| # taz.de -- Libysche Rebellen und Islamismus: Al-Qaida interessiert keinen | |
| > Übergelaufene Soldaten, Ex-Sträflinge, normale Bürger. Sie alle machen | |
| > bei den Rebellen mit. Und auch die Islamisten dürfen gegen Gaddafi | |
| > mitkämpfen. Mehr nicht. | |
| Bild: Bengasi: Eine Frau mit einer AK-47 wirbt um Solidarität mit dem belagert… | |
| DERNA/BENGASI taz | Irgendwo im Sandsturm wartet der Feind. Mit sieben Mann | |
| und zwei Pick-ups prescht Hauptmann Abdessalam in Richtung Brega. Sein | |
| Vorgesetzter befürchtet, dass sich Gaddafis Brigaden, die Kataib, hinter | |
| die vorderen Linien der Rebellen schleichen könnten. Abdessalam soll die | |
| Gegend auskundschaften. | |
| "Oh boy", knurrt der 30-Jährige und spült den Sand in seinem Mund mit | |
| warmen Wasser hinunter. Der Gibli, ein glühend heißer Wüstenwind, hat die | |
| Körner zu einem dichten Nebel aufgewirbelt. Wären die Kataib da draußen, | |
| würde man vermutlich direkt in sie hineinrasen. Dann tauchen plötzlich | |
| Bewaffnete in den Dünen auf und versperren die Straße. Mit quietschenden | |
| Reifen kommt die Patrouille zum Stehen. Die anderen sind auch Rebellen. | |
| "Fahrt nicht weiter", ruft ein Major in Badelatschen durch den Sturm. "Da | |
| draußen sind keine mehr von uns." | |
| Die meisten, die hier ausharren, haben sich vor dem Sandsturm hinter die | |
| letzte Verteidigungslinie zurückgezogen. Die ist rustikal, aber ordentlich: | |
| Links und rechts der Straße haben Bulldozer einen kilometerlangen Wall aus | |
| Sand aufgeschüttet. Entlang dieser Verschanzung warten Toyota-Pick-ups. | |
| Ihre aufmontierten Flak-MGs, Raketenwerfer und Helikoptergeschütze blicken | |
| Richtung Brega. | |
| Abdessalam wendet und rast zurück in seine Kaserne nach Adschdabija. Dort | |
| warten weitere Frontkämpfer im Alter zwischen 15 bis 50 bei Tee, Joints und | |
| Süßigkeiten auf ihren Einsatz. An den Wänden hängen Bilder von Bob Marley | |
| und – wie überall im Rebellengebiet – von Che Guevara. Aus einem | |
| Kassettenrekorder dröhnt arabischer Rai im Reggae-Rhythmus. | |
| ## Vorbild Che Guevara | |
| Die meisten hier sind keine Berufssoldaten, wie Abdessalam, der sich den | |
| Aufständischen gleich in den ersten Tagen mit seiner ganzen Kompanie | |
| angeschlossen hat. Da gibt es Muftah, 27, der, als die Unruhen ausbrachen, | |
| im Knast saß – wegen Drogenhandels. Damals verteilten die Wärter Waffen, | |
| erzählt er, und ließen alle frei mit den Worten: "Erschießt ein paar | |
| Rebellen." Stattdessen haben sich Muftah und die anderen schnurstracks den | |
| Rebellen angeschlossen. Andere sind Schüler, Handwerker oder Studenten. | |
| Auf die Frage, ob sich in ihren Reihen ehemalige Al-Qaida-Leute befinden, | |
| schauen sich die Jungs und Männer ungläubig an. "Sieht das hier für dich so | |
| aus?", fragt einer. "Das ist doch nur Gaddafi-Quatsch. Hier gibt es keine | |
| al-Qaida." | |
| "Al-Qaida ist Geschichte", sagt auch Iman Bugaighis in der | |
| Rebellenhauptstadt Bengasi. Die Philosophiedozentin, die lange in London | |
| gelebt hat, vermittelt heute zwischen dem Übergangsrat der Aufständischen | |
| sowie Geschäftsleuten und Diplomaten. Ihr Arbeitsplatz ist das feine | |
| Tibesti-Hotel, wo auch der französische Botschafter residiert und alle, die | |
| auf gute Geschäfte mit der neuen Regierung hoffen. | |
| "Der Westen sollte mal ein paar Sachen verstehen", ärgert sich Bugaighis. | |
| Al-Qaida sei ein Produkt der Hoffnungslosigkeit gewesen. Hier die | |
| Diktatoren, dort der Westen, der sie unterstützt. "Jetzt vertreiben wir die | |
| Diktatoren, und der Westen hilft dabei", sagt die 35-Jährige. Die | |
| Revolutionen in Nordafrika und dem Nahen Osten seien aber auch eine Antwort | |
| auf al-Qaida selbst: "Sie sagen den Terroristen: Ihr habt eure Chance | |
| gehabt. Aber statt die Pharaonen zu vertreiben, habt ihr nur Unschuldige | |
| ermordet." Jetzt wollten die Libyer Demokratie, Bildung, Rede- und | |
| Reisefreiheit. "Wir wollen, was ihr habt", sagt Bugaighis. | |
| ## Einst Islamistenhochburg | |
| Wer in Libyen nach den Überresten der Dschihad-Bewegung sucht, tut das in | |
| Derna, 300 Kilometer östlich von Bengasi. Die Küstenstadt gilt als | |
| weltweiter Topexporteur von Selbstmordattentätern. Im Irakkrieg waren rund | |
| 50 ausländische Dschihadisten aus Derna dabei – mehr als aus jeder anderen | |
| arabischen Stadt. | |
| Bereits in den 90er Jahren hat sich hier die Libysche Islamische | |
| Kampfgruppe – Muqatilah genannt – Straßenkämpfe mit der Regierung | |
| geliefert. Gaddafi griff damals brutal durch. Die meisten Dschihadisten | |
| wanderten ins Gefängnis, viele verschwanden einfach. Vor drei Jahren | |
| schlossen die Überlebenden ein Abkommen mit Saif al-Islam Gaddafi. Sie | |
| schworen der Gewalt ab und wurden freigelassen. | |
| Seit Beginn der Revolution machen jedoch zwei ehemalige Afghanistan-Kämpfer | |
| von sich reden: Abdul Hakim al-Hasadi und der Ex-Guantánamo-Häftling Abu | |
| Sufian bin Qumu hatten – sehr zum Verdruss des revolutionären Stadtrats von | |
| Derna – eine Brigade aus 300 Mann gebildet und sich zu den | |
| Sicherheitsbeauftragten der 50.000-Einwohner-Stadt erklärt. Heute, zwei | |
| Monate später, sind sie weitgehend in der Versenkung verschwunden. Ein | |
| ehemaliger Offizier befehligt jetzt die Derna-Brigade, die auf rund 1.000 | |
| Leute angewachsen ist. | |
| ## "Schneidet eure Bärte oder geht" | |
| "Wir haben sie gewarnt", sagt Stadtrat Ahmed Kaiqaban, ein | |
| Flugzeugingenieur, der 30 Jahre Gefängnis und Hausarrest hinter sich hat. | |
| "Schneidet eure Bärte oder geht. Und wenn ihr hier mit al-Qaida ankommt, | |
| seid ihr dran", habe er den Veteranen gesagt. Diese hätten versprochen, | |
| sich nach der Revolution von selbst zurückziehen. "Ich denke, auch sie | |
| wollten nur Gaddafi beiseite schaffen", sagt Kaiqaban. | |
| Draußen vor der zentralen Sahaba-Moschee in Derna treffen sich die Menschen | |
| und feiern allabendlich ein Fest der Demokratie. Jeder darf das Mikrofon | |
| nehmen und sagen, was er will. Manche werden ausgelacht, reden trotzdem | |
| weiter und bekommen dann doch Applaus. "Unglaublich, dass man öffentlich | |
| sagen darf, was einem durch den Kopf geht", schwärmt einer. | |
| "Die Zeit von al-Qaida läuft aus", sagt spätabends einer der Männer, die | |
| noch auf dem Platz sitzen und Tee trinken. Die anderen nicken. Und was ist | |
| mit dem Gerücht, einige der 200 Libyer im afghanisch-pakistanischen | |
| Grenzgebiet seien auf dem Weg hierher? "Lassen Sie sie doch kommen", sagt | |
| Kaiqaban. "Gegen Gaddafi dürfen sie gerne kämpfen, aber danach werden sie | |
| nach Hause geschickt." | |
| "Ich finde es langsam ermüdend, das immer wieder zu erklären", sagt Noman | |
| Benotman. Früher hat er die Islamische Kampfgruppe geführt. Nach den | |
| 9/11-Anschlägen schwor er der Gewalt ab und schrieb öffentliche Briefe an | |
| seinen früheren Freund Osama bin Laden und forderte ihn auf, das Gleiche zu | |
| tun. | |
| ## Geschichten aus der Hölle | |
| Heute arbeitet Benotman für die Quilliam-Foundation, einen Londoner | |
| Thinktank, der vor allem aus Aussteigern aus der Islamistenszene besteht. | |
| "Wir haben schon in den 90er Jahren kaum jemanden hinter uns gebracht", | |
| sagt Benotman. "Und wenn, dann nur Verzweifelte und Verfolgte." Heute sei | |
| der Dschihadismus in Libyen absolut out und habe nichts mit der Revolution | |
| zu tun. | |
| Warum das so ist, wird klar, wenn man die Erlebnisse der Menschen hört. Es | |
| sind Geschichten aus der Hölle, wie die der Familie al-Teira. Einen ihrer | |
| acht Söhne verlor sie in den 90er Jahren. Der Geheimdienst hatte ihn | |
| mitgenommen, und bis heute weiß niemand, wie er starb. Nacht für Nacht | |
| seien immer wieder die Geheimdienstleute aufgetaucht und hätten einzelne | |
| Familienmitglieder mitgenommen. "Ich war acht Tage zwischen den Verhören in | |
| einer Zelle, die sogar zum Liegen zu klein war", sagt Marei al-Teira. "Es | |
| kam mir vor wie zehn Jahre." Den zweiten Sohn verlor die Familie Ende März | |
| bei der Verteidigung von Bengasi. Er bekam eine Kugel zwischen die Augen, | |
| nur Stunden bevor Sarkozys Luftwaffe dem Alptraum ein Ende machte. | |
| Der 23-jährige Arzt Hussein berichtet vom Aufstand und dem Kampf um die | |
| Katiba, die Kaserne. Er zeigt die Orte, an denen die Menschen bei | |
| Demonstrationen von Flak-MGs in zwei Hälften zerrissen wurden und erzählt, | |
| wie er – als angehender Chirurg – vier von Gaddafis Soldaten im Kampf | |
| tötete und wie er nachts daran denken muss. Später befreiten die | |
| Aufständischen Menschen aus den Grüften unter der Katiba. Manche von ihnen | |
| hatten 12 Jahre lang kein Licht gesehen. | |
| Doch nicht nur Gaddafi ist verhasst, auch die Islamisten haben die | |
| Bevölkerung immer wieder enttäuscht: In den 70er Jahren schienen die | |
| gemäßigten Moslembrüder einen Ausweg zu bieten – bis sie in den | |
| Gefängnissen verschwanden. In den 80ern und 90ern kamen die "Muqatilah", | |
| die Gewalt von allen Seiten nahm zu. Schließlich das Bündnis der Muqatilah | |
| mit al-Qaida, das in den Trümmern von 9/11 unterging – nichts von alledem | |
| hat den Libyern geholfen. | |
| Erst die Revolution hat sie weitergebracht. So herrscht im Moment | |
| tatsächlich das libysche Volk, anarchisch und voller Glauben an die selbst | |
| erkämpfte Freiheit. Gaddafi beschimpft die Freiheitskämpfer als "Ratten, | |
| Terroristen und Drogensüchtige". | |
| "Muammar, du Pussy, komm raus // wir sind die Ratten, wir sind hier", singt | |
| der libysche Rapper Teabag auf der Kassette in Husseins Wagen. "Niemand", | |
| sagt der Arzt und schiebt den Unterkiefer vor, "niemand stiehlt diese | |
| Revolution." | |
| 12 May 2011 | |
| ## AUTOREN | |
| Christian Kreutzer | |
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