# taz.de -- Debatte Europa: Europa neu denken | |
> Die Europäische Union steckt jetzt in einer existenziellen Krise. Jürgen | |
> Habermas und Hans Magnus Enzensberger finden darauf ganz verschiedene | |
> Antworten | |
Bild: Das Ganze als Summe seiner Teile: Europa mal anders. | |
Belgien zeigt seit einem Jahr, dass das Land auch ohne eine Regierung genau | |
so schlecht funktioniert wie mit einer. In Ungarn hat die rechtsradikale | |
Regierung, die mit Zweidrittelmehrheit regiert, den ethnischen Minderheiten | |
und den Medien den Kampf angesagt. Unter Berlusconis Bunga-Bunga-Regime | |
werden Flüchtlinge aus Afrika dazu benutzt, andere Staaten der Europäischen | |
Union zu erpressen. Und Dänemark will das Schengen-Abkommen noch | |
verschärfen. Europa gleicht derzeit einem Tollhaus, und als Gemeinschaft | |
sieht es nicht besser aus. | |
Auf die Revolten in Nordafrika haben die EU-Staaten bislang vor allem mit | |
einer Verstärkung der Grenzpolizei zur Abwehr von Flüchtlingen reagiert. | |
Und über allem tobt die Schuldenkrise, die in den Talkshows und in der | |
Boulevardpresse zu einer reinen "Griechenlandkrise" versimpelt wird. | |
Auf diese kritische Lage haben jüngst zwei deutsche Intellektuelle von | |
unterschiedlichem Format reagiert - Jürgen Habermas und Hans Magnus | |
Enzensberger. Habermas referierte im Juni an der Humboldt-Universität in | |
Berlin über die Krise der EU. Er kam gleich zum Kern des Problems, der | |
seiner Meinung nach nicht in der Wirtschafts- und Finanzlage, sondern in | |
der politischen und sozialen Verfassung der EU liegt. Diese beruht auf | |
einer zwischen EU-Parlament und Europäischem Rat geteilten Souveränität. | |
Denn als Staatsbürger delegiert jeder Europäer indirekt "seine" Regierung | |
nach Brüssel, als Unionsbürger schickt er "seine" gewählten Abgeordneten | |
direkt nach Straßburg. | |
## Reine Wirtschaftsgemeinschaft | |
Aber Habermas machte auch deutlich, dass bei dieser "Transnationalisierung | |
der Volkssouveränität" zwei Scharniere fehlen. Das deutsche Grundgesetz | |
(Art. 106) enthält die Norm, die "Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse" | |
durch geeignete staatliche Interventionen zu garantieren. Eine solche Norm | |
fehlt im Lissabonner Vertrag der EU. Das ist ein Erbe der aus der reinen | |
Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) und dem neoliberalen Marktradikalismus | |
hervorgegangenen politischen Union. | |
Nationalstaaten beruhen weniger auf konfusen Vorstellungen von "nationaler | |
Identität" als auf staatsbürgerlicher Solidarität unter jenen, die in einem | |
als Gemeinwesen verstandenen Verband leben. Solidarität entsteht durch | |
Bildung und Aufklärung - also durch einer funktionierende politische | |
Öffentlichkeit, die den Bürger informiert und zur demokratischen | |
Willensbildung befähigt. | |
Diese Aufgaben erfüllen die Bildungsinstitutionen und die | |
Kommunikationsmedien - im Prinzip. Europa ist jedoch noch weit entfernt von | |
einer funktionierenden, transeuropäischen Öffentlichkeit. Über einen | |
Pinguin, der sich nach Australien verirrte, berichten die nationalen Medien | |
ausführlicher und genauer als über das Flüchtlingselend an Europas | |
Peripherie oder die Armut im Süden Europas. In vielen Tageszeitungen wird | |
die Auslandsberichterstattung gekürzt, in manchen Ländern hat keine einzige | |
Zeitung mehr einen eigenen Auslandskorrespondenten unter Vertrag. | |
## Verirrte Pinguine | |
Die Zivilisierung der "barbarischen Freiheit" (Kant) der Staatsgewalten | |
durch "legitim gesetztes Recht" ist in der EU weitgehend gelungen. Aber die | |
Herstellung einer politischen Öffentlichkeit stagniert. Und viele Medien, | |
vor allem die Boulevardpresse und das Privatfernsehen, beschränken ihre | |
Berichterstattung auf nationale Themen. Doch ohne "eine andere Praxis der | |
bestehenden Medien", die die "nationalen Öffentlichkeiten füreinander" | |
öffne, so Habermas, und ohne eine Verpflichtung der EU-Organe auf den | |
Grundsatz, einheitliche Lebensverhältnisse in den Mitgliedsstaaten | |
herzustellen, könne die politische Union nicht gelingen. | |
Diese Herausforderung ging manchen zu weit. So versuchte etwa Jürgen Kaube | |
in der FAZ, Habermas' Argumente mit der platten FDP-Parole zu entkräften, | |
es gehe ihm nur um "Umverteilung" und "Ideale", wo es dem Philosophen doch | |
um Demokratie und Solidarität ging. Dafür durfte in der FAZ dann der oft zu | |
medialen Harlekinaden neigende Hans Magnus Enzensberger unter der | |
Boulevardüberschrift "Wehrt euch gegen die Bananenbürokratie!" eine platte | |
Abrechnung mit Brüssel veröffentlichen. | |
## Ressentiments gegen "Brüssel" | |
Der Essay, der in einer langen Fassung unter dem Titel "Sanftes Monster | |
Brüssel oder die Entmündigung Europas" erschienen ist, lässt keinen der | |
Gemeinplätze aus, die über die EU so im Umlauf sind. Er bestätigt damit | |
indirekt Habermas' Diagnose des Fehlens einer kritischen Öffentlichkeit in | |
Europa. Enzensberger beruft sich auf den "gewöhnlichen Untertan", den | |
"Brüssel" angeblich überfordere. Auch das dürfte - in einer Mischung aus | |
Entmündigung und Selbstentmündigung - eine Folge des Versagens von Bildung | |
und Kommunikationsmedien sein. | |
Enzensbergers Lamento vom "bürokratischen Moloch Brüssel" können auch jene | |
nachplappern, für die Europa im Wesentlichen nur aus der Champions League | |
und dem European Song Contest besteht. Es setzt auf die Ressentiments der | |
Nicht- und Desinformierten, die "Brüssel" mit Vorschriften über die Länge | |
und Krümmung von Bananen oder Gurken gleichsetzen. "Kritik" auf diesem | |
Niveau aber ist nicht nur wohlfeil und banal, sondern nur noch langweilig. | |
Mit solchen Plattitüden verstellt Enzensberger auch den Blick auf die | |
wirklichen Probleme der EU. | |
Dazu gehört zum einen der Mangel des EU-Parlaments an Zuständigkeiten. | |
Dieses Parlament ist eben noch lange kein Kongress der europäischen Völker, | |
sondern ein von der EU-Kommission und vom Europäischen Rat in wichtigen | |
Fragen bevormundetes Organ. Nicht in Brüssel sitzen die "schwerhörigen | |
Vormünder" Europas, wie Enzensberger meint, sondern in Paris, Berlin, | |
Warschau und Rom und unter den dortigen Eliten, die in ihrem jeweiligen | |
nationalen Horizont befangen sind. Auf der anderen Seite übersieht | |
Enzensberger das Doppelspiel der nationalen Regierungen. Diese verteidigen | |
ihre Befugnisse gegenüber EU-Parlament und EU-Kommission mit Klauen und | |
Zähnen und gern hinter verschlossenen Türen. In der Öffentlichkeit aber | |
machen sie gern ein Phantom namens "Brüssel" für die Defizite und | |
Fehlschläge der EU verantwortlich. | |
3 Jul 2011 | |
## AUTOREN | |
Rudolf Walther | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Debatte Europa: Die Geister des Egoismus | |
Fremdenfeindlichkeit, Außenpolitik, Währungskrise, Führungsschwäche. Vier | |
Gründe für einen möglichen Zerfall der Europäischen Union. | |
Regierungsbildung in Belgien: Ein Vorschlag für alle | |
Das Papier kommt bei Flamen und Wallonen gut an. Über ein Jahr nach den | |
Wahlen in Belgien sorgt der Kompromissvorschlag eines Sozialisten für | |
Bewegung. | |
Sparpläne in Zypern: Gefährliche Schieflage | |
Das Engagement zypriotischer Banken in Griechenland bedroht den | |
Staatshaushalt und erhöht die Kreditkosten. Experten befürchten, dass | |
Sparpläne zu spät kommen. | |
Eurogruppe gewährt Griechenland Kredit: 12 Milliarden gegen die Pleite | |
Griechenland erhält einen Milliardenkredit der Europäer und des IWF. Die | |
Staatspleite ist zunächst abgewendet. Nun wird weiter am zweiten Notpaket | |
gearbeitet - bei dem die Banken wichtig werden. | |
Eckpunkte EU-Haushalt: Brüssel will eigene Steuern | |
Das neue EU-Budget soll Europa grüner und innovativer machen. Die | |
Mitgliedstaaten fordern einen niedrigeren Haushalt, das EU-Parlament will | |
mehr Geld für Forschung. |