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# taz.de -- Konkurrenz-Blog zur Lokalzeitung: Ein Mann, ein Ort
> Weil ihm die Lokalzeitung zu unkritisch ist, gründete Reporter Hardy
> Prothmann in seiner Heimat Heddesheim ein Blog. Nicht alle schätzen seine
> scharfen Texte – aber alle lesen sie.
Bild: Die Zukunft des Lokaljournalismus?
HEDDESHEIM taz | Der Star des Abends kommt zuletzt: Hardy Prothmann, 44
Jahre, breite Stirn, Bizeps eines Boxers. Seine Waffen: ein Kugelschreiber
und ein Notizblock. Aufrecht setzt er sich auf einen der hohen Stühle, die
in dem neuen Bürgersaal einen Kreis bilden wie in einer Arena.
Prothmann ist Journalist und Gemeinderat. Sein Hauptfeind, der Heddesheimer
Bürgermeister, sitzt ihm gegenüber. Seine Nebenfeinde sitzen rechts (CDU),
links (SPD) und hinten auf der Pressebank, ein Mitarbeiter des Mannheimer
Morgens. Thema: der Relaunch der städtischen Website. Zuerst referiert ein
Experte, dann sind Fragen erlaubt. "Wie viele Bürger haben Sie denn
gefragt, wie sie die Seite gern hätten?", fragt Prothmann. "Na ja …",
druckst der Experte, Bürgermeister Michael Kessler bewegt ungehalten den
Kopf. "Also wurde niemand befragt", stellt Prothmann fest. "Auch wir in der
Verwaltung sind Bürger", antwortet der Bürgermeister gereizt.
Prothmann nickt und unterdrückt ein Lächeln. Hinter ihm: neugierige
Besucher, die auf seine nächste Provokation warten. Früher kamen nur ein
paar Rentner zu den Sitzungen der 12.000-Einwohner-Gemeinde, inzwischen
sind es jedes Mal ein paar Dutzend Zuhörer. Alle anderen können am nächsten
Tag im Internet auf dem [1][heddesheimblog] nachlesen, was den Ort bewegt -
von städtischen Sparmaßnahmen bis zur Rettung von drei Amseln aus einem
Auto. Nachrichten, für die bisher der Mannheimer Morgen das Monopol besaß;
eine Zeitung, für die Prothmann in seiner Anfangszeit als Journalist selbst
schrieb.
In Heddesheim kommt der neue Konkurrent unterschiedlich an. "Prothmann
macht einen auf Gott", poltert ein CDU-Gemeinderat. "Schreiben Sie ruhig
meinen Namen. GER-WIEN. Ich bin nicht wie die Kommentatoren, die sich auf
Prothmanns Blog anonym zu Wort melden, ich stehe zu meiner Meinung!" Eine
Besucherin Anfang sechzig schaut sich erst um, bevor sie flüstert: "Was im
Blog steht, unterschreib ich." Endlich seien sich die Gemeinderäte nicht
mehr ständig einig.
## Gegen die lokale "Hurra-Berichterstattung"
Im Frühjahr 2009 kündigt die Logistikfirma Pfenning an, ihren Sitz nach
Heddesheim zu verlegen - ein Hundert-Millionen-Euro-Projekt, über das die
Honoratioren jubeln. Prothmann, bis dahin freier Journalist unter anderem
für Spiegel Online und die Zeit, ärgert sich über die
"Hurra-Berichterstattung" der Lokalzeitung und recherchiert selbst. Zuerst
auf [2][blogger.de], dann auf dem heddesheimblog veröffentlicht er Texte,
die ein unerfreuliches Bild der Firma zeichnen. Prothmann sieht
Lärmbelästigung voraus, zerstörte Landschaften und Ausbeutung durch
Leiharbeit. Bald bildet sich die Initiative Neinzupfenning, Gegner
markieren das 30 Fußballfelder große Baugelände mit Luftballons.
Befürworter und Gegner verbindet eines: Alle klicken fleißig auf den neuen
Blog. Monat für Monat steigt die Zahl der Leser, mit den Lesern kommen die
Anzeigenkunden. Eines Tages ruft sogar die Marketingchefin von Pfenning an,
will wissen, was eine Anzeige auf dem Blog kostet. Am Ende einigen sie
sich, und Pfenning schaltet kurz vor der entscheidenden Bürgerbefragung
zwei Wochen lang Werbung. "Ich habe zugesagt, weil Anzeigengeschäft und
Redaktion voneinander getrennt sind", sagt Prothmann. Allerdings verlangt
er mehr als das Zehnfache des üblichen Tarifs. Bis heute freut er sich über
seinen Coup.
Eine hauchdünne Mehrheit stimmt für die Ansiedlung der Firma, trotzdem
schreibt Prothmann sich in Fahrt. Keilt gegen den Bürgermeister, dem er die
Feststellung "Die Gemeinde bin ich" entlockt, gegen CDU-Gemeinderäte und
weiter gegen Pfenning, jetzt mit dem Geld von Pfenning. Kritisiert den
Einsatz von Pflanzenschutzmitteln auf Gemeindewiesen und berichtet über
Schüler, die auf Facebook mit Hitlerbärtchen posieren. Attackiert den
Mannheimer Morgen, der von Vereinen eingeschickte Texte nicht deutlich als
solche kennzeichnet. "Ich bin die Zukunft des Lokaljournalismus", behauptet
Prothmann in einem Interview mit [3][meedia.de]. Sein Konzept: "Eine
Mischung aus Spiegel, Zeit und Lokalzeitung." 2009 verleiht ihm das medium
magazin den dritten Platz als Journalist des Jahres in der Kategorie
Lokales.
## "Wer mich angreift, kriegt auf die Fresse"
In Heddesheim wächst dagegen die Zahl seiner Feinde. An einem
Septemberabend 2009 legt jemand ein Nagelbrett vor sein Auto, ein Stück
Dachlatte gespickt mit fingerlangen Nägeln. Seine Frau Sabine steigt ein,
fährt an, peng. Wenig später keucht ein anonymer Anrufer Beleidigungen in
die Leitung.
Prothmann ist keiner, der die andere Backe hinhält. "Wer mich angreift,
kriegt voll auf die Fresse zurück", sagt er, während er am Küchentisch Tee
serviert. Diplomatie ist nicht seine Stärke. Dafür kann er Kung-Fu,
schließlich hat er als Türsteher jahrelang alleine eine Disko verteidigt.
Einmal machte sich ein Gemeinderat über Prothmanns Schwerhörigkeit lustig,
mit der Folge, dass ein paar Stunden später das ganze Dorf im Blog lesen
konnte, der Witzereißer rieche aus dem Mund. Drei Abmahnungen und eine
einstweilige Verfügung hat Prothmann in seinem Leben kassiert - alle in
Heddesheim.
Oft kracht es, weil er selbst Gemeinderat ist. Ursprünglich war er
unabhängiger Kandidat der FDP, aber inzwischen sitzt er lieber bei den
Grünen, weil die auch gegen Pfenning sind. "Journalist und Gemeinderat",
findet Bürgermeister Kessler, "das passt nicht zusammen." Überhaupt seien
streitbare Themen doch so selten in Heddesheim. Hauptversammlungen, der
Weihnachtsmarkt, Ehrungen: Für Kessler ist das die Wirklichkeit seiner
Gemeinde. Prothmann stelle das verzerrt dar, weil er auf höhere Klickzahlen
hoffe.
"Ich mache eben subjektiven Journalismus", verteidigt der sich - "Ich nehme
mir die Freiheit, Fakten zu interpretieren." Einmal ärgerte er sich so über
ein unkritisches Interview des Mannheimer Morgens mit dem Heddesheimer
Bürgermeister, dass er der verantwortlichen Redakteurin "journalistische
Prostitution" vorwarf. Die Folge war eine Anzeige wegen Diffamierung und
die Ausladung vom Süddeutschen Journalistentag.
Trotzdem oder deswegen wächst das Interesse am heddesheimblog - der bald
nicht mehr Prothmanns einziges Projekt ist. Nach und nach gründet er vier
weitere Blogs: zwei in ähnlich kleinen Orten wie Heddesheim, einen in der
40.000-Einwohner-Stadt Weinheim und einen, der sich an den ganzen
Rhein-Neckar-Kreis richtet. Über 5.000 Besuche haben seine Seiten pro Tag,
die Jahresstatistik ist eine ansteigende Gerade. Im Schnitt verdiene er um
die 1.500 Euro pro Monat, erzählt er. Alleine davon leben muss er nicht,
seine Frau hat einen gut bezahlten Job als Pressesprecherin.
## Wie die Kollegen schreiben
"Gerade Lokalzeitungen haben eine Wächterfunktion", sagt Prothmann. "Damit
meine ich eine ordentlich recherchierte Berichterstattung. Zurzeit sind
viele Zeitungen eher Totengräber der Informationen." Für die schludrige
Arbeit mancher Kollegen im Lokalen hat Prothmann einen derben Begriff
geprägt: "Bratwurstjournalismus". Damit meint er nichtssagende Sätze wie
"Für das leibliche Wohl war wie immer gesorgt" oder "Der Wettergott zeigte
sich gnädig". Anders ausgedrückt: "Dieselben blöden, langweiligen,
ausgelutschten Formulierungen, wie man sie täglich in fast jeder
Lokalzeitung lesen kann."
Was sagt der Mannheimer Morgen zu den Vorwürfen? "Wir äußern uns nicht über
konkurrierende Medien", verkündet ein Ressortleiter im Auftrag des
Chefredakteurs Horst Roth, alle weiteren Fragen blockt er ab. Der Chef
selbst antwortet weder auf Briefe noch auf E-Mails und ist auch telefonisch
nicht erreichbar. "Wir fördern die freiheitlich-demokratische Entwicklung
unserer Gesellschaft, indem wir über alle Bereiche des öffentlichen Lebens
so … vollständig wie irgend möglich berichten", steht in den Leitlinien der
Zeitung. Wenn es um den heddesheimblog geht, sieht die Praxis anders aus:
Der ist zwar intern immer wieder ein Thema, Mitarbeiter dürfen sich aber
nicht öffentlich dazu äußern und in Artikeln schweigt das Blatt ihn meist
tot.
Seit ein paar Monaten produziert der Mannheimer Morgen mehr Lokalseiten.
Mit dem neuen Konkurrenten habe das nicht im Geringsten zu tun, sagt ein
Redakteur.
8 Jul 2011
## LINKS
[1] http://heddesheimblog.de/
[2] http://blogger.de
[3] http://meedia.de
## AUTOREN
Jonas Nonnenmann
## TAGS
Fake News
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