# taz.de -- Leben im westdeutschen Problemviertel: Wie zählt man Türken in Bo… | |
> Bad Godesberg galt als Vorzeigeviertel in Bonn - und erlebt derzeit eine | |
> umgekehrte Gentrifizierung. Einwohner wie Samir könnten davon einen Track | |
> rappen. | |
Bild: Schwer zu sagen, was die Heimat ist. | |
Es gibt so viele Dinge, die ihn rasend machen. Sein Vater zum Beispiel, der | |
nur in der Teestube rumhängt. Seine Mutter, die nach 25 Jahren in | |
Deutschland immer noch kaum Deutsch spricht. Seine 13-jährige Schwester, | |
die frech wird. Und wütend macht Samir das System, in dem er lebt: "Sind | |
doch alles Pisser hier", sagt er. Wen er damit genau meint? "Alle!" | |
Es ist zwölf Uhr vormittags, ein trister Novembertag im vergangenem Jahr. | |
Samir sitzt auf einer Parkbank in Bonn-Bad Godesberg gegenüber von einem | |
Wettbüro, er hat die Beine gespreizt. Eine schmale Gestalt mit krummen | |
Schultern und einer markanten Nase. Der junge Mann bedient viele | |
Vorurteile: Seine Sätzen enden mit "weißt du", Samir trägt einen weißen | |
Adidas-Trainingsanzug, über seine kurzen schwarzen Haare hat er eine weiße | |
Wollmütze gezogen, und an jedem Ohr blinken große Steine. Er ist gerade | |
aufgewacht und gähnt noch. | |
"Wie zählt man Türken in Bonn?", fragt Samir grinsend. "Alle Keller zählen, | |
dann mit 14 multiplizieren", sagt er. Weil ihm damit keine Provokation | |
gelingt, pustet er einem den Rauch seiner Marlboro ins Gesicht. Der | |
türkische Kurde Samir ist polizeibekannt, wegen Diebstahl und | |
Körperverletzung. Es ist ihm egal, behauptet er. | |
In der Türkei war er nur wenige Male, Heimat sei das Land nicht für ihn. | |
Aber Deutschland sei es auch nicht. Der junge Mann ist zerrissen, er weiß | |
nicht, wohin mit sich, und überhaupt: was tun? Deswegen hängt er auf der | |
Koblenzer Straße - der Einkaufsmeile - herum und versucht mit Provozieren | |
und Haschischverticken die Zeit totzuschlagen. | |
## Synonym für eine Problemgruppe | |
Jung, männlich, Muslim, Migrant - diese vier Wörter stehen für ein Synonym | |
in der Integrationsdebatte. Ein Synonym für eine Problemgruppe, die | |
überproportional häufig in polizeilichen Kriminalstatistiken auftaucht. | |
Studien, etwa die des Kriminologischen Forschungsinstituts in | |
Niedersachsen, belegen dies. Medien greifen das Thema häufig auf. Bilder | |
von U-Bahn-Schlägereien, die Diskussion über Deutschenfeindlichkeit auf dem | |
Schulhof und Machogehabe gegenüber Frauen beherrschen die öffentliche | |
Diskussion. | |
Samir gehört zu einer Klientel, die schon zum Politikum wurde. Er ist wohl | |
einer derjenigen, die Angela Merkel im Sinn hat, wenn sie Migranten dazu | |
auffordert, sich zu deutschen Gesetzen zu bekennen. Er hat einen deutschen | |
Pass, "aber das hat nix zu bedeuten. Die Deutschen mögen uns nicht, und wir | |
mögen sie nicht", sagt Samir. Warum er das glaubt? "Die gucken uns blöd | |
an." Er fühlt sich nicht willkommen und abgelehnt, er ist zornig. Dann | |
schiebt er wieder eine Provokation hinterher: "Wenn die Deutschen weg sind, | |
dann müssen sie sich nicht mehr integrieren." | |
Die Bemühungen um den Aufbau einer Multikultigesellschaft in Deutschland | |
sind nach Ansicht Angela Merkels fehlgeschlagen. "Dieser Ansatz ist | |
gescheitert, absolut gescheitert", sagte die Kanzlerin im Oktober. | |
Reduziert man ihre These auf Bad Godesberg, dann muss man ihr zustimmen. | |
Bad Godesberg ist ein Stadtteil wie viele in Deutschland, viele Arbeitslose | |
und viele Migranten. 46 Prozent der Einwohner hier sind nichtdeutscher | |
Herkunft, 6 Prozent der Einwohner Bad Godesbergs haben keinen Job - der | |
Durchschnitt in ganz Bonn liegt bei 7 Prozent. | |
Was Bad Godesberg von anderen sozialen Brennpunkten unterscheidet, ist die | |
Vorgeschichte des Bezirks. Bis zum Umzug von Parlament und Regierung galt | |
dieser als internationaler "Diplomaten-Stadtteil" mit Villen und viel Grün. | |
International ist der Stadtteil immer noch, aber heruntergekommener als | |
einst. Mülltüten hängen in den Bäumen, Parabolantennen zieren Balkone, | |
zerbrochene Flaschen liegen auf den Wegen. Heute stehen hier Dönerbuden | |
neben Internetcafés und 1-Euro-Shops und der König-Fahd-Akademie. Die | |
Islam-Schule wird von Saudi-Arabien finanziert und sollte 2003 fast | |
geschlossen worden. Lehrer standen im Verdacht, Verbindungen zu Extremisten | |
zu haben. Es gibt sieben Spielotheken, aber kein Jugendzentrum. | |
## Der Gazastreifen Bonns | |
Seit einem Jahr patrouillieren jede Nacht Sicherheitsleute durch die | |
Straßen des ehemaligen Bonner Regierungsviertels. Der Begriff vom | |
"Gazastreifen" macht schon die Runde. Das einstige Vorzeigeviertel ist | |
heute ein Vorzeigeghetto. Und ein Albtraum für Multikulturalisten. | |
Im August 2007 trafen sich Schüler des Bad-Godesberger Aloisius-Kollegs, | |
eines Elitegymnasiums, im Kurpark zu einer Vor-Abitur-Fete, als plötzlich | |
Bullys vorfahren und jugendliche Migranten absetzen, die, bewaffnet mit | |
Messern und Baseballschlägern, auf die Gruppe losgehen, sie prügeln, | |
ausrauben und wieder verschwinden. Ausländergangs drohen hier regelmäßig | |
mit Gewalt, viele Anwohner fühlen sich nicht mehr sicher. Ein Optiker | |
erzählt, dass in seinem Geschäft innerhalb von fünf Monaten viermal | |
eingebrochen wurde. | |
Samir flog wegen zu vieler Fehlzeiten von der Realschule. Der damals | |
15-Jährige "baute viel Mist", wie er sagt. "Opfer sein ist das Schlimmste, | |
was passieren kann", sagt er. "Da bin ich lieber Täter". Deswegen habe er | |
auf dem Schulhof öfter zugeschlagen, wenn ihn jemand von der Seite | |
anmachte. Er lebt bei seinen Eltern, hat ein kleines Zimmer mit einer | |
Matratze auf dem Boden und einer Flatscreen, er bekommt Hartz IV. | |
An der Wand hängt eine kurdische Flagge, daneben ein Poster von seinem | |
Vorbild, dem kurdischstämmigen Xatar. Der Bonner Rapper soll einen | |
Goldtransporter überfallen haben und steht deswegen momentan vor Gericht. | |
"Ist natürlich krass, aber er wird seine Gründe dafür gehabt haben", glaubt | |
Samir. "Er glaubt wenigstens an uns." Toleranz und Integration sind Samir | |
egal. Dahinter steht auch der Irrglaube, die Verweigerung sei eine | |
heroische Art der Rebellion. | |
Je älter er wird, desto stärker schottet er sich ab. Als Kind seien ihm | |
Glauben und Nationalität egal gewesen. Jetzt faste er zu Ramadan und bete | |
zu Allah. Wie sein Glauben mit seiner kleinkriminellen Karriere | |
zusammenpasse? Das dürfe man nicht vermischen, antwortet er und pustet | |
einem wieder Rauch ins Gesicht. | |
Die Deutschen, dass sind die anderen, die werden verachtet. Die verstorbene | |
Berliner Jugendrichterin Kirsten Heisig hatte die Deutschenfeindlichkeit | |
bereits vor Jahren thematisiert. So sei es bei Raubtaten durch muslimische | |
Migranten üblich, das Opfer als "Schweinefleischfresser", "Scheißchrist" | |
oder Ähnliches zu beleidigen. "Na und?", zuckt Samir mit den Schultern. | |
Deutsche Freunde habe er keine, eine deutsche Freundin will er nicht. "Die | |
Mädchen hier haben zu viele Freiheiten", findet er. "Was soll ein Mädchen | |
in der Disco? Die sind unsauber." | |
## Schuld sind die anderen | |
Samirs Eltern kamen wegen der Arbeit nach Deutschland. Er wurde in Bonn | |
geboren und wuchs hier auf. Seine Mutter ist Hausfrau, sein Vater ist | |
Fensterputzer und seine Schwester Realschülerin. Tugenden wie Pünktlichkeit | |
und Zuverlässigkeit wurden ihm schon als Kind nicht vermittelt. Autoritäten | |
zu akzeptieren und Anweisungen zu befolgen, das kenne er nicht. In der | |
Schule habe sich keiner um ihn gekümmert, die Eltern seien mit sich selbst | |
beschäftigt gewesen. Bildungsehrgeiz hat er nicht. Wenn Samir von sich | |
erzählt, sind immer die anderen schuld. Er ist einer der Abgehängten, der | |
Zukunftslosen. | |
Beim zweiten Treffen im März erzählt er, dass er "angefressen" sei. Er | |
sitzt wieder auf derselben Parkbank, spielt mit seinem neuen Handy. Samir | |
trägt diesmal einen schwarzen Adidas-Trainingsanzug und eine viel zu breite | |
Goldkette um den schmalen Hals. Letzte Woche habe er einem Bekannten "in | |
die Fresse" gehauen. "Der hat Gras bei mir gekauft und nicht bezahlt", | |
deswegen habe er zugeschlagen und zugetreten, "ihn abgezogen". | |
Wenn man ihn fragt, warum er so jähzornig ist, schaut er einem in die Augen | |
und antwortet nicht. | |
6 May 2011 | |
## AUTOREN | |
Cigdem Akyol | |
## TAGS | |
Neukölln | |
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- ein Fehler. |