Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Essay über das indigene Volk der Krenak: Quacks Rückkehr
> Über 100.000 Menschen zählte das Volk der Krenak vor der europäischen
> Eroberung Südamerikas. Heute sind es rund 600. Doch es gibt wieder Anlass
> zur Hoffnung.
Bild: Sojafabrik in der brasilianischen Provinz Minas Gerais, der Heimat der Kr…
Alle Menschen in Nord-, Mittel- und Südamerika, die indigene Wurzeln haben
– und dazu gehöre ich –, teilen die Hoffnung, dass die "Zeit der
Finsternis", wie Stammesälteste der Cherokee in den sechziger Jahren
sagten, sich verziehen möge. Die finstere Zeit begann, als die Ureinwohner
Amerikas mit Europäern in Kontakt kamen, und sie hält bis heute an. Wir
möchten nicht die Vergangenheit zurückhaben, aber wir möchten Freiheit und
Zukunft in unseren eigenen, von uns geliebten Ländern.
Wir Ureinwohner Amerikas haben dem Fortschritt nie im Wege gestanden. Das
wird uns oft vorgeworfen. Aber es braucht diesen Vorwurf nicht, um damit
die simple Tatsache zu verschleiern, dass die europäischen Kolonialisten
entschieden hatten, dass unsere Existenz schlicht unnütz sei.
Wenn wir uns gegen die Vernichtungsfeldzüge wehrten, wurde dieser
Widerstand selbst als Rechtfertigung für weitere Vernichtung genommen. Und
wenn wir dagegen protestierten, dass wir unseres Landes, das uns rechtlich
und moralisch gehörte, und unserer natürlichen Lebensgrundlagen beraubt
wurden, wurden wir bestraft.
All das ist vermutlich bekannt, aber es erscheint mir wichtig, es noch
einmal zu sagen, da es den Rahmen bildet für das, was ich erzählen möchte
über die Krenak, ein indigenes Volk in Brasilien. Wie viele Menschen vor
der Eroberung Südamerikas dazuzählten, ist nicht bekannt. Über
hunderttausend jedenfalls. Heute sind es sechshundert.
## Portugiesische Abenteurer die skrupellosesten
Die portugiesischen Abenteurer, die nach Brasilien kamen, waren von allen
europäischen Siedlern die skrupellosesten und grausamsten. Die Verfolgung
der Krenak setzte in der Eroberungsgeschichte sehr früh ein. Die Krenak
wurden gegen Süden und landeinwärts vertrieben in jenes Gebiet, das "Minas
Gerais" heißt – eine Gegend, reich an mineralischen Bodenschätzen. Dort war
der Widerstand der Krenak gegen die Eroberer immerhin so effektiv, dass
sie, wenn auch mehr schlecht als recht, noch ein paar Jahrhunderte auf
ihrem Land leben konnten.
Im Jahr 1809 allerdings erklärte Portugals König Johannes VI. die totale
Vernichtung der Krenak zum "gerechten Krieg". Er rechtfertigte ihn mit
einer weiteren falschen Behauptung, und zwar der, dass die Krenak
Kannibalen seien. Die Folgen für die Krenak waren furchtbar: Für sie tat
sich die Hölle auf.
Wir reden gerne über etwas, das wir "menschlichen Geist" nennen. Wir
stellen es uns als etwas Mitfühlendes, Barmherziges, fast Edles vor. Indem
wir darüber sprechen, versuchen wir, es uns herbeizurufen, obwohl unsere
Erfahrungen uns lehren, dass der Geist der Grausamkeit und Habgier viel
realer ist. Wir können nur annehmen, dass die Krenak "menschlichen Geist"
bewiesen in ihrer Fähigkeit, sich diesem Krieg gegen sie zu stellen. Sie
haben nicht gewonnen, aber überlebt.
Der deutsche Prinz Maximilian zu Wied-Neuwied, ein Entdecker und
Naturforscher, der von 1782 bis 1867 lebte, besuchte die Krenak im Jahr
1817. Als er zurück nach Wied fuhr, nahm er einen Krenak, der Quack hieß,
mit nach Deutschland.
Bis jetzt ist wenig bekannt über Quacks Leben in Deutschland. Wir wissen
nicht, ob er geheiratet hat, ob er Kinder hatte, ob Nachkommen von ihm
vielleicht sogar bis heute den Genpool von Wied auffrischen. Wir wissen,
dass er dort starb und dass sein Körper im anthropologischen Museum der
Universität Bonn ausgestellt wurde.
## Wörterbuch Krenak-Deutsch
Fast ein Jahrhundert später besuchte ein weiterer deutscher Reisender, der
Apotheker Bruno Rudolph, die Krenak. Er blieb lange genug, um ihre Sprache
zu lernen. 1909 veröffentlichte er ein Wörterbuch Krenak-Deutsch.
Schaut man sich die Geschichte Südamerikas im 20. Jahrhundert an, sieht man
kurze Hoffnungs- und Aufklärungsphasen und lange, erstickende Perioden der
Unterdrückung, die meist im Namen des Kalten Krieges geführt wurden und
durch die USA und Europa Unterstützung erfuhren. Wobei der Kalte Krieg oft
nur eine Erklärung war, hinter der sich ökonomische Interessen versteckten.
Die 1961 in São Paulo geborene Maria Thereza Alves verließ mit ihrer
Familie Brasilien, als das rechtsgerichtete Militär die Herrschaft
übernahm. Später studierte sie Kunst in New York, ging Mitte der achtziger
Jahre zurück nach Brasilien und gründete dort mit Freunden die Grüne
Partei. In New York arbeitete sie für die amerikanische Indigenenbewegung
bei den Vereinten Nationen. Derzeit lebt sie, wie ich auch, in Berlin.
Die von 1964 bis 1985 in Brasilien herrschenden Militärs gingen erneut
gegen die noch verbliebenen Krenak vor. Sie konnten das ungestraft tun und
ohne internationale Proteste fürchten zu müssen, denn sie wussten sich von
der internationalen Staatengemeinschaft legitimiert.
Eines Morgens im Jahr 1970 kamen Soldaten zu den Krenak und verhafteten
alle – Männer, Frauen und Kinder. Es war, als wäre der "gerechte Krieg" von
König Johannes VI. mit frischer Bösartigkeit neu entflammt. Viele wurden –
zusammen mit anderen indianischen Gruppen – in ein Gefängnislager gesteckt,
das als Foltercamp bekannt war. Für jedes angebliche Vergehen, etwa wenn
sie in Krenak miteinander sprachen, wurden sie schwer bestraft. Andere
Krenak wurden deportiert in Gegenden, die weit entfernt von ihrer Heimat
waren. Wieder andere konnten fliehen und sich verstecken. Die
brasilianische Regierung wollte, dass die Krenak ein für alle Mal
ausgelöscht werden.
Das Blatt wendete sich nur langsam. Mit der Zeit lockerte die
Militärdiktatur die Faust, mit der sie das Land im Griff hielt. Einzeln
oder in kleinen Familienverbänden zogen Krenaks wieder zurück in ihre
Heimat. Nachdem Lula da Silva, der Kandidat der Arbeiterpartei, 2003
brasilianischer Präsident wurde, verabschiedete er sofort Gesetze, die
Schwarzen und Indianern Zugang zu Bildung gewährleisteten.
## Erste Indigene mit Uniabschluss
Waldemar Krenak, der die Internierung im Militärlager überlebt hatte, wurde
der Führer der neuen, sich wieder langsam entwickelnden Krenak-Gemeinde.
Seine drei Kinder Shirley, Douglas und Tam lehrte er, Verantwortung zu
übernehmen.
Shirley Krenak wurde die erste Indigene im brasilianischen Bundesstaat
Minas Gerais, die einen Universitätsabschluss machte. Aber die Krenak
hatten neue – oder doch alte – Probleme. Die Minengesellschaft Vale do Rio
Doce kontrollierte das Land der Krenak in Minas Gerais. Sie war nicht
bereit, Gebiete an die Nachkommen der Ureinwohner zurückzugeben. Waldemar,
Shirley und Douglas führten den Kampf um die Rückgabe des Landes an und
gewannen zumindest partiell. Man kann sicher sein, dass weitere juristische
und soziale Auseinandersetzungen auf sie zukommen werden.
Wegen der vielen Jahre, in denen die Krenak Massaker und Genozid erlebten
und wegen der langen Jahre, in denen die Krenak im Exil versprengt waren,
begannen die jungen Nachkommen der Ureinwohner, ihre ureigene Sprache zu
verlernen.
Als Maria Thereza Alves sie 2009 besuchte, gab ihr Tam Krenak seine Kopie
von Rudolphs Wörterbuch Krenak-Deutsch, das er aus dem Internet
heruntergeladen hatte. Tam fragte sie, ob sie das Deutsche ins
Portugiesische übersetzen könne. Denn kein Krenak verstand Deutsch, aber
sie verstanden, dass das Wörterbuch der Schlüssel zu einer lange
verschlossenen Tür war.
## Offizieller Repräsentant der Krenak
Maria Thereza Alves kontaktierte das Goethe-Institut und Jürgen Bock von
der Kunstschule Maumaus in Lissabon. Ein Jahr später lag das Wörterbuch
Krenak-Portugiesisch vor. Alves wurde gefragt, ob sie es auf der São Paulo
Biennale zeigen könnte, was sie mit Zustimmung der Krenak tat. Für jeden
Krenak wird auch eine persönliche Kopie des Wörterbuchs angefertigt.
Waldemar Krenak erlebte das alles nicht mehr, er starb an einem
Herzinfarkt. Die brasilianische Regierung hatte ihn zum offiziellen
Repräsentanten der Krenak ernannt, um so seinen Kampf zu würdigen. Es war
eine schwierige Aufgabe.
Shirley Krenak und Maria Thereza Alves begannen, die Geschichte von Quack,
dem Krenak, der nach Deutschland gebracht wurde, zu erforschen. Letztes
Jahr wurde Shirley – als nächste Verwandte von Quack – von der deutschen
Regierung kontaktiert, da sie beabsichtigt, am 13. Mai 2011 die Gebeine von
Quack zurückzugeben. Shirley und ihre Familienangehörigen wollen das Haus
des Prinzen zu Wied-Neuwied im Rheinland besuchen. Shirley allerdings muss
den Besuch verschieben, da sie ein Baby erwartet.
22 Apr 2011
## AUTOREN
Jimmie Durham
## TAGS
USA
## ARTIKEL ZUM THEMA
Die ersten Kolonisten in den USA: Menschenfleisch zum Überleben
Die ersten europäischen Siedlungsversuche in Amerika überlebte kaum ein
Kolonist. Im Hungerwinter 1609 warfen sie offenbar alle kulturellen Normen
über Bord.
Die Welt der Pirahã-Indianer: Ein Leben ohne Angst und Sorgen
Die Pirahã-Indianer kennen weder Gott noch Götter. Auch keinen Besitz oder
absolute Werte. Abseits der modernen Welt führen sie ihr unbeschwertes
Dasein.
Die bolivianische Utopie vom guten Leben: Der geplatzte Traum
In Bolivien haben Bauern und Arbeiter einen neuen Staat gegründet. Allen
sollte es besser gehen. Ein großartiger Plan, der nicht funktioniert.
Warum?
Alternativ-Nobelpreis für Erwin Kräutler: Einheit von Mensch und Natur
Der austrobrasilianische Bischof Erwin Kräutler kämpft gegen die Ausbeutung
der Menschen und engagiert sich für die Indigenen. Ihr Denken prägte seine
Theologie der "Mit-Welt".
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.