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# taz.de -- Debatte Europa: Die Geister des Egoismus
> Fremdenfeindlichkeit, Außenpolitik, Währungskrise, Führungsschwäche. Vier
> Gründe für einen möglichen Zerfall der Europäischen Union.
Bild: EU-Außenbeauftragte Catherine Ashton: Auch die Aßenpolitik der Europäi…
Europas Zerfall lässt sich an vier Punkten festmachen: der zunehmenden
Fremdenfeindlichkeit, der Eurokrise, der fehlenden Außenpolitik und der
Führungsschwäche in der EU.
Weder machen wir gerade nur eine schlechte Phase durch noch fallen wir
grundlos dem Pessimismus anheim. Wenn es keinen radikalen Umschwung gibt,
könnte der Integrationsprozess fehlschlagen und die Zukunft Europas wäre
gefährdet.
## 1. Zunehmende Fremdenfeindlichkeit
Der Rauch, der vor drei Jahren von den brennenden Romacamps in Italien
aufstieg, war ein Warnzeichen. Seither haben fremdenfeindliche Kräfte in
Ländern wie Schweden, Finnland, Großbritannien und Ungarn neu Fuß gefasst
und sich in anderen Ländern (Italien, Frankreich, Niederlande und Dänemark)
konsolidiert. Sie bestimmen den politischen Diskurs, verstärken
Grenzkontrollen, erschweren die Immigration und Familienzusammenführung,
begrenzen den Zugriff auf Sozialleistungen. Werte wie Toleranz und
Offenheit sind am Verschwinden.
Europa sollte sich im Spiegel der USA betrachten, die in der Lage waren,
Einwanderer aus der ganzen Welt zu integrieren. Dies trug nicht nur zu
deren Wohlergehen bei, sondern auch zum Wohlergehen des Landes. Stattdessen
schafft Europa Scheinprobleme und bietet dafür Lösungen an, die seinen
Niedergang nur beschleunigen werden.
Die Dummheit und Einfältigkeit vieler Rassisten und Xenophoben hält einige
davon ab, diese ernst zu nehmen. Ihre rassistische und antieuropäische
Agenda verträgt sich überhaupt nicht mit den europäischen Institutionen. Um
ihnen Einhalt zu gebieten, sollten die übrigen Regierungen
fremdenfeindliche Gruppierungen mit Sanktionen belegen, so wie sie auch
Länder sanktionieren, die gegen die Bestimmungen des europäischen
Stabilitätspakts verstoßen.
Aber die schwache Reaktion der europäischen Institutionen und Regierungen
auf die Vertreibung der rumänischen Roma aus Frankreich, die Verletzung der
ungarischen Verfassung oder die Schikanen gegen Immigranten in Italien
beweist, dass wir wenig von ihnen erwarten können, wenn es darum geht, sich
gegen andere Regierungen aufzulehnen.
## 2. Euro-Krise
Das größte Risiko des europäischen Projekts rührt nicht aus der
ökonomischen Krise: Das wahre Problem sind vielmehr die unversöhnlichen
Sichtweisen, wie wir in die Eurokrise geraten sind und wie wir wieder
herausfinden. Für einige - allen voran für Deutschland - sind wir mit einer
Krise konfrontiert, die auf die finanzpolitische Verantwortungslosigkeit
einiger Mitgliedstaaten zurückzuführen ist.
Die Lösung sind Sparmaßnahmen, die im Ton einer moralisierenden und
herablassenden Predigt verkündet werden, als würde das Defizit oder der
Mehrwert eines Landes die moralische Über- oder Unterlegenheit einer ganzen
Gruppe von Menschen widerspiegeln. Vielen wäre ein Europa der zwei
Geschwindigkeiten recht, das nicht auf Leistung, sondern eher auf
Stereotypen beruht; die tugendhaften Sparer protestantischen Glaubens
würden erster Klasse reisen, die verschwenderischen Katholiken in der
zweiten.
Dass sich so unterschiedliche Länder wie das arme Griechenland oder das
reiche Irland in einer ähnlichen Lage befinden, zwingt uns zu einer
differenzierteren Erklärung. Die gegenwärtige Wachstumskrise ist eine
notwendige Phase beim Bilden einer Währungsunion, in der eine einheitliche
Währungspolitik nicht ausreichend durch Steuergesetze und die Regulierung
des Finanzsystems flankiert wird.
Eigentlich müsste man diskutieren, wie die Währungsunion glatter und
ausgeglichener funktionieren und ihre Steuerung durch die Einführung neuer
Instrumente und die Festigung ihren Institutionen verbessert werden könnte.
Stattdessen wird in Gewinner und Verlierer unterscheiden, wobei einige die
gegenwärtige Situation nutzen, um ihr Wirtschaftsmodell anderen
aufzudrücken, als gäbe es in allen Ländern die gleichen Bedingungen und
könnten alle nach den gleichen Regeln funktionieren.
Die Anpassungen und Kürzungen, die mit der jetzigen Rettungsaktion
verbunden sind, werden die Krise mancher Länder nur verschlimmern. Wenn es
nicht bald Arbeit und Wachstum gibt, werden sich die Bürger gegen die
Sparmaßnahmen und die übermäßigen Schulden auflehnen, oder aber die Märkte
und Schuldnerregierungen werden die Länder mit Zahlungsschwierigkeiten vom
Euro zeitweise oder ganz ausschließen.
Sollte es dazu kommen, verwandelt sich die Europäische Union in ein
Werkzeug zur Durchsetzung einer Wirtschaftsideologie ohne jegliche
Legitimität, die mangels Alternative trotzdem befolgt würde. Dies könnte
sogar funktionieren, aber Europa wäre nicht mehr ein politisches,
ökonomisches und soziales Projekt, sondern eher ein Behördenapparat, der
für gesamtwirtschaftliche Stabilität sorgt, aber ein schwerwiegendes
Demokratie- und Identitätsdefizit aufweist.
## 3. Fehlende Außenpolitik
In der Außenpolitik gebraucht Europa seine Macht nur teilweise, selbst in
den dicht angrenzenden Ländern des Mittelmeerraums, wo es sehr stark sein
könnte. Auch in der UN, den G 20 oder dem Weltwährungsfonds, in denen
Europa enorm viel politische und ökonomische Macht besitzt, nutzt es seinen
Einfluss nicht. In diesen Institutionen sind zwar viele europäische Länder
vertreten, aber wenig Europa, und es gibt nur wenige Leitlinien, die mit
den Interessen der Länder übereinstimmen. Mehr als ein Jahr nach dem
Vertrag von Lissabon, der uns eine neue effektivere europäische
Außenpolitik verhieß, liegt diese völlig brach.
Die Reaktion auf die arabischen Revolutionen war der Tropfen, der das Fass
zum Überlaufen brachte. Jahrzehntelang hat Europa den Machterhalt einer
ganze Reihe korrupter und autoritärer Regime unterstützt. Als dann die
Menschen dieser Region ihr Schicksal in die eigene Hand nahmen, reagierte
Europa langsam, ängstlich und träge.
Seinen Führern schien mehr daran gelegen, die eigenen ökonomischen
Interessen und den Zuwandererfluss zu kontrollieren, als den demokratischen
Wandel zu unterstützen. Eine kurzsichtige Entscheidung, denn im Fall eines
Gelingens der arabischen Revolutionen würde die ökonomische Dividende der
Demokratisierung so reichhaltig ausfallen, dass sich sämtliche durch die
Unruhen entstandenen Unkosten erledigt hätten.
Europa sollte seine Glaubwürdigkeit in Bezug auf seine militärische Stärke
wiederherstellen, ebenso bei den für Sicherheit und Außenpolitik
zuständigen Institutionen.
Die Frustration über die neu geschaffenen außenpolitischen Instanzen,
insbesondere die Rolle des Ratspräsidenten Herman Van Rompuy, der Hohen
Repräsentantin der EU, Catherine Ashton, sowie des neuen Europäischen
Auswärtigen Dienstes, ist so groß, dass einige europäische Regierungen
bereits begonnen haben, sich davon abzukoppeln und in Eigenregie zu
arbeiten.
Paradoxerweise erleben wir dort, wo wir eigentlich auf eine Verschmelzung
der europäischen und nationalen Interessen gehofft hatten, einen immer
größer werdenden Bruch: auf der einen Seite eine kraftlose Außenpolitik,
die kaum auf dem Papier Bestand hat. Ohne Einfluss im Nahen Osten, mit
einer durch die Beitrittsverhandlungen gedemütigten Türkei und einem sich
selbst überlassenenen Mittelmeerraum kann Europa nicht mehr als
glaubwürdiger politischer Akteur auftreten.
## 4. Führungsschwäche in der EU
Jahrelang hat sich das europäische Projekt im stillschweigenden
Einverständnis von Bürgern und Eliten entwickelt, die den
Integrationsprozess als vorteilhaft ansahen. Diese Übereinstimmung ist
verloren gegangen. Die Bürger haben den Blankoscheck, den sie den
EU-Institutionen zum Regieren ausgestellt hatten, widerrufen.
Die wirtschaftliche, liberale und deregulative Ausrichtung der europäischen
Konstruktion ist der Politisierung eines Projekts gewichen, das man vorher
am besten in den Händen von Bürokraten und Experten aufgehoben glaubte.
Andererseits gibt es "einen Aufstand der Eliten". Weil die deutschen
Exporte nach China mittlerweile die nach Frankreich übersteigen, wird der
Süden Europas als Wachstumshindernis begriffen. Zudem ist die Erinnerung an
das europäische Engagement verblasst: Nur 38 der derzeit 620 Abgeordneten
saßen schon 1989 im Bundestag.
Ohne Zweifel erleben wir ein neues Deutschland, dem es an Vertrauen in die
EU mangelt. Deutschland exportiert mehr Misstrauen als Vertrauen. Europa
kann sich nicht weiterentwickeln, wenn Deutschland nicht voll und ganz
hinter der europäischen Integration steht. Ohne deutsche Führung oder
andere Alternativen irren José Manuel Barroso, Herman Van Rompuy und
Catherine Ashton durch den europäischen Nebel, unfähig, auch nur eine
schlichte Rede zu halten und die Pro-Europäer an sich zu binden, die immer
noch an das Projekt glauben. In Deutschland, Frankreich, Italien, aber auch
woanders gibt es eine Generation an Führungspersönlichkeiten, von denen
niemand zu oder für Europa spricht.
Kann Europa auseinanderbrechen? Natürlich kann es das. So wie eine Reihe
günstiger Umstände den riskanten Start des Projekts möglich gemacht haben,
könnte eine Verkettung ungünstiger Faktoren dieses zu Grabe tragen. Das
gilt besonders, wenn sich die für seine Verteidigung Verantwortlichen davor
drücken. Viele engagierte Pro-Europäer fürchten, dass, wenn sie ihrem
Pessimismus Ausdruck verleihen, sie den Zusammenbruch beschleunigen.
Dennoch ist es schwer zu glauben, dass der schiere Optimismus reicht, um
Europa von den Geistern des Egoismus und der Fremdenfeindlichkeit zu
befreien. Ohne einen entsprechenden Grad an Entschlossenheit und klare
Ideen von anderer Seite wird Europa scheitern
1 Aug 2011
## AUTOREN
José Ignacio Torreblanca
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