# taz.de -- Griechische Kommunalpolitik: Dimitris beschwert sich nicht | |
> Das griechische Parlament ringt um ein neues Sparpaket - die Folgen | |
> werden auch vermögende Gemeinden hart treffen. Ein Besuch im idyllischen | |
> Oraiokastro. | |
Bild: Blick über Oraiokastro: Viel idyllischer kann man in Nordgriechenland ka… | |
ORAIOKASTRO taz | Auf den Hügeln, die sich am Rand von Thessaloniki | |
erheben, weht immer eine frische Brise. Selbst jetzt im Hochsommer kann man | |
es hier gut aushalten. Auch vom Lärm der nahen Industrie- und Hafenstadt | |
keine Spur: Zedern rauschen im Wind, ein Hund bellt, zwei Spaziergänger | |
schwatzen. Ansonsten Stille. | |
Und schließlich der Blick: die ganze Stadt breitet sich wie ein | |
Flickenteppich unter dem Betrachter aus, dahinter die blaue Weite des | |
Golfs, der in die Ägäis übergeht, und in der Ferne der Olymp. Viel | |
idyllischer als in Oraiokastro, einer Randgemeinde Thessalonikis mit 50.000 | |
Einwohnern, kann man im größten Ballungsraum Nordgriechenlands mit mehr als | |
einer Million Menschen nicht leben. | |
"Unsere Einwohner gehören zum oberen Mittelstand", freut sich Oraiokastros | |
Bürgermeister Dimitris Saramantos. "Ihnen geht es zum überwiegenden Teil | |
noch gut." Bürgermeister in einer solchen Oase des Wohlstands zu sein - das | |
ist doch sicher ein Traumjob? Saramantos lächelt nur kurz und nimmt das | |
nächste Dokument von einem Stapel, der so hoch ist, dass sein Gesicht davon | |
verborgen wird. Auf jedes Dokument gehört Saramantos Unterschrift, gelesen, | |
geprüft, für gut befunden, weitergeleitet, abgelehnt. Für den Inhalt jedes | |
einzelnen Papiers trägt der seit Januar regierende Saramantos die | |
Verantwortung, politisch und juristisch. | |
Aufmerksam geht er durch die Seiten, bevor er seine Paraphe auf die letzte | |
Seite setzt. "Wegen der Krise sind wir mit zwei anderen Gemeinden | |
fusioniert worden", erklärt Saramantos, während er dicht bedruckte Tabellen | |
überfliegt. "Wir haben jetzt das dreifache Areal, um das wir uns kümmern | |
müssen, aber keinen Cent mehr im Haushalt." Früher gab es Beamte, die jedes | |
Papier prüften. Heute macht der Bürgermeister vieles einfach selbst. "Wir | |
müssen alle effizienter arbeiten, damit wir zum Schluss das gleiche oder | |
ein besseres Ergebnis haben", sagt Saramantos. Er beschwert sich nicht. | |
Wenn die Frage im Raum steht, wer für die Verschwendung von | |
Milliardenbeträgen in Griechenland die Schuld trägt, dann gibt es zwei | |
übliche Verdächtige: die Politik - und die öffentliche Verwaltung. | |
Saramantos repräsentiert beide. Fast vierzig Jahre nach der | |
Demokratisierung Griechenlands nimmt der Staat Einfluss auf sämtliche | |
Lebensbereiche. Auf fünf Angestellte im privaten Sektor kommt einer im | |
öffentlichen Dienst. In Deutschland liegt die Quote bei 18:1. | |
Die beiden großen Parteien, die konservativ-liberale Nea Dimokratia und die | |
sozialistische Pasok, schachern seit Jahrzehnten um jeden Posten, der | |
innerhalb des lukrativen Systems vergeben wird. Qualifikationen sind | |
bestenfalls zweitrangig. "Das System ist krank", bilanziert Saramantos. | |
"Man war korrupt, hat viele falsche Entscheidungen getroffen und hat das | |
Gemeinwohl aus dem Blick verloren." | |
## Bauland über Nacht | |
Wegen solch deutlicher Worte ist Saramantos gewählt worden - und wohl auch | |
deshalb, weil der Konservative sich mit einem einstigen Widersacher aus dem | |
Pasok-Lager zusammen auf einer unabhängigen Plattform zur Wahl stellte. | |
Anestis Polychronidis, Diplomingenieur, ist jetzt als Saramantos | |
Stellvertreter für Raumplanung und Städtebau zuständig. Doch das vergangene | |
Jahr hat er vor allem mit detektivischen Aufgaben zugebracht: "Unser | |
Vorgänger, der Oraiokastro fast ein Jahrzehnt regiert hat, hat gut zehn | |
Millionen Euro aus der Gemeinde rausgezogen." | |
Schon in der Opposition hatte Polychronidis sich gewundert, warum die | |
Grenzen neu ausgewiesenen Baulands nicht gerade, sondern kreuz und quer | |
durch die Gemeinde verliefen. Recherchen in den Grundbüchern ergaben, dass | |
die Ausweisung genau das Land begünstigte, das dem Bürgermeister oder | |
seinen Verwandten gehörte. Aus seinem wertlosen Brachland machte der | |
Bürgermeister so über Nacht teures Bauland. Wird die Gemeinde klagen? | |
"Nein, da haben wir keine Chance - ein solcher Fall lässt sich vor unseren | |
Gerichten nicht gewinnen." | |
## Zuweisungen reduziert | |
Auf der Fahrt durch Oraiokastro biegt Vizebürgermeister Polychronidis auf | |
einmal scharf rechts ab. "Jetzt kommt mein ganzer Stolz, der erste | |
Kreisverkehr in Oraiokastro", schwärmt er. "Hier war früher eine Kreuzung, | |
an der es immer wieder Unfälle gab - jetzt gibt es keine mehr." Trotzdem | |
wird der erste Kreisverkehr vermutlich auch der letzte bleiben. Denn Geld | |
ist knapp in der Gemeinde. Der Staat hat im vergangenen Jahr die | |
Zuweisungen an Gemeinden um ein Drittel reduziert - "und derzeit rechnet | |
eigentlich niemand damit, dass aus Athen noch irgendwelche Mittel | |
ausgezahlt werden." | |
Weil die eigenen Gelder begrenzt sind und die Steuereinnahmen in Folge der | |
Krise sinken, bleibt nur eins: sparen. "Jetzt wird erst mal nur | |
instandgehalten, gebaut wird nur das, was vollkommen unumgänglich ist." 85 | |
Zeitarbeiter musste die Gemeinde bereits entlassen, seitdem gibt es in den | |
städtischen Gebäuden keine Hausmeister mehr, Rasenflächen bleiben | |
unbewirtschaftet. | |
Im Wettbewerb um zahlungskräftige Einwohner, für Oraiokastro ein wichtiger | |
Einnahmefaktor, sind die Kürzungen im Bauetat ein besonderer Nachteil, | |
warnt Polychronidis: "Hätten wir gewusst, dass die Krise kommt, hätten wir | |
anders geplant - aber jetzt haben wir hier haufenweise Menschen, die sich | |
ein Eigenheim in Oraiokastro gebaut haben und von uns die entsprechende | |
Infrastruktur, Schulen oder Einkaufszentren erwarten." | |
Polychronidis spricht von einem Teufelskreis. Die Mittel für öffentliche | |
Bauvorhaben werden gekürzt oder nicht ausgezahlt, Bauunternehmer werden | |
deshalb nicht bezahlt. Arbeiter in der Baubranche werden entlassen, Bauten | |
verrotten halbfertig am Straßenrand. Die Folgen, sagt Polychronidis, sind | |
für die Einwohner von Oraiokastro zunehmend sicht- und auch spürbar. | |
Zu den Problemen kommen noch die Kosten der Kommunalreform. "Aus drei | |
Gemeinden eine zu machen, die dann auch funktionieren soll, ist zeit- und | |
kostenaufwendig", weiß Bürgermeister Saramantos. Er befürwortet die Reform. | |
Er teilt die Meinung, dass die griechische Verwaltung zu aufgebläht ist. | |
"Aber es gibt kein Konzept, das Ganze ist unausgegoren - man hat das | |
Gefühl, es wird nur halb richtig gemacht, nicht so hundertprozentig, wie es | |
eigentlich sein müsste." Saramantos seufzt, während er weiter Formulare | |
unterschreibt. "Manchmal denke ich, man sollte uns Kommunalpolitiker | |
arbeiten lassen und die Regierung des Landes den Deutschen oder den | |
Japanern überlassen." | |
## Hoffnungsvolles Potenzial | |
Auf der Suche nach neuen Einnahmequellen jedenfalls stehen Saramantos und | |
Polychronidis deutschen Gemeinden in nichts nach. "Wir wollen öffentliche | |
Dächer und Freiflächen für Solarpanele und fotovoltaische Anlagen nutzen", | |
so Saramantos. "Den Strom wollen wir dann verkaufen." In | |
Rindermastbetrieben, die in ländlichen Außenbezirken Oraiokastros stehen, | |
sollen Biogasanlagen errichtet werden. Wie genau die Investitionen | |
finanziert werden sollen, ist noch unklar - denn keine der angeschlagenen | |
Banken ist derzeit bereit, Kredite zu vergeben. | |
Am Glauben der beiden Politiker an ihre Heimatgemeinde ändern solche | |
Details aber nichts. "Wir liegen nahe zu Thessaloniki, haben attraktive | |
Gewerbegebiete und eine wunderbare Hanglage, sodass hier auch in Zukunft | |
noch gebaut werden wird." Vorläufig allerdings leiden auch Bauherren noch | |
unter der Kreditsperre der Banken. Dazu kommt das Überangebot von geschätzt | |
150.000 leerstehenden Gebäuden im Land, den Zeugen der Baublase. Trotzdem | |
ist Anestis Polychronidis überzeugt: "Oraiokastro kann in den nächsten zehn | |
Jahren die beste Kommune Griechenlands werden - das Potenzial haben wir | |
jedenfalls." | |
Wenn es so weit ist, wird vielleicht auch seine Tochter Nena Polychronidou | |
wieder nach Oraiokastro zurückkehren. Jetzt sitzt die 25-jährige | |
Kommunikationswissenschaftlerin, die an der renommierten | |
Aristoteles-Universität gerade einen MBA erworben hat, auf gepackten | |
Koffern. "Ich wollte nie hier weggehen, aber ich sehe für mich keine andere | |
Chance." Von ihren 14 Mitstipendiaten hat die Hälfte sich bereits für den | |
Fortzug entschieden. | |
Polychronidou, die in Dortmund Abitur gemacht hat, zieht es nach Berlin. | |
Die Krisenstimmung hat sie angesteckt - "obwohl, da wo wir wohnen, bekommt | |
man davon nicht so viel mit, ganz ehrlich". Nur wenn die junge Frau Freunde | |
in Thessaloniki oder in Athen besucht, sieht sie, wie schlecht es vielen | |
geht. "Leute haben Hunger oder können ihre Heizung nicht bezahlen - da kann | |
ich es kaum ertragen, wenn Leute hier oben sich beschweren." Hundert Euro | |
weniger im Monat, das sei eben schlimmer, wenn man nur 500 und nicht 2.000 | |
Euro im Monat verdiene. | |
Trotz aller Kritik: Aufgeben will Polychronidou ihre griechische Heimat | |
nicht. "Ich will in Deutschland wieder neue Erfahrungen machen und die dann | |
vielleicht eines Tages auch in meinem Land positiv umsetzen." | |
29 Jun 2011 | |
## AUTOREN | |
Marc Engelhardt | |
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