# taz.de -- Proteste gegen spanische Regierungspolitik: Sternmarsch auf Madrid | |
> Die Teilnehmer des "Empörten Volksmarsches" sind hunderte Kilometer zu | |
> Fuß nach Madrid unterwegs. Sie demonstrieren gegen Arbeitslosigkeit und | |
> unsoziale Politik. | |
Bild: Proteste am 19. Juni 2011 an der Porta del Sol in Madrid. | |
SAN ADRIAN DEL VALLE taz | Der Zuspruch ist nicht zu überhören: "Wäre ich | |
nochmals 20, wäre ich dabei" - "Hoffentlich erreichen sie was". "Sie", das | |
ist der bunte Haufen, der auf dem Platz in San Adrián del Valle einen | |
Lautsprecher und ein Mikro aufgebaut hat. | |
Das Dorf irgendwo dort, wo die Berge des Nordens aufhören und die | |
ausgedorrte Hochebene Kastilliens beginnt, ist halb verlassen. Die | |
Landwirtschaft ohne Bewässerung ist nicht konkurrenzfähig. Die Höhlen, die | |
einst Weinkeller beherbergten, sind leer. In San Adrián leben nur noch rund | |
100 Menschen, fast alle sind Rentner. Die Schule ist seit Jahren zu. Früher | |
hatte der Ort mehrere Kneipen, einen Tanzsaal, Schuster, Fleischer, Bäcker. | |
Heute ist gerade noch eine Bar am Platz. | |
"15M - Versammlung heute", lädt ein Plakat die Bewohner von San Adrián ein. | |
Jeder hier weiß, was 15M ist: Die Bewegung der "Empörten", benannt nach dem | |
Tag der ersten Großdemonstrationen für "Echte Demokratie jetzt!" am 15. | |
Mai. Seither reißen die Proteste nicht ab. Längst ist im Netz und auf der | |
Straße von der "spanishrevolution" die Rede. | |
Ein Sternmarsch auf Madrid - "La Marcha Popular Indignada", "Der Empörte | |
Volksmarsch" - ist die neueste Aktion. Die Gruppe in San Adrián ist seit 16 | |
Tagen zu Fuß unterwegs. Wo immer sie ihre Zelte aufschlagen, halten sie | |
Versammlungen ab. Sie berichten von Arbeitslosigkeit, der | |
Perspektivlosigkeit der Jugend, einer unsozialen Politik. "Wir haben diese | |
Krise nicht verursacht, warum sollen wir sie bezahlen?", hallt es über den | |
Platz. | |
Die Bewohner von San Adrián haben sich pünktlich eingefunden. "Ich kenne | |
das aus Madrid, von der Puerta de Sol", berichtet Doli. Die 54-Jährige ist | |
Verkäuferin in einem Madrider Kaufhauses. Der dortige Platz Puerta de Sol | |
beherbergte wochenlang ein Protestcamp, das weltweit für Schlagzeilen | |
sorgte. "Dort war ich oft auf den Versammlungen", erzählt Doli. Sie findet | |
sofort interessierte Zuhörer in San Adrián. "Arbeit gibt es hier keine", | |
berichtet sie. Jeden Sommer kommt sie nach San Adrián zum Urlaub zurück, | |
hier ist sie geboren. Weniger als ein Dutzend zahlende Mitglieder zähle die | |
Sozialversicherung im Dorf. Die Entwicklung von San Adrián ist typisch für | |
die Dörfer im spanischen Hochland. | |
## Unrasiert und müde - aber stolz | |
"Wir werden überall mit offenen Armen empfangen", zeigt sich Brais | |
zufrieden. Der 32-Jährige marschiert von Anfang an mit. Zuerst mit Gepäck | |
auf dem Rücken, seit einer Woche ohne Rucksack. Ein kleiner Lieferwagen | |
unterstützt jetzt den Marsch. "In einem der Dörfer haben die Bewohner | |
beschlossen, sich weiterhin regelmäßig zu versammeln, um über ihre Probleme | |
zu sprechen und Aktionen vorzubereiten. In einem anderen haben sie eine | |
Gruppe gegründet, die Zwangsräumungen von Wohnungen verhindern wird, wenn | |
jemand seine Raten nicht mehr an die Bank zahlen kann", erzählt Brais | |
stolz. Er ist seit Tagen unrassiert und wirkt müde. Doch wenn er redet, | |
lebt er auf. | |
Brais wählt seine Worte mit Bedacht. Er ist Schriftsteller, hat fünf Prosa- | |
und Gedichtbände veröffentlicht. Doch für seinen Lebensunterhalt schreibt | |
er anonym für andere, Drehbücher und Romane. "Ich kassiere und schweige." | |
Negro - Nigger - nennen sie einen wie ihn im spanischen Literaturbetrieb. | |
Brais gehörte zu denen, die nach den Demonstrationen am 15. Mai in vielen | |
spanischen Städten Protestcamps errichteten - in seinem Falle in Santiago | |
de Compostela, der Hauptstadt der Region Galicien an der nordwestspanischen | |
Atlantikküste. Als die Idee des Sternmarsches aufkam, zweifelte er keinen | |
Augenblick: "Es ist eine wichtige aber anstrengende Erfahrung." Die | |
galicische Route des Sternmarsches ist aus drei Städten losgezogen. Rund 30 | |
Personen fanden sich zusammen. Manche geben auf, andere kommen hinzu. | |
Bereits 380 Kilometer liegen hinter ihnen. Weitere 260 Kilometer noch bis | |
Madrid. Am 23. Juli wollen sich dort alle sechs Marschkolonnen treffen und | |
ihren Protest vor das spanische Parlament tragen. | |
Es geht fast immer entlang der Landstraßen, "damit wir gesehen werden", | |
sagt Brais. Staub, Hitze, und sobald sie ankommen, wartet viel Arbeit auf | |
die Marschierenden. Sie bereiten die örtlichen Versammlungen vor, kochen | |
für alle - die Lebensmittel spendet die Bevölkerung. Viele interne | |
Diskussionen sind nötig. "Wir sind eine Bewegung ohne Anführer. Alles wird | |
per Konsens beschlossen", erklärt Brais. | |
Oft gehen Versammlungen zu kleinsten Problemen bis tief in die Nacht: "Und | |
um sechs Uhr stehen wir auf. Um sieben sind wir auf der Straße." Eine der | |
hitzigsten Debatten ging darum, ob Journalisten zugelassen werden. Nach | |
drei vergeblichen Konsensversuchen, stimmten sie ab. "Wir haben dieses | |
Verfahren eingerichtet, um uns nicht völlig zu blockieren", sagt Brais. | |
Mehr als die erforderlichen 75 Prozent stimmten schließlich für die | |
Pressepräsenz. | |
## Keine objektiven Berichte | |
"Die Medien manipulieren nur", wettert Sabrina, die sich am meisten gegen | |
Journalisten gewehrt hatte, bei einer Marschpause irgendwo auf der | |
Nationalstraße VI zwischen San Adrián und der Kleinstadt Benavente. Die | |
21-Jährige ist Medizinstudentin und stammt aus dem galicischen Vigo. | |
Spaniens Presselandschaft ist völlig in politische Lager aufgespalten. | |
Objektive Berichterstattung, wie Sabrina sie einfordert, komme dabei sehr | |
kurz, meint sie. | |
Es ist heiß. Die Wolken am Himmel lassen all zu oft die Sonne durch. | |
Sabrina trägt weite Hosen, Sandalen und unzählige Lederbändeln um Hals und | |
Handgelenk. Sie läuft immer ganz vorne weg. Oft mit den Kopfhören im Ohr, | |
in ihre Musik versunken. "Ich marschiere für zwei", sagt sie. "Meine Mutter | |
verdient in einem Restaurant gerade einmal 800 Euro. Sie wäre sicher dabei, | |
wenn sie Zeit hätte." | |
Ihre Abneigung gegen Journalisten lässt sie kurz ruhen. Sabrina ist am Ende | |
des dritten Studienjahres. Nächstes Semester geht es mit einem Stipendium | |
nach Berlin. "Ich hoffe, dass ich nach dem Studium Arbeit in meiner Heimat | |
finde", sagt sie. Doch die Hoffnung ist gering. Im Gesundheitssektor wird | |
in Folge der Krise gekürzt. Immer mehr junge Ärzte wandern aus. In anderen | |
akademischen Berufen sieht es nicht viel besser aus. Im armen Galicien | |
wandern die Menschen seit Jahrhunderten ab, nach Lateinamerika oder Europa. | |
Um der Krise Herr zu werden, hat die Regierung des Sozialisten José Luis | |
Rodríguez Zapatero Hilfe für Langzeitarbeitslose gestrichen und das | |
Renteneintrittsalter auf 67 erhöht. Gleichzeitig vergibt er | |
Milliardenhilfen an Banken und Sparkassen. Sie stecken hinter der | |
Spekulationsblase im Immobiliensektor, die jetzt das Land tiefer in die | |
Krise gerissen hat als andere europäische Nachbarn. "Was ist das für eine | |
Welt, wo Großeltern arbeiten und Enkel arbeitslos sind?", fragt Sabrina. In | |
Spanien sind 20 Prozent ohne Job. Bei jungen Menschen sind es knapp 45 | |
Prozent. | |
Wenn einer sich als Opfer dieser Politik fühlen darf, dann ist es Manuel. | |
Der 50-Jährige - ebenfalls aus Vigo - sticht mit seinem Fußballtrikot aus | |
dem sonst eher alternativen Milieu heraus. Der kleine, drahtige Mann ist | |
zur See gefahren, er baute Konzertbühnen auf, in Madrid war er | |
Tellerwäscher. "Seit drei Jahren bin ich arbeitslos und beziehe keinerlei | |
Stütze mehr", sagt er leise. Manuel lebt auf der Straße. Essen und Kleidung | |
erhält er von Wohlfahrtsorganisationen. | |
## Endlich wieder gebraucht | |
"Dank des 15M fühle ich mich wieder nützlich", sagt er lächelnd. Manuel kam | |
im Mai zufällig am Protestcamp in Vigo vorbei: "Sie erklärten mir, um was | |
es geht. Ich blieb." Er arbeitet am Informationsstand. "Endlich werde ich | |
gebraucht", sagt Manual, drückt die Zigarette aus, greift zum Stock und | |
nimmt wieder den Asphalt unter die Schuhe. | |
Weiter hinten mühen sich diejenigen ab, denen der lange harte Weg nicht so | |
leicht fällt. Ainoa gehört zu ihnen. Die 37-jährige ist eine | |
Hobby-Bergsteigerin und durchtrainiert, aber heute leidet sie still in der | |
Hitze. "Ich habe keinen guten Tag", erklärt die Englischlehrerin. Sie hat | |
sich erkältet. Ihr Stimmbänder sind kurz davor, den Dienst einzustellen. | |
Sie fühlt sich fiebrig. Ainoa kommt aus Madrid, seit einer Woche läuft sie | |
mit. Noch ein paar Tage, dann muss sie zurück, "um meine Papiere beim | |
Arbeitsamt einzureichen". Ainoa ist nicht verbeamtet. Die Madrider | |
Landesregierung erhöhte für das kommende Schuljahr die Stundenzahl für die | |
Lehrer. Ainoa gehört zu den 3.000 Lehrkräften, die dadurch eingespart | |
werden. | |
"Ich bin etwas frustriert", sagt Ainoa. Sie hadert mit dem Marsch: "Wir | |
hatten wieder einer dieser langen Versammlungen über unsere interne | |
Organisation." Alltagsprobleme, begründet im "Aufeinanderprallen starker | |
Charaktere in der Gruppe", nähmen die Zeit für politische Reflexionen, die | |
an der Puerta de Sol so lebendig waren. "Wenn wir nicht in der Lage sind, | |
unsere eigenen Mentalität zu kontrollieren und unsere Werte zu überdenken, | |
wird sich die Welt nie ändern", sagt sie. "Die Versammlungen helfen dabei, | |
aber das ist alles sehr ermüdend." | |
Am Ende des Tages, in Benavente, werden Ainoa und die anderen mit der | |
Gruppe aus Asturien zusammentreffen. Dann wollen sie gemeinsam weiter | |
marschieren. Die Asturier - aus den Zeiten der großen Bergarbeiterstreiks | |
an Märsche auf Madrid gewöhnt - hätten weniger interne Debatten, hat Ainoa | |
gehört. "Doch wenn aus zwei Versammlungen eine wird, weißt du nie, wie das | |
ausgeht", sagt sie dann. Madrid ist weit und jeder Tag eine neue | |
Herausforderung. | |
15 Jul 2011 | |
## AUTOREN | |
Reiner Wandler | |
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