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# taz.de -- Prozess um Einsatz von Brechmittel: Arzt wird erneut freigesprochen
> Vor mehr als sechs Jahren starb ein Afrikaner in Bremen, nachdem ein
> Polizeiarzt ihm Brechmittel eingeflößt hatte. Der Mediziner wurde nun zum
> zweiten Mal freigesprochen.
Bild: Freispruch: Das Gericht konnte dem Mediziner keine Schuld nachweisen.
BREMEN taz | Neunzig Minuten schilderte Richter Helmut Kellermann die
Gründe für sein Urteil. "Wir werden dafür Schläge einstecken", sagte er am
Ende. Am Dienstag hatte Kellermann in der zweiten Auflage des Prozesses um
den Brechmitteltod eines Sierra Leoners den Polizeiarzt Igor V. vom Vorwurf
der fahrlässigen Tötung freigesprochen. Kellermann kam in der
Berufungsverhandlung zu exakt demselben Urteil, wie schon 2008 eine erste
Kammer des gleichen Gerichts.
Deren Freispruch war jedoch 2010 vom Bundesgerichtshof mit harschen Worten
aufgehoben worden. Kellermann befand nun, dass es "nicht geboten" sei, den
Polizeiarzt wegen des Todes des mutmaßlichen Dealers Laya Condé zu
bestrafen. Es sei nicht gelungen, die Todesursache zweifelsfrei
festzustellen. "Condés Tod kann nicht befriedigend gesühnt werden", sagte
Kellermann.
Condé war in der Nacht des 26. Dezember 2004 von zwei Polizisten auf der
Straße festgenommen worden. Sie verdächtigten ihn, Kokainkügelchen
verschluckt zu haben, um sie vor ihnen zu verstecken. Die Beamten brachten
Condé in das Bremer Polizeipräsidium und riefen V. hinzu. Es war für alle
Beteiligten der erste zwangsweise Brechmitteleinsatz. Gemeinsam flößten sie
Condé den Brechsirup Ipecacuanha und große Mengen Wasser zwangsweise über
eine Nasensonde ein.
Tatsächlich erbrach Condé insgesamt fünf Kügelchen mit winzigen Mengen
Kokain. Doch durch die Tortur war sein Zustand zwischendurch so kritisch
geworden, dass ein Notarzt hinzukommen musste. Da waren die ersten
Kokainkugeln bereits ausgespien. Der Notarzt stabilisierte Condé
vorübergehend. Doch statt die "Exkorporation" nun zu beenden, setzte V. sie
weiter fort - insgesamt über 80 Minuten, bis Condé schließlich hirntot ins
Koma fiel.
## Gutachter gegen von Vorerkrankung aus
Ein erster medizinischer Gutachter hatte 2006 festgestellt, dass Condé
ertrank, weil das Wasser, das der Polizeiarzt im eingeflößte, in seine
Lunge gelaufen sei. Die Staatsanwaltschaft forderte deshalb neun Monate
Haft auf Bewährung für V. Die meisten der insgesamt zehn Experten, die das
Gericht anhörte, stützten diese Version.
Gutachter der Verteidigung glaubten jedoch, dass eine bei einer Obduktion
festgestellte Schädigung von Condés Herzen für seinen Tod verantwortlich
sein könnte. In diesem Fall, so das Gericht, treffe den Polizeiarzt keine
Schuld. "Es ist sehr wahrscheinlich, dass seine Herzfrequenz abfiel und der
Hirntod eintrat, weil er Wasser eingeatmet hatte", sagte der Richter. "Aber
kein Gutachter konnte eine andere Todesursache mit Sicherheit
ausschließen."
Im ersten Verfahren 2008 war das Bremer Landgericht noch überzeugt, dass
Condé ertrunken war. Es sprach V. trotzdem frei: Denn der habe wegen
mangelnder Qualifikation seine "objektiven fachlichen Fehler subjektiv
nicht erkennen" können.
Condé war bereits der zweite Brechmitteltote in Deutschland. Schon im
Dezember 2001 war in der Rechtsmedizin der Universitätsklinik
Hamburg-Eppendorf (UKE) der Nigerianer Achidi John nach einer zwangsweisen
Brechmittelvergabe gestorben. Die Staatsanwaltschaft hatte damals
Vorermittlungen geführt, aber niemanden angeklagt.
Gutachter hatten bei der Obduktion von Johns Leiche einen Herzfehler
festgestellt - ähnlich wie bei Condé. Zum Teil handelte es sich um die
gleichen Sachverständigen, die von der Verteidigung auch im Bremer
Verfahren hinzugezogen wurden. Auch der Chef der UKE-Rechtsmedizin,
Pathologe Klaus Püschel, trat in Bremen als Sachverständiger auf.
## Zwangsweiser Brechmitteleinsatz verstößt gegen Folterverbot
Im Juli 2006 hatte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR)
der Beschwerde eines Afrikaners aus Wuppertal stattgegeben, dem 1993 vier
Polizisten und ein Arzt Brechsirup per Magensonde einflößten. Der EGMR
stufte den zwangsweisen Brechmitteleinsatz als "unmenschliche und
erniedrigende Behandlung" ein und entschied, dass er das Folterverbot der
Europäischen Menschenrechtskonvention verletze.
"Die Justiz und die Rechtsmedizin hatten sich verrannt", sagte gestern auch
Kellermann. "Solche Beweissicherung darf es nie mehr geben." Seit Condés
Tod werden in Bremen Verdächtige, die den Brechsirup nicht freiwillig
schlucken, für einige Tage in eine Zelle mit einem Spezialklo gesperrt.
Die Anwältin des Toten, dessen Familie als Nebenklägerin am Prozess
beteiligt war, will in diesen Tagen entscheiden, ob das Urteil überprüft
werden soll.
14 Jun 2011
## AUTOREN
Christian Jakob
## TAGS
Brechmittel
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