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# taz.de -- Nach der Baden-Württemberg-Wahl: Super-Kretschmann
> Der Ministerpräsident in spe ist auf Bürgertour und wirbt für seine
> Politik. Doch war das Interesse an Landespolitik früher eher gering,
> steigen die Erwartungen nun rapide.
Bild: Hat in Zukunft weniger Zeit für Gossip: Winfried Kretschmann.
STUTTGART taz | Man könnte meinen, dieser Mann stecke noch mitten im
Wahlkampf. Im schwarzen Anzug mit blauer Krawatte und seinen nach oben
stehenden grauen Haaren steht er am Rednerpult vor geschätzten 400 bis 500
Leuten. Zwar kann er inzwischen das "wir wollen" durch ein "wir werden"
ersetzen. Doch sein Abschlusssatz klingt wie ein Original aus dem
Wahlkampf. "Ich bin sicher, dass wir das hinbekommen werden - mit Ihrer
Unterstützung."
Der Mann, der da vorne steht, muss keine Wahl mehr überstehen. Trotzdem
wirbt er um Vertrauen und Unterstützung. In wenigen Tagen wird Winfried
Kretschmann Baden-Württembergs neuer Ministerpräsident sein - und der erste
grüne Ministerpräsident überhaupt. Er übernimmt ein Land, das fast 60 Jahre
schwarz regiert wurde. Deshalb wirbt er an diesem Abend so sehr um das
Vertrauen der Menschen. Er will sie mitnehmen bei diesem epochalen
Politikwechsel. Sein größtes Versprechen ist, nicht gegen den Bürgerwillen
zu regieren.
Kretschmann begibt sich in diesen Tagen auf Bürgertour durch Stuttgart,
Mannheim, Ulm und Konstanz, um den Koalitionsvertrag zu erläutern. Einen
neuen Politikstil umzusetzen, betrachte er "als die eigentliche
Herausforderung der neuen Landesregierung", sagt Kretschmann zu Beginn
seiner Rede. Der Raum im Gewerkschaftshaus in Mannheim ist dermaßen
gefüllt, dass viele Leute im Gang stehen bleiben müssen oder direkt vor
Kretschmann auf dem Boden sitzen. Die meisten gehören der Generation 50
plus an. Aber auch einige jüngere Leute sind darunter, die der klassischen
Studenten-Klientel der Grünen entsprechen.
Während zwei von ihnen auf dem Boden im Koalitionsvertrag blättern und eine
Passage diskutieren, steht der designierte Landeschef am Rednerpult und
strahlt, ohne den Mund zu öffnen. Er scheint mit allem und vor allem mit
sich selbst im Reinen zu sein. Was ihm Sorgen bereitet, packt er in
trockene Sprüche, die die Gäste zum Lachen bringen. "Wir sind ja nun auch
stolze Besitzer von Atomkraftwerken", sagt er beispielsweise zum
Energiekonzern EnBW, an dem das Land fast 50 Prozent der Aktien hält. "Das
hätte ich mir auch nie träumen lassen."
## Sinti und Roma, Wildtiere und Waldorfschulen
Lauter und eindringlicher wird er nur, wenn es um die Wirtschaft geht. Wer
nicht gegen den Bürgerwillen regieren will, muss in einer Industriestadt
wie Mannheim in diesem Bereich besonders um Vertrauen werben. Immerhin
hatte Kretschmann vor ein paar Tagen davon gesprochen, dass es doch bitte
schön in Zukunft weniger Autos geben solle. Er ist bemüht, den Leuten die
Logik hinter solchen Aussagen zu erklären. Ökologie und Ökonomie müssten
sich versöhnen. "Das ist bitte schön keine grüne Spielwiese, auf die wir
uns da begeben. Das ist die Herausforderung des 21. Jahrhunderts."
Gleichzeitig versucht Kretschmann den Menschen Befürchtungen zu nehmen.
"Wir werden nichts machen, was nicht irgendwo schon auf der Welt gemacht
wird. Da können Sie ganz beruhigt sein." Die meisten Personen im Raum hat
er damit an diesem Abend auf seiner Seite.
Die anschließende Fragerunde allerdings führt Kretschmann vor Augen, wie
hoch die Erwartungen im Ländle an die erste grün-rote Regierung sind. Galt
früher die Landespolitik als relativ langweilig, weil sie kaum selbst etwas
zu bestimmen hat, wird nun angenommen, Kretschmann könne in der
fünfjährigen Legislaturperiode die ganze Welt retten. Es kommen Fragen nach
Sinti und Roma, nach Wildtieren in Zirkussen, nach Waldorfschulen,
Vermögensteuern, Radwegen in Mannheim und nach einer aberwitzig teuren
Kreuzung in Schwetzingen.
Es sind so viele und so detaillierte Fragen, dass der Moderator die
Veranstaltung schließlich beenden muss, ohne dass alle Antworten gegeben
sind. So fangen die Zwänge des Regierens an und hört das schöne Zuhören
eines Fast-Ministerpräsidenten auf. Kretschmann bezeichnet einen neuen
Politikstil nicht umsonst als eigentliche Herausforderung seiner Regierung.
Der Wunsch nach Dialog, das Bedürfnis des Gehörtwerdens ist groß. Grün-Rot
hat die Erwartungen hochgeschraubt. Doch schon an diesem Abend kann sich
Kretschmann nicht um jeden kümmern. Auf Dauer könnte das Erwartungen
enttäuschen.
3 May 2011
## AUTOREN
Nadine Michel
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