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# taz.de -- Europa in der Krise: "Auch die Skeptiker brauchen Raum"
> Als Konsequenz aus der Verschuldungskrise fordert Jurist Christian
> Calliess die "Vereinigten Staaten von Europa". Man müsse mit den
> Rechtspopulisten diskutieren.
Bild: Wie weit geht die europäische Solidarität? Proteste in Athen.
taz: Herr Calliess, in diesen Tagen beraten die europäischen Regierungen
das zweite Rettungspaket für Griechenland - möglicherweise nicht das
letzte. Wie weit darf die finanzielle Solidarität zwischen den Staaten in
Europa gehen?
Christian Calliess: Die Frage stelle ich mir auch selbst. Der
Schriftsteller Leon de Winter hat unlängst geschrieben: Ich mag die
Griechen, aber warum sollten wir ihnen Hunderte Milliarden Euro überweisen?
Kennt Ihre persönliche Leidensfähigkeit als Steuerzahler und Staatsbürger
ebenfalls Grenzen?
Um ehrlich zu sein: ja. Selbst in Deutschland fehlt uns an vielen Stellen
Geld. Unsere Universitäten und Schulen stehen unter Spardruck. Trotzdem
stelle ich fest, dass ich meinen Begriff von europäischer Solidarität
erweitert habe. Bislang erstreckte er sich auf die relativ bescheidenen
Finanztransfers zwischen den EU-Mitgliedstaaten, mit denen Straßen gebaut
und Landwirte gefördert wurden. Angesichts der Verschuldungskrise meine ich
nun aber, dass wir die europäische Einigung nicht dadurch an die Wand
fahren sollten, dass wir Griechenland und anderen Staaten finanzielle
Nothilfen verweigern.
Über punktuelle Hilfe gehen die Beschlüsse weit hinaus. Mit dem
europäischen Stabilitätsmechanismus wird eine weitgehende Unterstützung
zwischen den Euro-Staaten vereinbart. Und die Bundesregierung scheint zu
hoffen, dass die Bürger dies nicht merken.
Die Rettungspakete und der Stabilitätsmechanismus sind aus der Not geborene
außergewöhnliche Maßnahmen begrenzter Solidarität. Die gigantischen Summen
können nicht prägend sein für das Europa der Zukunft. Es geht hier nicht um
einen Länderfinanzausgleich wie in Deutschland, bei dem zwischen den
wohlhabenden und ärmeren Bundesländern permanent große Summen umverteilt
werden, um einheitliche Lebensbedingungen zu ermöglichen. Die Finanzhilfen
für überschuldete Staaten bleiben auch im Rahmen des permanenten
Stabilisierungsmechanismus ab 2013 Ultima Ratio und können nur nach
einstimmigem Beschluss der Euro-Finanzminister unter strengen Auflagen und
mit Zustimmung des Bundestages gewährt werden. So ist gesichert, dass die
Solidarität keine Einbahnstraße bleibt.
Sollte die Bundesregierung die Bürger nicht ernst nehmen und mit der
Lebenslüge Schluss machen, dass Europa ohne umfangreiche gegenseitige
Unterstützung auskommt?
Die EU ist bis heute kein Bundesstaat, sondern ein föderaler Verbund von
Mitgliedstaaten. Deshalb kann die Solidarität nicht so weit gehen wie der
Länderfinanzausgleich innerhalb Deutschlands. Es muss und wird auch künftig
eine Grenze der gegenseitigen finanziellen Verantwortung geben, die
deutlich niedriger liegt.
Nach dem Zweiten Weltkrieg stand Europa für Frieden und die Rückkehr
Deutschlands zu den Werten des Westens. Diese Geschichte hat an Spannung
verloren. Welche Erfolgsstory kann man heute erzählen, um die Bürger vom
Sinn Europas zu überzeugen?
Ja, was wäre heute die Legitimation Europas? Ich glaube, über die
fortbestehende Bedeutung für die Wahrung des Friedens in Europa hinaus ist
es die Selbstbehauptung unserer Sozialordnung und Werte.
Selbstbehauptung gegenüber wem?
Gegenüber autoritären Staaten, aber auch gegenüber einem globalisierten
Markt, der weniger Regeln kennt, als wir sie uns wünschen. Europa ist einen
eigenen Weg zwischen Markt und Staat gegangen. Dieses ausbalancierte und
faire Sozialmodell steht in der internationalen Konkurrenz jedoch unter
starkem Druck. Nur die Europäische Union als Ganzes hat die Chance, es zu
verteidigen. Holland könnte das nicht allein, Frankreich nicht und
Deutschland ebenso wenig.
Trotzdem erscheint Europa heute als nicht besonders attraktiv. Liegt das
nicht daran, dass die EU immer ein Elitenprojekt war, das die Regierungen
vorangetrieben haben, ohne die Bürger richtig einzubeziehen?
Europa begann nach dem Zweiten Weltkrieg nicht nur als Elitenprojekt. Für
die Generation unserer Eltern war die Versöhnung mit den ehemaligen
Feindesstaaten von hoher Bedeutung. Die Bilder, auf denen junge Leute
Schlagbäume an der Grenze zwischen Deutschland und Frankreich niederreißen,
wurden ja nicht gestellt. Und heute wird oft verkannt, dass die EU weitaus
demokratischer ist als früher. Beispielsweise hat das EU-Parlament mit
jeder Vertragsänderung mehr Kompetenzen erhalten. Gerade deshalb ist es ein
trauriges Paradoxon, dass die Bürger nun eher eine Distanz gegenüber der EU
verspüren.
Ist das Demokratieproblem der EU grundsätzlich lösbar?
Ich frage Sie: Gibt es überhaupt ein Demokratieproblem? Wir, die EU-Bürger,
wählen das EU-Parlament in direkter Wahl. Dieses leidet zwar an einem
entscheidenden Defizit, weil es die Kommission, also die EU-Regierung,
nicht vollumfänglich wählen darf, es verfügt aber gleichwohl über
weitreichende Mitgestaltungs- und Kontrollbefugnisse. Neben dem
EU-Parlament existiert zudem ein zweiter Strang der Legitimation. Mittels
ihrer nationalen Parlamente kontrollieren die Bürger die nationalen
Minister im EU-Rat. Dieser macht die Gesetze zusammen mit dem Europäischen
Parlament.
Dennoch bemängeln viele Abgeordnete des Bundestages, dass sie die
Rettungspakete etwa für Griechenland allenfalls abnicken können. Wie ließe
sich dieser Missstand beheben?
Bei den Hilfen in der Verschuldungskrise wirkt das EU-Parlament praktisch
nicht mit. Auf diesem Gebiet hat es bisher kaum Entscheidungsbefugnisse.
Die Regierungen gestalten die Hilfen vor allem zwischenstaatlich. Die
Kontrolle und Legitimation wird damit über die nationalen Parlamente, in
Deutschland also den Bundestag erbracht, wenn auch unter großem zeitlichen
Druck.
Es entsteht aber der Eindruck, dass der Bundestag nur pro forma einbezogen
wird, ohne die wirkliche Freiheit zu haben, "Nein" zu sagen. Warum
überträgt man dem EU-Parlament nicht die volle Gesetzgebungskompetenz, um
eine umfassende demokratische Legitimation zu schaffen?
Weil die Europa-Skeptiker auch in Deutschland diesen Prozess blockieren. In
allen Parteien gibt es große Widerstände, weitere nationale Kompetenzen
nach Europa zu übertragen. Vor allem das Bundesverfassungsgericht hat dies
in seinem Urteil zum Vertrag von Lissabon weitgehend ausgeschlossen.
Wieso gelingt es nicht, die nationalen Politiker und die Bürger von den
Vorteilen einer vollständigen Demokratie auf europäischer Ebene zu
überzeugen?
Europa ist nicht irgendein Produkt, das wie Bionade beworben werden kann.
Die EU ist ein sehr kompliziertes Gebilde. Sie ist etwas originär Neues -
ein föderaler Verbund, viel demokratischer als etwa die Vereinten Nationen
oder der Internationale Währungsfonds. Darauf können wir eigentlich stolz
sein. Gleichwohl ist diese Komplexität unglaublich schwer zu erklären.
Deshalb diskutieren wir auch europäische Probleme meist nur national. Die
gesamteuropäische Debatte entwickelt sich nur langsam, aber in Ansätzen ist
sie bereits entstanden. So debattieren wir gegenwärtig in Deutschland die
griechische Haushaltspolitik - ein neues Phänomen.
Entsteht hier jetzt die europäische Öffentlichkeit, die eine Voraussetzung
ist für mehr Demokratie und Legitimation?
Möglicherweise ist das so, und wir können es heute noch nicht richtig
einschätzen. Manches sieht man ja erst im Rückblick.
Wie sieht Ihre positive Vision aus, die Sie den Europa-Skeptikern
entgegenhalten?
Vielleicht sollten wir einfach sagen: Wir wollen die von Winston Churchill
schon 1946 geforderten Vereinigten Staaten von Europa. Dieses große Ziel
könnte zu neuem Schwung und neuer Identifikation führen. Das lohnte die
Auseinandersetzung. Denn wir sollten viel offensiver über Europa streiten.
Auch die Europa-Skeptiker brauchen dabei Raum. Es ist legitim zu sagen: Ich
empfinde keine Solidarität mit Griechenland. Dann muss die Regierung eine
Antwort finden und erklären: Einen guten Teil unseres Wohlstandes
erwirtschaften wir im europäischen Binnenmarkt, durch unsere Exporte unter
anderem nach Griechenland. Ohne Europa wären wir weniger wohlhabend.
Diese Offenheit der Debatte wäre für uns neu. Bisher beinhaltet die
deutsche Staatsräson die quasi automatische Zustimmung zur europäischen
Integration.
Wenn die Euro-Skeptiker Europa ablehnen, kann man dies als Bestandteil
einer vertieften europäischen Debatte betrachten. Nicht nur die
ökonomische, sondern auch die politische Integration ist inzwischen so weit
vorangeschritten, dass dies neue Ängste hervorruft. Selbst der
Rechtspopulismus ist ein Bestandteil dieser europäischen Diskussion. Die
Skeptiker sitzen ja teilweise auch im Europäischen Parlament, wo sie sich
notwendigerweise auf den Gegenstand ihrer Ablehnung einlassen müssen.
Wie sieht die EU in 20 Jahren aus?
Einerseits werden wir mehr Europa haben als heute, andererseits weniger.
Die Integration geht weiter, aber sie wird sich verändern. Verschiedene
Gruppen von Staaten werden mit unterschiedlicher Geschwindigkeit
vorangehen. Eine Gruppe wird dann vermutlich eine gemeinsame Außenpolitik
betreiben oder das Rentenalter einheitlich festlegen. Andere Staaten werden
dagegen nicht in der Lage sein, an allen Aspekten der gemeinsamen Politik
teilzunehmen. Proteste der Bevölkerung wie gegenwärtig in Griechenland
können sogar dazu führen, dass ein Land aus der Integration teilweise
wieder aussteigt. Europa wird selbstverständlicher, aber auch heterogener
und offener.
19 Jun 2011
## AUTOREN
Hannes Koch
Stefan Reinecke
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