# taz.de -- Grüne Dilemma um Stuttgart 21: In der Volksabstimmungs-Falle | |
> Müssen am Ende ausgerechnet die Grünen den S21-Tiefbahnhof bauen? Die | |
> Volksabstimmung im Herbst wird kaum zu gewinnen sein. Aber noch gibt es | |
> grüne Hoffnung. | |
Bild: Der Politikwechsel beginnt? Der Politikwechsel zerrinnt? Wie es auch sei,… | |
STUTTGART taz | Es war der Moment, in dem Winfried Kretschmann zum ersten | |
Mal richtig zu spüren bekam, was es heißt, regieren zu müssen. Der | |
Presseraum ist bis auf den letzten Platz gefüllt. Alle Kameras sind auf den | |
designierten Ministerpräsidenten Baden-Württembergs gerichtet. | |
"Wenn es ein Ergebnis gibt, das sagt, dass Stuttgart 21 gebaut werden soll, | |
dann haben wir uns an das zu halten", sagt er. Auf die entscheidende | |
Nachfrage, ob das auch gelte, wenn das Quorum nur knapp verfehlt würde, | |
fügt er kurz und präzise hinzu: "Ja." | |
Von nun an weiß der Grünen-Politiker, was es heißt, nicht mehr nur als | |
Oppositionspartei nach einer Volksabstimmung zu rufen, sondern sie umsetzen | |
zu müssen. Was es heißt, sich nicht nur politisch, sondern auch juristisch | |
um das heikle Thema kümmern zu müssen. Sich mit einem Koalitionspartner | |
abzusprechen und sich auf die exakte Ausformulierung zu einigen. Bei dieser | |
ersten Regierungserfahrung haben die Grünen eine Niederlage eingesteckt. | |
Am vergangenen Mittwoch haben sich die Grünen nach drei Verhandlungsrunden | |
mit der SPD darauf geeinigt, die Volksabstimmung zum umstrittenen | |
Bahnprojekt durchzuführen – auch mit dem Quorum, dass ein Drittel aller | |
Wahlberechtigten für das Ausstiegsgesetz stimmen muss. Die Grundlage dafür | |
hatten der ehemalige Stuttgart-21-Projektsprecher Wolfgang Drexler (SPD) | |
und der Verkehrsexperte der Grünen-Landtagsfraktion Werner Wölfle in einem | |
Vieraugengespräch am Vormittag geschaffen. | |
Die Grünen lösen damit ein zentrales Wahlversprechen ein, das allerdings | |
gar nicht ihre Position ist. Mit dem jetzigen Quorum werden sie Stuttgart | |
21 kaum stoppen können, doch genau das wollen sie. Sie befinden sich in | |
einem Dilemma. | |
## Der Fehler des Verfassungspatrioten | |
Angefangen hatte alles mit einem klugen Schachzug der SPD und einem Fehler | |
ausgerechnet des Mannes, der sich selbst als Verfassungspatriot bezeichnet. | |
Im Protestsommer 2010 schlug die SPD erstmals eine Volksabstimmung vor. | |
Kretschmann nahm diesen Vorschlag damals dankend an, denn erst dieser ließ | |
eine grün-rote Koalition vorstellbar werden. Die Volksabstimmung war die | |
einzige Gemeinsamkeit zweier Parteien, von denen die eine strikt für den | |
Bahnhofsbau ist (SPD) und die andere strikt dagegen (Grüne). | |
Doch bevor die grünen Wahlplakate mit der Formel "Volksabstimmung jetzt" | |
gedruckt wurden, hätte Kretschmann einen Blick in Artikel 60 der | |
Landesverfassung werfen sollen. Was das dort genannte Quorum bei einer | |
Volksabstimmung für seine Partei bedeuten könnte, hatte er damals noch | |
nicht so recht bedacht. Dass mindestens ein Drittel aller Wahlberechtigten | |
für ein Ausstiegsgesetz stimmen müsste, ist eine fast unüberwindbare Hürde | |
für die Neubaugegner. | |
Sollte also womöglich eine Mehrheit für den Baustopp votieren, das Quorum | |
aber nicht eingehalten werden, hätten die Grünen ein Problem. Eine | |
derartige Volksabstimmung würde zu allem beitragen, nur nicht zu einer | |
Befriedung des Konflikts um das Großprojekt. | |
Was die Grünen damals versäumt hatten, versuchten sie jetzt in den | |
Verhandlungen mit der SPD nachzuholen – vergebens. Ein relativierender Satz | |
für den Fall des Scheiterns am Quorum fehlte im Wahlkampf und fehlt nun in | |
der Koalitionseinigung. Auf Winfried Kretschmann warten jetzt harte | |
Auseinandersetzungen – innerparteilich und auf der Straße. | |
Nur wenige Stunden nach dem verkündeten Kompromiss deutete Tübingens grüner | |
Oberbürgermeister Boris Palmer die Vereinbarung um. "Ich habe verstanden, | |
dass das Ergebnis des Volksentscheids für uns verbindlich ist, wenn eine | |
Mehrheit sich für Stuttgart 21 ausspricht – unabhängig vom Quorum", sagte | |
er. | |
Palmer war es auch, der das Klima bei den Koalitionsverhandlungen | |
kritisiert hat. Er saß in der Arbeitsgruppe Verkehr mit am Tisch, ebenso | |
wie er damals auch in der Schlichtung zu Stuttgart 21 saß, im Gegensatz zu | |
SPD-Politikern. In 27 der 28 Arbeitsgruppen sei das Verhandlungsklima gut. | |
"Aber bei Stuttgart 21 ist manches für mich schwer auszuhalten. Herr | |
Schmiedel sagt, eine ICE-Strecke dürfe nicht in einen Kopfbahnhof geführt | |
werden. Und das nach 80 Stunden Schlichtung!", sagte Palmer. | |
Claus Schmiedel ist Fraktionschef der SPD. Mit ihm und Drexler auf der | |
einen Seite sowie Palmer, Wölfle und dem Vorsitzenden des | |
Verkehrsausschusses im Bundestag, Winfried Hermann, auf der anderen Seite | |
war häufig die Rede von zwei aufeinander zu rasenden ICEs. In der dritten | |
Verhandlungsrunde scheint der grüne ICE im letzten Moment ausgewichen zu | |
sein. | |
Kretschmann bekräftigte am Donnerstag noch einmal den Beschluss der | |
Koalition. "Wir machen die Volksabstimmung nach Artikel 60, und das gilt", | |
sagte er. Auch als Reaktion auf die abweichende Interpretation seines | |
Parteikollegen Boris Palmer. | |
Wenn es Kretschmann nach dieser Niederlage nicht gelingen sollte, seine | |
Partei auf eine klare Linie zu bringen, wird es das Misstrauen zwischen | |
Grünen und SPD noch verschärfen, das in der Arbeitsgruppe Verkehr zutage | |
getreten war. Wenn man interne Aussagen und Vorwürfe entsprechend deutet, | |
könnte man fast meinen, es hätten sich in den Verhandlungen Bahn-Sprecher | |
und Demonstranten gegenübergesessen. | |
## Demonstrieren Grüne gegen Grüne? | |
Aber nicht nur innerparteilich haben die Grünen jetzt einiges zu klären. | |
Nach wie vor sind sie auch Mitglied im Aktionsbündnis gegen Stuttgart 21. | |
Bündnisvertreter haben den Kompromiss umgehend kritisiert. "Eine Befriedung | |
des Konfliktes in der Bevölkerung ist damit nicht erreichbar", erklärten | |
sie. | |
Nach der Wahl hatten sich die Grünen entschlossen, im Bündnis gegen | |
Stuttgart 21 zu bleiben. Sollten sie also womöglich bald auf der Straße | |
gegen ihre eigenen Regierungsbeschlüsse demonstrieren? Es könnte so wohl | |
die Partei zerreißen. Und das Bündnis wie auch die Koalition enorm | |
belasten. Auch wenn SPD-Landeschef Nils Schmid beteuerte: "Die Koalition | |
stand nicht auf der Kippe." | |
So bleibt den Grünen zu Beginn ihrer historischen Regierungszeit nichts | |
anderes als das Prinzip Hoffnung. Die Hoffnung heißt: Stresstest. Sie | |
müssen hoffen, dass der Bahnhof nicht die geforderte Leistung von plus 30 | |
Prozent in der Spitzenstunde bringt. Dass die Gesamtkosten damit deutlich | |
über 4,5 Milliarden Euro steigen. Von den bisherigen Kosten von 4,1 | |
Milliarden trägt das Land Baden-Württemberg etwa ein Drittel. Übersteigt | |
der Preis die Grenze von 4,5 Milliarden Euro, will Grün-Rot keinen Cent | |
mehr bezahlen. Dann müssten sich der Bund und die Deutsche Bahn überlegen, | |
ob sie draufzahlen. | |
Also müssen die Grünen ausgerechnet auf die CDU hoffen. Darauf, dass | |
Bundeskanzlerin Angela Merkel kein Interesse mehr an dem Jahrhundertprojekt | |
hat, weil das ehemalige Stammland nicht mehr in Unions-Händen liegt. Oder | |
darauf, dass die Südwest-CDU sich doch noch bereit erklären wird, das in | |
der Verfassung verankerte Quorum von 33 auf 25 Prozent abzusenken. Denn | |
dafür wären Grüne und SPD auf Stimmen aus dem schwarz-gelben Lager | |
angewiesen. | |
Die Christdemokraten lehnten dies jedoch sofort ab. "Es gibt dafür gar | |
keinen Anlass", sagte der Fraktionschef der CDU, Peter Hauk. "Wer | |
Volksabstimmung plakatiert, muss sie einfach umsetzen." Das hat auch | |
Winfried Kretschmann verstanden. | |
22 Apr 2011 | |
## AUTOREN | |
Nadine Michel | |
## TAGS | |
Schwerpunkt Stuttgart 21 | |
Schwerpunkt Stuttgart 21 | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Palmer will Grüne konservativer machen: Aufbruch in neue Milieus | |
Tübingens Oberbürgermeister Boris Palmer stellt in einem Thesenpapier | |
urgrüne Forderungen infrage, darunter das Adoptionsrecht für Lesben und | |
Schwule. | |
Milliardenprojekt City-Tunnel: Das schwarze Loch zu Leipzig | |
In der Sachsen-Metropole gibt es manche Parallelen zu Stuttgart 21, aber | |
keine Proteste gegen den teuren City-Tunnel. Dabei ist das | |
Milliardenprojekt für den Fernverkehr nutzlos. | |
Kommentar Grün-Rot in Baden-Württemberg: Viel mehr als ein Bahnhof | |
Grün-Rot wird vielleicht nicht Stuttgart 21 verhindern können. Aber der | |
Wählerauftrag ist erfüllt. wenn künftige Mammutprojekte nicht mehr an der | |
Bevölkerung vorbei geplant werden. | |
Grün-roter Koalitionsvertrag in BaWü: Ökologischer Umbau der Autoindustrie | |
Der erste grün-rote Koalitionsvertrag in Deutschland ist so gut wie fertig. | |
Über letzte Details soll bis Mittwoch in Stuttgart verhandelt werden. Die | |
wichtigsten Punkte. | |
Koalitionsvertrag Baden-Württemberg: So öko wird der Südwesten | |
Ausbau der Windenergie, neues Mobilitätskonzept, Förderung der | |
Öko-Landwirtschaft: Der designierte grüne Ministerpräsident Kretschmann | |
will Baden-Württemberg umbauen. | |
Kommentar Volksentscheid Stuttgart 21: Grüner Eiertanz zu Ostern | |
Die Einigung auf einen Volksentscheid über S21 kommt einem Sieg der | |
Beton-Sozis gleich. Der Stresstest wird den Grünen nicht aus der | |
Glaubwürdigkeitsfalle helfen. | |
Grüne und SPD einig bei Stuttgart 21: Die Volksabstimmung kommt | |
Damit ist der Weg für die grün-rote Koalition in Baden-Württemberg frei: | |
Beide Parteien wollen, dass die Bürger über den Tiefbahnhof entscheiden. | |
Bis dahin gilt ein Bau- und Vergabestopp. | |
Demokratie-Lobbyist zu Stuttgart 21: "Kein fairer Volksentscheid möglich" | |
Der Demokratie-Lobbyist Ralf-Uwe Beck fordert Grün-Rot auf, trotz der | |
ungünstigen Verfassungslage über Stuttgart 21 abstimmen zu lassen – und die | |
Mehrheit zu akzeptieren. |