# taz.de -- taz-Serie Berliner Bezirke (1): Lichtenberg: Orte der Weltgeschichte | |
> Sein Image hat Lichtenberg weg: Nazis, Stasi, Plattenmonster. Gegen diese | |
> Stigmata hat der Ostbezirk ein neues, breit gefächertes Kulturkonzept | |
> aufgelegt - mit Erfolg. | |
Bild: Einer dieser Weltgeschichts-Orte: Ein Bild im Deutsch-Russischen Museum i… | |
Der Berliner Bezirk Lichtenberg? Macht man eher einen Bogen drum rum. Und | |
sein Stadtteil Hohenschönhausen? Vergiss es! Nazis, Stasi, Platte lauten | |
die Gründe, warum auf Lichtenberg niemand so richtig abfährt. Wirklich | |
nicht? | |
Wo Lichtenberg auch wie Lichtenberg aussieht, liegt der Anton-Saefkow-Platz | |
mit der gleichnamigen Bibliothek. Die Stadtteilbücherei zwischen den | |
typischen Plattenbaumonstern ist renoviert worden, Wände wurden | |
herausgerissen, Licht strömt durch die hohen Fensterscheiben zwischen die | |
Bücherregale und auf die Lesetische. | |
In die überregionalen Schlagzeilen schaffte es die | |
Anton-Saefkow-Bibliothek, erhielt sie doch Anfang Juni als erste Berliner | |
Institution die vom Deutschen Bibliotheksverband vergebene Auszeichnung | |
"Bibliothek des Jahres". Der Preis ist mit 30.000 Euro dotiert und wird im | |
Herbst verliehen. Besonders herausgehoben in der Jury-Begründung wurde das | |
Engagement der Bücherei für russischsprachige Einwanderer, für ältere | |
Bürger und das in den Bezirk hineinwirkende Kulturprogramm. | |
Christiane Bernhardt, stellvertretende Leiterin der Bibliothek, führt an | |
einer Galerie mit Bildern einer Ausstellung vorbei bis hinauf in den ersten | |
Stock zwischen die Bücherwände und den Vortragssaal, von wo aus die | |
Plattenwüste besonders eindrucksvoll hereinblickt. "Wir sind ein | |
regelrechter Treffpunkt für bezirkliche Angelegenheiten fast jeder Art", | |
sagt sie und weist auf die Sprechstunde der Bürgermeisterin sowie auf die | |
mobilen bezirklichen Serviceeinrichtungen hin, die hier mehrmals im Monat | |
Station machen. | |
140.000 Besucher zählte die Anton-Saefkow-Bibliothek 2010, darunter | |
befanden sich nicht nur Bücherwürmer. Wer einen neuen Pass brauche, komme | |
in die Bibliothek, ebenso wer heiraten oder seine neue Anschrift anmelden | |
wolle. Und wer russischsprachige Medien nutzen möchte, werde in seiner | |
Muttersprache beraten und könne aus über 3.000 Angeboten auswählen, sagt | |
Bernhardt. Lichtenberg hat nicht nur seine "Russenoper", sondern auch eine | |
Russenbibliothek, wie Kenner der Szene an der nahen Currywurstbude wissen. | |
Um die Stigmata Nazis, Stasi und Platte endlich loszuwerden, hat der Bezirk | |
in den vergangenen Jahren so enorm mit neuen Kultureinrichtungen und | |
Angeboten für Künstler gepunktet wie kein zweiter in Berlin. Für seine vier | |
Bibliotheken, darunter die große Anna-Seghers-Bibliothek in | |
Hohenschönhausen, gibt Lichtenberg mit 400.000 Euro jährlich den höchsten | |
Etat in der Stadt aus. | |
Unter den drei Musikschulstandorten gehört die Schostakowitsch-Musikschule | |
in Karlshorst mit über 6.000 Nutzern zum modernsten in der Republik. Das | |
kreativwirtschaftliche Pilotprojekt der "Heikonauten" in der Sewanstraße im | |
Schatten der Platte ist ein innovativer kultureller Anziehungspunkt im | |
Bezirk geworden: das Theater an der Parkaue, das Mies-van-der-Rohe-Haus, | |
das Museum Karlshorst und die Stasi-Gedenkstätte Hohenschönhausen. | |
Katrin Framke (parteilos, für Die Linke) leitet seit fünf Jahren das | |
Kulturamt des Bezirks "aus Leidenschaft", wie sie sagt. Framke hat sich mit | |
Bezirksbürgermeisterin Christina Emmrich (Linke) aufgemacht, den verrufenen | |
renitenten Stasibezirk in eine "Bürgerkommune" und besonders in einen mit | |
neuen kulturellen Highlights zu verwandeln. "In Lichtenberg befinden sich | |
Orte, von denen ging quasi Weltgeschichte aus." Framke listet das | |
Deutsch-Russische Museum in Karlshorst und das Schloss Friedrichsfelde auf, | |
kommt zum Bauhaus-Architekten Mies van der Rohe, bekannten Antifaschisten | |
bis zur Stasi und dem Dramatiker Heiner Müller. Der lebte in der | |
Nachbarschaft des Tierparks. | |
Was Framke aber wichtiger ist: Neben dieser Gedenklandschaft konzentriert | |
sich der Bezirk heute auf andere kulturelle Einrichtungen und | |
zukunftsträchtige Strategien, die helfen sollen, das Image zu verändern. In | |
die gründerzeitlichen Häuser der Victoriastadt hat Framke Ateliers und | |
Galerien gelotst. Die Volkshochschulen wurden zu modernen | |
Weiterbildungseinrichtungen umgebaut. In die kulturelle Kinder- und | |
Jugendarbeit, in ein Jugendorchester investiert der Bezirk zusätzliche | |
Mittel. "Die Kultur hat sich weiterentwickelt, es gibt neue Orte für | |
Kreative und unverbrauchte Bereiche wie die an der Herzbergstraße. Dort ist | |
das Klima heute so wie im Tacheles kurz nach dem Fall der Mauer - irre", | |
findet Framke. | |
Wenn 2012 noch das "Kommunale Kulturhaus" mit einem Veranstaltungssaal, | |
einer Studiobühne und Galerie an der Treskowallee eröffnet, "haben wir | |
einen weiteren Lichtenberger Standort mit überregionaler Ausstrahlung", | |
schwärmt sie und signalisiert zugleich, dass sie nach der Wahl des | |
Bezirksparlaments im Herbst "gern weitermachen würde". | |
Man könnte hieraus die Sorge herauslesen, dass am 18. September 2011 die | |
Linke in Lichtenberg nicht mehr so gut abschneidet wie 2006 (siehe | |
Bericht). | |
Zudem weist die Bilanz der Stadträtin für die Kultur und Bürgerdienste ein | |
paar Kratzer auf: Das Personal in den Bürgerämtern wurde heruntergefahren, | |
die Schlangen der Wartenden sind länger geworden. Das Theater Karlshorst | |
aus Zeiten der Roten Armee mit 650 Plätzen steht weiter leer. Wenigstens | |
konnte Lichtenbergs Wirtschaftsstadtrat Andreas Prüfer jetzt | |
EU-Fördermittel für ein Projektteam loseisen, das ein Konzept für die | |
berühmte Bühne entwickeln soll. | |
An einem abgestimmten Zukunftskonzept zwischen dem Bezirk und der | |
Forschungs- und Gedenkstätte Normannenstraße mangelt es, die | |
antifaschistische Gedenkkulisse in Lichtenberg setzt Staub an. Schließlich | |
fehlt es an einer lebendigen Kinokultur im Bezirk. | |
So breit das Kulturangebot Lichtenbergs gefächert ist, so sehr sucht man | |
nach einem Leitbild kultureller Arbeit. Sicher, ein Manko besteht in der | |
Unterschiedlichkeit der vielen Stadtteile von Karlshorst über | |
Friedrichsfelde bis nach Wartenberg und Neu-Hohenschönhausen. Andreas | |
Geisel, Baustadtrat und SPD-Spitzenkandidat im Bezirk, fordert eine | |
stärkere Erkennbarkeit von spezifisch Lichtenberger Kultur. Deren Vielfalt | |
"muss im öffentlichen Leben deutlicher sichtbar werden". Wer weiß, was die | |
Lichtenberger Jugendkunst-Schule anbietet? Wer kennt die Ausstellung im | |
Kesselhaus-Museum? Und dass es dort ein Deutsches Fußballmuseum gibt, ist | |
auch nicht weltbekannt. | |
4 Jul 2011 | |
## AUTOREN | |
Rolf Lautenschläger | |
## TAGS | |
Schwerpunkt Wahlen in Berlin | |
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