# taz.de -- Palästinensisch-israelischer Autor über Israels Ängste: "Wir gel… | |
> Der auf hebräisch schreibende Autor Sayed Kashua sorgt sich um die | |
> Früchte des arabischen Frühlings und sieht die UN-Abstimmung im September | |
> als letzte Chance für einen Palästinenser-Staat. | |
Bild: "Wir werden offensichtlich diskriminiert." – Israelische Soldaten und g… | |
taz: Herr Kashua, wir wissen nicht genau, wie wir Sie bezeichnen sollen. | |
Arabischer Israeli oder israelischer Araber. Was ist Ihnen lieber? | |
Sayed Kashua: Der Begriff "israelischer Araber" gilt als beleidigend, denn | |
das war der offizielle Name, den man uns nach der Gründung des Staates | |
Israel gab. Heute sprechen die meisten Intellektuellen und viele Araber von | |
den "palästinensischen Bürgern Israels". | |
Trotzdem wissen wir oft selbst nicht, wie wir uns nennen sollen. Denn | |
mittlerweile benutzt auch Avigdor Lieberman, Israels rechtspopulistischer | |
Außenminister, diesen Begriff. Und zwar nicht, weil ihm die arabischen | |
Israelis am Herzen liegen, sondern weil er damit betonen möchte, dass wir | |
Palästinenser sind und man uns deshalb loswerden muss. Man könnte also | |
sagen: Alle Seiten haben sich auf diesen Begriff geeinigt. (lacht) | |
Sie schreiben über Palästinenser in Israel, die mehr oder weniger | |
erfolgreich versuchen, sich der jüdisch geprägten Mehrheitsgesellschaft | |
anzupassen. Wie würden Sie Ihre Lage beschreiben? | |
Unsere Lage verschlechtert sich von Tag zu Tag. Die derzeitige Regierung | |
ist für die arabische Bevölkerung die schlimmste, die wir je hatten. | |
Außenminister Lieberman greift uns fast täglich verbal an, und das gibt ihm | |
Rückhalt bei seinen Wählern. Wir gelten als fünfte Kolonne, der man nicht | |
über den Weg traut. Wir werden offensichtlich diskriminiert. Dazu muss man | |
nur das Erscheinungsbild israelischer und arabischer Städte und Dörfer | |
vergleichen. Während die einen aufgeräumt und sauber sind, sind die anderen | |
heruntergekommen und unterentwickelt. | |
Sie schreiben auf Hebräisch. Warum? | |
Als ich begann, mich für Literatur zu interessieren, besuchte ich, wie alle | |
Araber in Israel, die auf eine höhere Schule gehen, eine jüdische High | |
School. Arabische Bücher gab es dort nicht. Später studierte ich an der | |
Hebräischen Universität in Jerusalem, blieb in Jerusalem, anstatt in mein | |
Heimatdorf zurückzukehren, und begann, für jüdische Zeitungen zu arbeiten. | |
Ich bin gar nicht sicher, ob mein Arabisch gut genug ist, um darin eine | |
Kolumne oder einen Roman zu verfassen. | |
Einige Palästinenser in Israel werfen Ihnen deshalb vor, ein Verräter zu | |
sein. Haben Sie dafür Verständnis? | |
Sprache ist ein sensibles Thema. Auf Hebräisch zu schreiben bedeutet auf | |
gewisse Weise, die eigene Kultur zu verlassen und in der Sprache des | |
Feindes zu schreiben. Als ich zu schreiben begann, habe ich mir noch keine | |
Gedanken über den Zusammenhang zwischen Sprache und Nationalismus gemacht. | |
Außerdem bin ich weder Politiker, noch schreibe ich Texte gegen die | |
israelische Besatzungspolitik. Meine Figuren sind weder leidende, | |
unterdrückte Palästinenser noch palästinensische Helden. Ich betrachte | |
meine Werke als ein Mittel, um der mächtigeren Seite zu erklären, wer wir | |
sind. | |
Also schreiben Sie in erster Linie für jüdische Leser? | |
Ganz und gar nicht! Es ist viel leichter, die arabischen Leser zu | |
erreichen, wenn man auf Hebräisch schreibt. Jeder Palästinenser in Israel | |
beherrscht Hebräisch. Und wenn ein Araber ein neues Buch kaufen möchte, | |
fährt er in die nächste israelische Stadt und geht dort in den Buchladen. | |
In arabischen Dörfern gibt es weder Buchläden noch Bibliotheken. Und | |
Verlage, die auf Arabisch publizieren, gibt es in Israel sowieso nicht. | |
Viele Israelis blicken mit Furcht und Argwohn auf den arabischen Frühling. | |
Wie ging es Ihnen, als Sie die Demonstrationen in Tunesien und Ägypten im | |
Fernsehen gesehen haben? | |
Ich habe immer noch Angst um die Menschen, denn noch sind die arabischen | |
Revolutionen nicht vorbei. Aber Tunesien und Ägypten waren ein | |
entscheidender Schritt nach vorn, und ich bin sicher, die arabische Welt | |
wird nie mehr so sein wie früher. Es wird Jahre dauern, bis dort Ruhe | |
einkehrt, denn für Frieden und Demokratie bedarf es Bildung. Aber ich war | |
wirklich sehr glücklich, all diese jungen Menschen auf der Straße zu sehen, | |
die nach nichts anderem verlangten als nach Würde und Freiheit. | |
Natürlich hat Israel Angst vor Demokratien im Nahen Osten. Ich erwarte zwar | |
nicht, dass die neuen arabischen Demokratien Israel den Krieg erklären | |
werden, aber sie werden in Zukunft auch nicht mehr stillhalten, wenn Israel | |
neue Siedlungen baut. Sie werden von Israel verlangen, ebenso demokratisch | |
zu sein, wie sie es sind. (lacht) | |
Welche Auswirkungen wird der arabische Frühling auf die Palästinenser | |
haben? | |
Ich denke, zu sehen, dass die Menschen in Kairo und Tunis mit friedlichen | |
Mitteln so viel erreicht haben, macht viele Palästinenser sehr stolz. Die | |
Israelis haben uns immer wieder gesagt: Seht euch um. In der arabischen | |
Welt herrschen Diktatoren. Ihr könnt froh sein, dass ihr es bei uns so gut | |
habt. Und wir haben mit Scham auf die arabische Welt geblickt. Das wird | |
sich nun ändern. Ich denke, diese Veränderung könnte eine große Kraft | |
freisetzen. | |
Erste Anzeichen dieses neuen Selbstbewusstseins konnte man schon | |
beobachten, als am Nakba-Tag [dem israelischen Unabhängigkeitstag, den die | |
Palästinenser als "Tag der Katastrophe" erinnern, Anm. d. Red.] | |
palästinensische Demonstranten von Syrien und dem Libanon aus auf die | |
israelische Grenze zumarschierten und den Grenzzaun einrissen. Das hatte | |
Israel nicht erwartet, und die Reaktion des Militärs – 14 Demonstranten | |
wurden erschossen – hat gezeigt, dass man darauf nicht vorbereitet war. Ich | |
denke, solche Demonstrationen wird man in Zukunft häufiger sehen. | |
Was erwarten Sie für September, wenn die palästinensische Autonomiebehörde | |
die UNO-Vollversammlung über einen autonomen Palästinenserstaat abstimmen | |
lassen will? | |
Es sieht nicht so aus, als sei sich die Regierung Netanjahu der | |
tatsächlichen Bedeutung des arabischen Frühlings auf die Palästinenser | |
bewusst, und ich glaube, wir bewegen uns auf eine schlimme Situation zu. | |
Meine schwangere Frau liegt im Krankenhaus, und ich kümmere mich um die | |
Kinder und habe kaum Zeit, mich auf die Nachrichten zu konzentrieren. | |
Deshalb muss ich bis September eine Auszeit vom Schreiben nehmen. Wenn mich | |
hinterher jemand fragt, was ich gemacht habe, als ich diesen Tsunami kommen | |
sah, will ich nicht sagen müssen: Als die Revolution ausbrach, habe ich | |
abgespült und den Kindern die Schulbrote geschmiert. | |
Viele prophezeien für September die dritte Intifada. Würden Sie auch so | |
weit gehen? | |
Ich bin mir sicher, dass sich die Zweite Intifada, wie wir sie im Jahr 2000 | |
erlebt haben, nicht wiederholen wird. Es wird, so hoffe ich, nicht blutig | |
werden. Stattdessen erwarte ich Massendemonstrationen auf der Straße. Aber | |
ich mag mich auch irren. Ich hoffe wirklich sehr, dass es nicht wieder zu | |
einem Massaker kommt. | |
Aber eines steht fest: Es fühlt sich so an, als sei die Abstimmung vor der | |
UNO im September die letzte Chance der Palästinenser, etwas zu bewirken. | |
Ich kann Abu Masen [Palästinenserpräsident Mahmud Abbas, Anm. d. Red.] nur | |
zustimmen: Wenn wir im September nichts erreichen, dann sollte die | |
palästinensische Autonomiebehörde geschlossen zurücktreten und den Israelis | |
die direkte Kontrolle über das Westjordanland und Gaza zurückgeben. | |
Meinen Sie das ernst? | |
Absolut! Das wäre nur konsequent. De facto regiert sowieso das israelische | |
Militär. Wenn wir im September nichts erreichen, dann ist klar, dass Israel | |
keine Zweistaatenlösung will. Dann können wir gleich zur direkten | |
Militärverwaltung zurückkehren. Das wäre ehrlicher, als für Israel die | |
Marionetten zu spielen. | |
11 Jul 2011 | |
## AUTOREN | |
Marlene Halser | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Debatte Arabische Revolution: Nach dem Frühling | |
Der Westen hat in der arabischen Welt stark an Einfluss verloren. Mit | |
Militärhilfen und alten Allianzen versucht er, seine Interessen zu wahren. | |
Israelische Marine greift ein: Gaza-Yacht geentert | |
Nur ein einziges Schiff der Hilfsflotte war unterwegs in Richtung | |
Gazastreifen. Die Israelis haben die französische Yacht ohne | |
Gewaltanwendung aufgebracht und umgeleitet. | |
Unabhängigkeitsantrag Palästinas: Israel rüstet sich für Tag X | |
"Turm der Stärke": Mit der größten Militär- und Polizeiaktion seit dem | |
Abzug aus dem Gazastreifen rüstet sich Israel für palästinensische | |
Massendemonstrationen. | |
Knesset verbietet Boykottaufrufe: Kauft nicht nicht beim Siedler | |
Ein israelisches Gesetz verbietet Appelle, keine Waren mehr aus den | |
israelischen Siedlungen im Westjordanland zu kaufen. Weitere Gesetze dieser | |
Art könnten folgen. | |
Debatte Palästina: Eine Frage der Souveränität | |
Benjamin Netanjahu behauptet, das Westjordanland stünde Israel historisch | |
zu. Diese Haltung macht die UN-Resolution zur Gründung eines | |
Palästinenserstaats nötig. | |
Übergabe von getöteten Palästinensern: Leichen als Verhandlungsmasse | |
Israels Verteidigungsminister Barak stoppt die Übergabe von 84 getöteten | |
Palästinensern. Die Leichen dienen als Pfand für einen entführten | |
israelischen Soldaten. | |
Debatte über Palästina: Tsunami oder Chance für Israel? | |
Eine Gruppe junger israelischer Strategen halten die Unterstützung für | |
einen palästinensischen Staat für sinnvoll. Sie wendet sich damit gegen die | |
politische Agenda der Regierung. | |
Palästinenser zweifeln an UN-Appell: PLO-Funktionär fürchtet neue Gewalt | |
Vor der möglichen UN-Anerkennung eines unabhängigen Staates gibt es | |
Unstimmigkeiten zwischen Hamas und Fatah. Eine gemeinsame Regierung steht | |
noch aus. | |
Weltweit am meisten Menschen ohne Job: Arbeitslosenrekord in Gaza | |
Laut UN-Flüchtlingshilfe beläuft sich die Arbeitslosenrate im Gaza-Streifen | |
auf 45,5 Prozent. Als einer der Hauptgründe gilt Israels Blockade. | |
Nahost: Zerrissenes Palästina | |
Ein Staat löst sich auf, bevor er gegründet wird von Alain Gresh |