# taz.de -- Die bolivianische Utopie vom guten Leben: Der geplatzte Traum | |
> In Bolivien haben Bauern und Arbeiter einen neuen Staat gegründet. Allen | |
> sollte es besser gehen. Ein großartiger Plan, der nicht funktioniert. | |
> Warum? | |
Bild: Der Präsident und sein Außenminister: Evo Morales (l.) und David Choque… | |
Auch einer wie David Choquehuanca war mal ein Kind. Ganz oben war er schon | |
damals. So weit oben, dass Fremden, die in das ärmliche Andendorf am | |
Titicacasee kamen, die Luft wegblieb. Dreitausendachthundert Höhenmeter - | |
das hält ein verweichlichter Tieflandmensch nur schlecht aus. | |
Womöglich hat das Kind David damals, in den siebziger Jahren, für sich | |
entschieden, das Obensein nicht mehr herzugeben in seinem Leben. Seine | |
Familie war arm, ja. Aber er konnte sich etwas Besseres vorstellen als das, | |
was die Politik für einen Indigenen wie ihn vorsah: arm zu leben und arm zu | |
sterben und bis dahin für einen Hungerlohn zu schuften. | |
Er mag dort am Titicaca-See gestanden und gedacht haben: So weit oben will | |
ich es - nur besser. Er hat es geschafft. | |
Heute ist David Choquehuanca der Außenminister Boliviens. Die Bürger des | |
ärmsten Landes Lateinamerikas haben ihn vor fünf Jahren an die Macht | |
gebracht. | |
Damals haben sie den politischen und ideologischen Wechsel gewählt. Ihr | |
Päsident heißt seither Evo Morales, und er ist – wie die Mehrzahl der | |
Bolivianer – Indio. Der Gewerkschaftsfunktionär und sein Weggefährte David | |
Choquehuanca stehen für den politischen Umbruch in Lateinamerika, den die | |
Welt mit Staunen und Befremden verfolgt. | |
„Das gute Leben", sagt der Außenminister, das gute Leben will seine | |
Regierung den Bürgern bringen. Doch das bolivianische Sozialismusexperiment | |
droht zu scheitern. | |
Wohl hat die neue Regierung mit den westlichen Gas-, Öl- und | |
Minengesellschaften Verträge ausgehandelt, die dem neuen Bolivien | |
Milliardengewinne bringen. Wohl bekommen die Mittellosen in diesem ärmsten | |
Land Lateinamerikas nun 200 Bolivianos Unterstützung im Monat, ebenso wie | |
Schwangere und ihre Kinder. | |
Und wohl hat die neue Regierung den Indigenen Selbstbewusstsein und | |
Identität zurückgegeben. Trotzdem protestierten in den letzten Monaten | |
Morales' Wähler mit Straßenblockaden und Dynamitböllern gegen zu hohe | |
Zucker- und Benzinpreise und für mehr Lohn. Der Präsident reagierte: Er | |
beschwichtigte, nahm Preiserhöhungen zurück, erhöhte Löhne, er tat, was ein | |
Politiker in der Klemme tut. | |
Aber reicht das? Unterwegs in den Provinzen spürt man, wo es hakt in dieser | |
Gesellschaft. Erst vor zwei Jahren wurde aus Bolivien der "Plurinationale | |
Staat Bolivien". Das klingt nach friedlichem Miteinander. Aber es bedeutet | |
auch, dass Choquehuanca und seine Kollegen gerade darüber nachdenken, dies | |
als Staatsneugründung zu werten, damit sie für eine zusätzliche | |
Legislaturperiode gewählt werden können. | |
Und es bedeutet, dass in diesem Vielvölkerstaat nun zweierlei Recht gilt: | |
das bürgerliche und das indigene, traditionell überlieferte Recht. Eine | |
Katastrophe für ein Land, das doch Gerechtigkeit für alle versprochen hat, | |
dessen Regierung aber nun der Ansicht ist, Recht sei teilbar. | |
Schon hängen in den Vierteln der Indigenen Puppen an den Laternenpfählen, | |
die Kriminellen zeigen sollen, wie man hier mit ihnen zu verfahren gedenkt. | |
Es sind Botschaften an jene im Land, die nicht der neuen herrschenden | |
Klasse angehören, die Intellektuellen und die Landbesitzer: Ihr könnt euch | |
nicht mehr sicher sein, wir wenden das Recht nun so an, wie wir es | |
brauchen. Gerechtigkeit und Gleichheit hatte Morales' Regierung versprochen | |
– das Gegenteil ist daraus geworden. | |
In Potosi, der alten Bergbaustadt in den Anden, warten die Kumpel noch | |
immer auf das Leben, das Leute wie Choquehanca und Morales ihnen | |
versprochen haben. Dort, auf über viertausend Höhenmetern, schuften sie | |
unter lebensgefährlichen Bedingungen in den Minen. | |
Fünf Jahre schon sind Indigene wie sie Teil der herrschenden Klasse, und | |
doch ist ihre Lage miserabel. Längst sind die Minen, in denen nach Silber | |
und Zinn geschürft wurde, erschöpft. Heute suchen die Arbeiter auf eigene | |
Faust nach den Schätzen im Cerro Rico, dem Berg, der die Stadt überragt. | |
Sie haben keine Hoffnung mehr, sie vertrauen nur noch auf die eigene Kraft | |
– und die Macht des Teufels, den sie mit Gebeten, Koka und Schnaps milde zu | |
stimmen versuchen. Auf die Milde der Politik, des Präsidenten hoffen sie | |
schon lange nicht mehr. | |
"Evo", sagt einer der Bergleute, „der hat vor zwei Monaten gesagt, er würde | |
nach Potosí kommen. Aber er ist nicht gekommen. Besser für ihn. Wir hätten | |
ihn mit Tomaten und Dynamit empfangen.“ | |
26 Mar 2011 | |
## AUTOREN | |
Anja Maier | |
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