamt bringt Iwes-Forscher Schmid den anstehenden Strukturwandel so auf | |
den Punkt: "Am Anfang der Zivilisation haben die Menschen das Feuer | |
gebändigt. Nun müssen wir das Feuer bannen." Denn in vielen | |
Verbrennungsprozessen, die auf Uran, Kohle, Öl und Gas basieren, lässt sich | |
am Ende nur ein Teil der Energie nutzen, die in den verfeuerten Ressourcen | |
gespeichert war. Atomkraftwerke haben beispielsweise einen Wirkungsgrad von | |
nur 34 Prozent - zwei Drittel der vorhandenen Energie werden an die Umwelt | |
abgegeben. Große Kohle-, Gas- und Ölkraftwerke nutzen ihren Brennstoff zu | |
30 bis 50 Prozent. Statt dieser Verschwendung rät der Beirat, sie durch | |
Wind- und Solarkraftwerke zu ersetzen. | |
Der in Wind- und Solarkraftwerken erzeugte erneuerbare Strom könnte künftig | |
das Rückgrat der Energieversorgung darstellen. Weil der Wind allerdings | |
unregelmäßig bläst und die Sonne nachts nicht scheint, muss man neue | |
Speichertechnologien entwickeln, um die Energie aufzubewahren. Die besten | |
Möglichkeiten dafür sehen die Forscher in "erneuerbarem Gas". Mittels der | |
Elektrolyse würde man mit Strom aus Wasser Wasserstoff gewinnen und diesen | |
in Salzkavernen unter der Erde speichern. Das chemische Sabatierverfahren, | |
eine Reaktion von Wasserstoff mit Kohlendioxid, liefert später erneuerbares | |
Methan. Dieses wiederum würde in die bestehenden Gasnetze eingespeist und | |
in Wohngebäuden und Industrieanlagen dezentrale Blockheizkraftwerke | |
antreiben, die gleichzeitig Heizwärme und Strom liefern. | |
Klingt gut. Aber hat der globale Wechsel des Energiesystems nur Vorteile? | |
Nein, meint Regierungsberater Leggewie. Selbst die schönste Energiewende | |
bringe Kosten mit sich. Leggewie: "Das ist keine reine Win-Win-Situation. | |
Unser heutiger Lebenstil steht zur Disposition." | |
Darauf weist auch Ökonom Manuel Frondel vom Rheinisch-Westfälischen | |
Institut für Wirtschaftsforschung in Essen hin. Wenn man beispielsweise | |
Strom mithilfe von Wasserstoff speichere, gehe im Laufe der Umwandlungen | |
rund die Hälfte der Energie verloren. Die Kosten für die so jederzeit | |
verfügbare Elektrizität müssten also mindestens "das Doppelte der ohnehin | |
hohen Kosten der erneuerbaren Energien betragen", sagt Manuel Frondel. | |
7 Apr 2011 | |
## AUTOREN | |
Hannes Koch | |
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