# taz.de -- Flüchtlinge in Italien: Ein neuer "eiserner Vorhang" | |
> Nachdem Frankreich den Zugverkehr aus Italien sperren ließ, hat der | |
> Streit einen neuen Höhepunkt erreicht. Frankreich hat dabei ein deutsches | |
> Bundesland hinter sich. | |
Bild: Keiner will sie haben: Flüchtlinge aus Tunesien auf Lampedusa. | |
ROM taz | Am Montag rollten die Züge wieder vom italienischen Ventimiglia | |
über die französische Grenze Richtung Menton, und nichts mehr erinnerte an | |
die Totalblockade vom Vortag, als Frankreichs Behörden die völlige | |
[1][Einstellung des grenzüberschreitenden Zugverkehrs erzwungen] und | |
zugleich zwei Straßen-Grenzübergänge mit einem Großaufgebot an | |
Bereitschaftspolizei abgeriegelt hatten. | |
Das Ziel der Franzosen: Sie wollten hunderte Tunesier und mit ihnen | |
solidarische italienische Demonstranten an der Einreise hindern. Das | |
Resultat: Die Spannungen zwischen Paris und Rom über den Umgang mit den | |
tunesischen Bootsflüchtlingen haben einen neuen Höhepunkt erreicht. | |
Ein "eiserner Vorhang" sei da plötzlich für mehrere Stunden mitten in | |
Europa wieder hochgezogen worden, merkte die linksliberale Tageszeitung La | |
Repubblica an – ein eiserner Vorhang allerdings, der nach ersten Meldungen | |
aus Brüssel völlig EU-konform gewesen sein soll. Die italienische | |
Nachrichtenagentur ANSA jedenfalls berichtete am Montag, "aus Kreisen der | |
EU-Kommission" sei zu hören, dass ein Staat des Schengen-Raums durchaus | |
seine Grenze dichtmachen dürfe, wenn es dafür "Gründe der öffentlichen | |
Ordnung" gebe. | |
Eben jene Gründe hatte Frankreich geltend gemacht – auch wenn die | |
öffentliche Ordnung Frankreichs durch gerade einmal 100 Demonstranten aus | |
den radikal linken Autonomen Zentren Genuas und anderer Städte, die | |
zusammen mit einigen hundert Tunesiern im "Zug der Würde" nach Nizza fahren | |
wollten, wohl kaum ins Wanken geraten wäre. Doch Frankreich ging es wohl | |
auch um anderes – darum, ein paar Linksautonome aus Italien als Vorwand | |
dazu zu benutzen, um die stramm rechte Regierung in Rom zu treffen. | |
Stundenlang saßen nicht bloß hunderte Tunesier und die mit ihnen | |
solidarischen Demonstranten in Ventimiglia fest, sondern auch tausende | |
Wochenendausflügler, während auf den Anzeigetafeln für jeden Zug mit | |
französischem Fahrtziel die Mitteilung "entfällt" aufleuchtete. | |
## Der Stöpsel Ventimiglia | |
Noch am Sonntagmorgen nämlich hatten Italiens Zeitungen mit der Meldung | |
aufgemacht, Frankreich lasse jetzt die Einreise der in Italien mit | |
Aufenthaltsgenehmigungen und Visa ausgestatteten Tunesier zu; die ersten 20 | |
von ihnen seien ohne Probleme eingereist. Doch dann kam mit der | |
Grenzblockade die kalte Dusche für die Regierung Berlusconi. | |
"Den Wasserhahn der Wanne zudrehen und zugleich unten den Stöpsel | |
rausziehen", so hatte der Minister und Chef der | |
rechtspopulistisch-fremdenfeindlichen Lega Nord, Umberto Bossi, das in Rom | |
verfolgte Konzept zusammengefasst: Nachdem Tunesien die Rücknahme aller | |
seiner nach dem 5. April nach Italien gelangten Bürger zugesagt hatte, | |
sollten die vorher in Lampedusa Angekommenen nun eine sechsmonatige | |
Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen erhalten und dann die | |
Badewanne Italien durch den Stöpsel Ventimiglia Richtung Paris oder | |
Marseille verlassen. | |
Umso größer ist jetzt die Aufregung, weil Frankreich weiterhin auf dem | |
Standpunkt beharrt, Italiens Position sei nicht Schengen-konform. Italiens | |
Außenminister Franco Frattini schickte seinen Botschafter in Paris zum | |
förmlichen Protest vor; zugleich tönte er, die Grenzsperrung sei "illegitim | |
und eine offene Verletzung der allgemeinen europäischen Prinzipien". Ins | |
gleiche Horn stößt Innenminister Roberto Maroni, der sich offen hinter den | |
Boykottaufruf seiner Lega Nord gegen französische Waren stellte: er sei | |
"eine kräftige und legitime Reaktion gegen eine ungerechte und irrige | |
Position." | |
## Bayern auf Seiten Frankreichs | |
Und auch unter Italiens Bürgern hinterlässt der Konflikt Spuren. Nach einer | |
vom Corriere della Sera veröffentlichten Umfrage ist das Vertrauen in die | |
EU von 60 Prozent im Januar auf jetzt nur noch 42 Prozent gefallen; und 72 | |
Prozent meinen, die EU verhalte sich in der Flüchtlingsfrage falsch, weil | |
sie Italien allein lasse. Frankreich jedoch zeigt sich unbeweglich. | |
Innenminister Claude Guéant erklärte, seine Behörden hätten sich "bis aufs | |
Komma genau" an die Schengen-Vorschriften gehalten. Auf seiner Seite weiß | |
er zumindest die Politiker der Berliner Regierungskoalition. | |
So beschwerte sich Bayerns Innenminister Joachim Herrmann, Italiens Haltung | |
sei "eine Zumutung", da sie "ganz klar gegen die Grundsätze der | |
Partnerschaft in Europa" verstoße – und kündigte schon einmal an, "im | |
Rahmen unserer Schleierfahndung in Südbayern" auf die [2][Suche nach aus | |
Italien eingereisten Tunesiern] gehen zu wollen. | |
18 Apr 2011 | |
## LINKS | |
[1] /1/politik/europa/artikel/1/frankreich-sperrt-sich/ | |
[2] /1/politik/deutschland/artikel/1/schleierfahndung-gegen-nordafrikaner/ | |
## AUTOREN | |
Michael Braun | |
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abgeschoben. |