# taz.de -- taz-Serie Berliner Bezirke (4): Marzahn-Hellersdorf: Brückenfunkti… | |
> Unter Protest zog die Alice Salomon Hochschule 1998 aus Schöneberg nach | |
> Hellersdorf. Inzwischen hat sie ihren Platz im sozialen Problembezirk | |
> gefunden. Die Studenten pendeln trotzdem lieber, statt sich anzusiedeln. | |
Bild: Das Hochschulgebäude in Hellersdorf | |
Vom Alexanderplatz sind es mit der U-Bahn 30 Minuten nach Hellersdorf. Der | |
Zug ist voller junger Leute. Viele haben Stöpsel im Ohr, gucken verschlafen | |
auf ihr Handy oder auf den TV-Monitor, auf dem Werbung flimmert. Am | |
U-Bahnhof Hellersdorf angekommen, haben alle das gleiche Ziel: die Alice | |
Salomon Hochschule (ASH) in der Hellen Mitte. | |
Die Helle Mitte ist ein Stadtteilzentrum in Hellersdorf-Nord. In der Nähe | |
wohnen 90.000 Menschen. Das aus fünfstöckigen Plattenbauten bestehende | |
Siedlungsgebiet erwuchs 1986 quasi aus der Retorte. Das Zentrum wurde erst | |
nach der Wende gebaut. Auf dem 31 Hektar großen Areal stehen Büro- und | |
Geschäftsräume, ein Ärzte- und Einkaufszentrum, das Hellersdorfer Rathaus, | |
eines der größten Multiplex-Kinos Berlins und eben auch die ASH. | |
2.500 Studenten sind in der Hochschule für soziale Arbeit, Gesundheit, | |
Erziehung und Bildung eingeschrieben. Dazu kommen 65 ProfessorInnen, 165 | |
Lehrbeauftragte und 104 VerwaltungsmitarbeiterInnen. | |
"Am Anfang war Eiszeit", sagt Heiko Tille. Der schlanke Mann, der seine | |
Haare zu einem Zopf zusammengebunden hat, ist Regionalleiter des | |
Jugendamtes Hellersdorf-Nord und erinnert sich gut an den Zuzug der ASH | |
1998. "Die Kontakte zwischen Hochschule, Nachbarschaft und bezirklichen | |
Einrichtungen waren gleich null." | |
Die Hochschule, heute in einem lichten Gebäude mit Innenhof am | |
gleichnamigen Alice-Salomon-Platz untergebracht, hatte zuvor in der | |
Goltzstraße in Schöneberg residiert. Die Namenspatronin Alice Salomon hatte | |
dort 1908 die Soziale Frauenschule gegründet, mit den Jahrzehnten war der | |
Altbau in Schöneberg zu klein geworden. Die Hochschule könne das | |
Hellersdorfer Stadtzentrum beleben, dachten sich die Planer. | |
Die Rechnung wurde jedoch ohne die Wirtin gemacht: "Die damalige Rektorin | |
hat den Umzug als Zwangsverpflichtung empfunden", erzählt Tille. Das | |
negative Klima habe sich auf die Studentenschaft übertragen. "Die haben | |
sich nach ihren Seminaren gleich wieder in die U-Bahn geflüchtet." | |
Die inzwischen pensionierte Rektorin, Christine Labonté-Roset, war mit | |
ihrer Meinung, Sozialarbeit gehöre ins Zentrum einer Stadt, nicht allein. | |
Der Umzug nach Hellersdorf war 1992 vom Senat beschlossen worden. 90 | |
Prozent der Hochschulmitglieder waren dagegen. Zu diesem Zeitpunkt war | |
Reinhard Wolf noch Rektor. Er gehörte zu den Wenigen, die sich den | |
Protesten nicht anschlossen. Zwei Jahre später wurde er nicht | |
wiedergewählt. Seine Nachfolgerin verweigerte bei der Grundsteinlegung 1995 | |
sogar den symbolischen Hammerschlag. | |
Der Alice-Salomon-Platz wird von einer mehrspurigen Straße und vier | |
Straßenbahnschienen zerschnitten. Heimelige Gefühle kommen hier nicht auf, | |
Bänke und Bäume sind an einer Hand abzuzählen. "Wenn man sich die | |
Architektur anguckt, hat man das Gefühl, der Mensch wird nur noch in seiner | |
Funktion als Konsument gesehen", sagt Oliver Fehren, ASH-Dozent für | |
Sozialraumorientierung. Beim Monitoring Soziale Stadtentwicklung werden | |
berlinweit Sozialdaten wie Kinderarmut, Arbeitslosigkeit und der Anteil an | |
Hartz-IV-Empfängern erhoben. 2010 belegte Hellersdorf-Nord den letzten | |
Platz. | |
Genau der richtige Ort also für eine Hochschule mit sozialem Schwerpunkt. | |
Doch deren Integration hat gedauert. Heute sind die Umzugsgegner unter den | |
Lehrkräften im Ruhestand, "die neuen Dozenten sind viel offener", freut | |
sich Tille, der zusammen mit der Hochschulprofessorin Bettina Völter | |
Gründungsmitglied eines Kooperationsforums ist, das 2008 ins Leben gerufen | |
wurde. Mitarbeiter vom Quartiersmanagement Hellersdorf-Nord, Freie Träger | |
und Anwohner gehören zu den Akteuren. Gemeinsam wollen sie die | |
Möglichkeiten des Umfelds besser ausschöpfen. | |
Tille zählt einige angestoßene Projekte auf: eine Litfaßsäule vor der | |
Hochschule, auf der Anwohner und Studenten allerdings nur wenig | |
kommunizieren; Stadtteilführungen durch den Bezirk, die sich | |
"Spazierblicke" nennen. Ein Polizist hat zu Unfallschwerpunkten geführt, | |
Kinder zu ihren Lieblingsorten. Es gibt sogenannte Wissenschaftscafés, bei | |
denen sich Theoretiker und Praktiker austauschen können. | |
Theda Borde leitet die ASH seit April 2010. "Der Umzug war umstritten", | |
räumt sie ein. "Dass es eine Eiszeit gab, würde ich aber bestreiten." | |
Konsolidierungsphase träfe es besser. Die Hochschule habe in Hellersdorf | |
erst ankommen müssen. "Wir sind eine Bundeshochschule und keine | |
Kiezhochschule", sagt Borde. Gleichzeitig stellt sie klar: Dass sich die | |
Hochschule in einem sozialen Problemviertel befindet, "bedeutet die | |
gesellschaftliche Verpflichtung, unsere Rolle einzunehmen". | |
Sie erzählt von Forschungsprojekten der Studenten im Bezirk, von einem | |
Spielplatz, der im Rahmen eines Seminars mit Drittmitteln gebaut werde, von | |
diversen Praktika, die Studenten in Hellersdorf und Marzahn ableisteten. | |
Gerade habe eine Studentin eine Bachelorarbeit zu dem Thema vorgelegt: | |
"Teanagerschwangerschaften - Hilfebedarf und Angebote im Bezirk | |
Marzahn-Hellersdorf aus Expertensicht". Und Borde berichtet, dass im Herbst | |
der erste Spatenstich für das Kinderforschungszentrum Helleum erfolgt, an | |
dem die ASH mitwirkt. | |
Tille sagt, er würde sich wünschen, dass der Austausch zwischen Praktikern | |
und Wissenschaftlern noch größer werde, als Horizonterweiterung. "Es geht | |
nicht darum, dass die unsere Arbeit machen sollen." Es klingt, als meine | |
sie etwas Ähnliches, wenn Rektorin Borde sagt, die ASH könne vielleicht die | |
Funktion eines Brückenzentrums übernehmen. | |
Es ist Mittagszeit. Schupfnudeln, Sauerkraut und Rindfleisch für 3,95 Euro | |
stehen in der ASH-Kantine auf der Karte. Jeder kann dort essen. "Hat gut | |
geschmeckt", sagt eine Rentnerin, die mit vollen Einkaufstaschen davoneilt. | |
Vor der Hochschule sitzt eine Gruppe von Erstsemestern und raucht. "Die | |
wenigsten von uns wohnen hier", verrät eine Studentin. Hellersdorf habe | |
nicht so ein Flair wie Kreuzberg, Friedrichshain oder Prenzlauer Berg. | |
Allerdings wisse sie über den Bezirk auch nicht viel. Neulich habe ihr Kurs | |
mit dem Dozenten Fehren eine Sozialraumbegehung gemacht. "Wir haben | |
gestaunt, wie viele Grünflächen und Spielplätze es gibt." | |
14 Jul 2011 | |
## AUTOREN | |
Plutonia Plarre | |
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