# taz.de -- Zehn Jahre nach G8-Protesten in Genua: "Man wollte uns erledigen" | |
> Genua war der Höhepunkt der globalisierungskritischen Bewegung. Der | |
> damalige Sprecher des Sozialforums Vittorio Agnoletto über das, was | |
> passiert ist und die Folgen. | |
Bild: Der bei den Protesten erschossene Carlo Giuliani. | |
taz: Herr Agnoletto, Sie haben gerade mit dem Journalisten Lorenzo | |
Guadagnucci das Buch "L'eclisse della democrazia" ("Die Sonnenfinsternis | |
der Demokratie") publiziert. Was geschah vor zehn Jahren in Genua? | |
Vittorio Agnoletto: Sämtliche Rechte und Garantien, die moderne | |
demokratische Staaten auszeichnen, wurden komplett aufgehoben. Die | |
Sicherheitskräfte und der Staat agierten, als wären sie in einem | |
rechtsfreien Raum. Alles wurde weggewischt. Selbst elementare Dinge wie der | |
Eid des Hippokrates galten nicht mehr. | |
Ein Beispiel? | |
Nach dem Sturm auf die Diaz-Schule ließ die Polizei die Ärzte nicht zu den | |
Verletzten. In der Haftanstalt Bolzaneto beteiligten sich Polizeiärzte | |
sogar an der Misshandlung von Gefangenen. Auch das Recht der Rechtsanwälte, | |
Festgenommene aufzusuchen und zu vertreten, wurde nicht respektiert. Das | |
staatliche Agieren bestand allein in der Anwendung von Gewalt, organisiert | |
im Zusammenspiel zwischen den operativ und den politisch Verantwortlichen. | |
Es herrschte das Gesetz des Dschungels. Dies ist die "Sonnenfinsternis der | |
Demokratie". | |
Die Repression galt der sogenannten globalisierungskritischen Bewegung. Was | |
war deren Besonderheit? | |
Wir waren das Gegenteil des Namens, der uns von den Medien gegeben wurde: | |
"No Globals". Wir waren und sind eine globale, eine universale Bewegung. In | |
meinem Buch zitiere ich einen Satz von Susan George: "Dies ist die erste | |
Bewegung, die nichts für sich selbst verlangt, sondern die für die Zukunft | |
der gesamten Menschheit kämpft." Das zweite Merkmal: In Italien wie | |
weltweit umfasste die Bewegung nicht nur die klassische Linke. | |
Was meinen Sie damit? | |
In Genua zum Beispiel waren Missionare genauso vertreten wie die Autonomen | |
Zentren. Und dem Weltsozialforum von Porto Alegre ging der Appell von sechs | |
brasilianischen Verbänden voraus, darunter die Kommission Justitia et Pax | |
der brasilianischen Bischofskonferenz sowie eine wichtige Vereinigung der | |
ethischen Prinzipien verbundenen brasilianischen Unternehmer, die 15 bis 20 | |
Prozent der Wirtschaft des Landes repräsentiert. Von Anfang an war diese | |
Bewegung viel breiter als die klassische Linke. Drittens, und dies gilt vor | |
allem für Europa: Wir haben es mit einer sehr politischen Bewegung zu tun, | |
zugleich aber mit einer Bewegung, die weit entfernt ist von | |
parteipolitischen Aktivitäten. | |
Wie steht diese Bewegung zur traditionellen Sozialdemokratie? | |
Wir wurden zu einer radikalen Alternative zur | |
sozialistisch-sozialdemokratischen Linken. Unsere Bewegung wollte die Macht | |
von Weltbank und WTO auslöschen, wo die Sozialistische Internationale bloß | |
die Führung der WTO erobern wollte und diese einige Jahre später mit Pascal | |
Lamy auch erhielt. Wir sagen: Der Wirtschaftsliberalismus muss weg. Die | |
Sozialisten sagen: Es reicht ein Wechsel an der Spitze. Wir sagen: Dieses | |
Auto taugt nicht. Die Sozialisten sagen: Es reicht, wenn der Fahrer am | |
Steuer ausgetauscht wird. | |
Aber so einheitlich agierte die Bewegung in Genua nicht; es gab parallele | |
Kundgebungen ihrer verschiedenen Teile. | |
Ja, aber wir haben in der Tat alle vorher einen "Arbeitspakt" | |
unterzeichnet, der die Wahl der Protestformen frei ließ, dabei aber | |
Kriterien festlegte. Explizit wurde zum Beispiel "Respekt vor Personen und | |
Sachen" gefordert. | |
Dennoch gingen die Sicherheitskräfte unterschiedslos gegen alle | |
Demonstranten vor. | |
Die Entscheidung für die Repression war schon vorher gefallen, das hatten | |
der Gipfel von IWF und Weltbank im September 2000 in Prag und der EU-Gipfel | |
in Göteborg im Juni 2001 gezeigt, wo ein Demonstrant durch einen | |
Polizeischuss verletzt wurde. | |
Was war der Grund für dieses Vorgehen? | |
In Genua war das Ziel, die Bewegung zu erledigen. Und es ist kein Zufall, | |
dass in Italien im Mai 2001 die früher faschistische Partei unter | |
Gianfranco Fini zusammen mit Berlusconi an die Regierung gelangt war. Sie | |
agierte als politischer Arm der Repression. Am tragischen Freitag, als die | |
Carabinieri zuschlugen, waren drei AN-Abgeordnete in der Einsatzzentrale | |
der Carabinieri. Die Ereignisse dieses Tages waren in dem Dokument | |
beschrieben worden, das vor den Protesten an die Öffentlichkeit lanciert | |
wurde. Darin hieß es, es sei nicht auszuschließen, dass ein junger | |
unerfahrener Carabiniere oder Polizist einen Demonstranten erschießt. | |
Und es ist einfach unvorstellbar, dass ein einzelner Carabiniere-Hauptmann | |
sich selbst dazu ermächtigt, ohne jeden Anlass die genehmigte und | |
friedliche Demonstration der "Ungehorsamen" attackieren zu lassen - | |
daraufhin kam es ja erst zu der Straßenschlacht, bei der Carlo Giuliani ums | |
Leben kam. Die Repression wurde auf internationaler Ebene definiert und vom | |
exfaschistischen Teil der Berlusconi-Regierung im Zusammenspiel mit den | |
Carabinieri operativ in die Tat umgesetzt. | |
Zunächst schien die Bewegung dem Druck standzuhalten. Im November 2002 | |
nahmen Zehntausende am Europäischen Sozialforum in Florenz teil, im Februar | |
2003 kam drei Millionen zur Demonstration gegen den Irakkrieg in Rom. Dann | |
aber, so schreiben Sie, "tauchte die Bewegung gleichsam ab". Warum? | |
Die kontinuierliche, auch mediale Repression zwang die Bewegung in eine | |
Verteidigungshaltung, dazu sich mit Prozessen zu beschäftigten. Dieses | |
Terrain war den Organisationen und Leuten vertrauter, die aus einer | |
Geschichte linker Militanz kommen, während der katholische Teil der | |
Bewegung immer verstörter reagierte. Hinzu kamen die Folgen des 11. | |
September 2001. Seitdem zeichnen die Medien das Bild von einem alles | |
beherrschenden Zusammenstoß zwischen dem Westen und dem islamischen | |
Fundamentalismus. Vor diesem Hintergrund tat sich die Bewegung schwer | |
damit, sich als eigenständiger Akteur zu präsentieren. In den | |
Anti-Kriegs-Protesten gelang es noch, doch nachdem wir den Krieg nicht | |
hatten aufhalten können, gelang es uns nicht, neue Felder zu erschließen. | |
Gibt es Perspektiven für ein Wiederaufleben? | |
Ich gehe davon aus, dass die großen Veränderungen in Zukunft außerhalb | |
Europas angestoßen werden. In Europa steht der Bewegung ein langer | |
Stellungskrieg bevor. In der nördlichen Hemisphäre ist die soziale | |
Kontrolle, die von den großen Geschäftsinteressen ausgeht, zu engmaschig. | |
Die konzeptionellen ebenso wie die praktischen Spielräume für Alternativen | |
sind viel geringer als in anderen Kontinenten. Die Bewegungen in Europa | |
haben überall Mobilisierungsschwierigkeiten, und sie mobilisieren zunehmend | |
zu spezifischen Themen. | |
Die Indignados in Spanien, die Studenten in Großbritannien, Studenten, | |
prekär Beschäftigte, Frauen in Italien, ganz zu schweigen von Griechenland | |
- es scheint doch viel in Bewegung zu geraten. | |
Diese Proteste sind bisher vor allem die Antwort auf eine Attacke gegen den | |
Sozialstaat, gegen die Zerstörung aller Zukunftsaussichten. Die Frage ist: | |
Schaffen wir es, diese einzelnen Bewegungen zusammen- und über den Protest | |
hinauszuführen und am Entwurf einer alternativen Gesellschaft zu | |
formulieren, wie er in Genua versucht wurde? | |
Glauben Sie denn, dass dies in absehbarer Zeit gelingen wird? | |
In der unmittelbaren europäischen Zukunft sehe ich zwar die Möglichkeit, | |
den schlimmsten Auswüchsen des Marktliberalismus Einhalt zu gebieten, kaum | |
aber die realistische Chance, dass wir hier eine Regierung sehen werden, | |
die sich radikal gegen den Marktliberalismus stellt, wie es heute in | |
Bolivien, in Ecuador oder in anderen lateinamerikanischen Ländern der Fall | |
ist. | |
20 Jul 2011 | |
## AUTOREN | |
Michael Braun | |
## TAGS | |
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte | |
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