# taz.de -- Umgang mit der Euro-Krise: "Merkel nimmt Parlament nicht ernst" | |
> Die Regierung informiert den Bundestag nur unzulänglich über die | |
> Europa-Krise. Das beklagt der grüne Europa-Abgeordnete Sven Giegold. Das | |
> ist in anderen Ländern besser. | |
Bild: "Die Regierung informiert die Abgeordneten nur unzulänglich über zentra… | |
taz: Herr Giegold, viele Parlamentarier klagen, dass der Bundestag bei der | |
Europa-Krise außen vor bleibt. Zu Recht? | |
Sven Giegold: Ich verstehe und teile diese Kritik. Die deutsche Regierung | |
macht es dem Bundestag sehr schwer, seine Haushaltsverantwortung und sein | |
Mitspracherecht wahrzunehmen. Kanzlerin Merkel nimmt die Parlamentarier | |
nicht ernst. | |
Wie kommen Sie darauf? Das Parlament hat den Rettungsschirm beschlossen, es | |
wird sich im September wieder damit befassen. | |
Die Regierung informiert die Abgeordneten nur unzulänglich über zentrale | |
Entscheidungen. Sämtliche Dokumente der Euro-Gruppe - das Gremium, in denen | |
die Staaten ihre Wirtschaftspolitik koordinieren - stehen unter | |
Geheimhaltung, die Abgeordneten haben keinen Zugang zu ihnen. | |
Die Euro-Gruppe tagt informell. Warum sollte das Parlament Einblick | |
bekommen? | |
Die Grundlage wirklicher Kontrolle ist Dokumenteneinsicht, nur sie befähigt | |
die Parlamentarier, sich ein Urteil zu bilden. Es reicht nicht, wenn sich | |
der Finanzminister oder sein Staatssekretär kurz in den Europaausschuss | |
setzt, und mündlich ein paar Fragen beantwortet. In Deutschland handelt die | |
Regierung in einer Logik internationaler Geheimdiplomatie, dabei geht es | |
hier um europäische Innenpolitik. Gleichzeitig ist der Bundestag selbst an | |
seiner Machtlosigkeit schuld. Er könnte sich problemlos Zugriff | |
verschaffen, er müsste nur das EU-Informationsgesetz ändern. Doch das | |
verhindern die Fraktionen von Union und FDP. | |
Wie sieht die Parlamentsbeteiligung anderswo aus? | |
In Skandinavien agieren Regierungen viel transparenter. In Finnland haben | |
beispielsweise die zuständigen Ausschüsse Zugang zu den nötigen Papieren. | |
Die Parlamentarier sind umfassend informiert und geben ihrer Regierung vor | |
Krisengipfeln genau definierte Handlungsmandate mit auf den Weg. | |
Ist das hilfreich? Hätte die schwarz-gelbe Mehrheit Kanzlerin Merkel ein | |
Mandat vor dem letzten Brüssel-Gipfel gegeben, wäre die wichtige | |
Neuausrichtung des Rettungsschirms verhindert worden. | |
Da haben Sie leider Recht. Viele Abgeordnete von FDP und Union | |
argumentieren verbohrt aus einer rein nationalen Sicht heraus. Wenn | |
FDP-Generalsekretär Lindner jetzt schon wieder Euro-Bonds, also gemeinsame | |
Staatsanleihen, kategorisch ausschließt, ist das unverantwortlich. Lindner | |
denkt nicht europäisch, sondern in Schlagzeilen der Bild-Zeitung. | |
Europapolitik ist also immer parteipolitischen Egoismen unterworfen? | |
Ich bin mir sicher: Wenn der Bundestag mehr Informationen und Rechte | |
bekäme, würden Abgeordnete anders Verantwortung übernehmen. In Dänemark | |
gelingt das aus demokratischer Sicht seit über zehn Jahren sehr gut, selbst | |
wenn mir die Positionen nicht unbedingt gefallen. Weil die Mitbestimmung | |
gut geregelt ist, legt das Land viel weniger Vetos bei europäischen | |
Entscheidungen ein als Deutschland. Sicher ist aber auch: Perspektivisch | |
kann eine schlüssige Wirtschaftspolitik nur eine demokratisch legitimierte | |
europäische Wirtschaftsunion betreiben, die nicht so strak von nationalen | |
Regierungen und ihren dort wahlzyklisch getriebenen Stimmungen abhängig | |
ist. | |
Ist eine Krise nicht per se undemokratisch, weil ein kleiner Kreis von | |
Akteuren schnell entscheiden muss? | |
Krisen sind die Stunde der Exekutive. Wegen des Informationsgefälles, das | |
nicht ganz aufzuheben ist, und wegen der Notwendigkeit, schnell zu handeln. | |
Die deutsche Regierung hält aber nichtmals Minimalstandards der Beteiligung | |
ein. | |
Der deutsche Europa-Diskurs wirkt vor allem angstbesetzt. Warum ist das so? | |
Ich glaube, die deutsche Bevölkerung erkennt durchaus den Wert Europas. | |
Eine Gruppe von Akteuren schürt aber gezielt Ängste - das sind | |
Wirtschaftswissenschaftler, Teile der Wirtschafts- und Boulevardpresse bis | |
hin zu FDP- oder Unionsabgeordneten. Diese Anhänger marktliberaler Theorien | |
glauben, Europa könne funktionieren, wenn die Staaten ihre Schulden in den | |
Griff bekommen, die Märkte abersonst frei gewähren lassen. Sie begreifen | |
nicht, dass es sich hier um eine Überschuldungskrise handelt, die auch | |
durch massive Fehlinvestitionen des privaten Sektors entstanden ist. Diese | |
falsch verstandene ordoliberale Theorie vergiftet die deutsche | |
Öffentlichkeit. Und sie führt dazu, dass der größte und wichtigste Staat | |
das europäische Projekt gefährdet. | |
In Umfragen spricht sich regelmäßig die Mehrheit der Bürger dagegen aus, | |
immer mehr Steuergeld für die Europa-Rettung auszugeben. Ist das nur das | |
Ergebnis von Propaganda? | |
Nein, solche Reaktionen sind absolut verständlich, weil die Bürger sich | |
ärgern, finanziell für die Fehler anderer in Haftung genommen zu werden. | |
Aber in Deutschland herrscht keine antieuropäische Stimmung. In den | |
Umfragen wünschen sich die Menschen ein Europa, das effektiv | |
zusammenarbeitet, das mit einer Stimme spricht, und für seine Werte | |
international eintritt. Deshalb ist es derzeit progressiv und bürgerlich zu | |
gleich, zu verhindern, dass aus dieser Krise eine autoritäre | |
Renationalisierung wird. | |
10 Aug 2011 | |
## AUTOREN | |
Ulrich Schulte | |
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