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# taz.de -- Radtour an der Ostsee: Moor und Mankell
> Mit dem Fahrrad entlang der Ostsee von Riga nach Stockholm: Weit im Osten
> gibt es ebenso wenige Gasthäuser wie ausgewiesene Radwege.
Bild: In sieben Wochen um die Ostsee.
Gegen 21 Uhr macht die „Envoy“ im Hafen von Riga fest. Die Fähre, ein
ziemlich heruntergekommener Dampfer ohne Tische, Stühle und Sonnenschutz
auf dem Oberdeck, ist am Vortag in Travemünde gestartet. Außer uns Radlern
haben nur zwei Dutzend tätowierte und sich bei Wodka-Runden vergnügende
Lkw-Fahrer sowie eine evangelische Jugendgruppe aus Ostfriesland die
Überfahrt als Passagiere mitgemacht.
Mit dem Rad vom Hafen bis ins Zentrum der lettischen Hauptstadt brauchen
wir zwei Stunden. Die ersten Eindrücke sind verheerend: trostlose
Plattenbausiedlungen und Schiffsfriedhöfe, Gestank nach Öl und Ruß, tiefe
und im Dunkeln kaum sichtbare Schlaglöcher in der Einfallstraße. Der
Stadtkern bietet ein ganz anderes Bild. Mit EU- und Unesco-Mitteln wurden
Plätze und Fassaden restauriert, und in den Kneipen ist auch nach
Mitternacht noch viel junges Volk unterwegs.
Bei Gegenwind und wechselhaftem Wetter geht es an den beiden folgenden
Tagen nordwärts bis zum einsam gelegenen Kap Kolka. Die einzige Landstraße
führt durch ausgedehnte Kiefernwälder und riesige Heidegebiete. Die lang
gestreckten Dörfer wirken ärmlich, Geschäfte oder Gasthäuser gibt es auf
dem Land ebenso wenig wie ausgebaute oder auch nur ausgewiesene Radwege. Im
Nationalpark Slitere geht die Asphaltstraße auf fast 50 Kilometer Länge in
eine Sandpiste über. Überholende oder entgegenkommende Autofahrer bremsen
meist nicht ab und hüllen uns in dichte Staubwolken. Wölfe, Luchse und
Elche soll es hier geben. Wir sehen nur einen Hasen.
Vor einigen Häusern sind kleine Bauerngärten angelegt worden. Ein paar alte
Leute verkaufen am Straßenrand Obst, Gemüse und selbst gemachte Marmelade.
Es ist schwierig, mit ihnen ins Gespräch zu kommen: Wir können weder
Lettisch noch Russisch, sie sprechen weder Deutsch noch Englisch. Ihre
Gesichter wirken verschlossen, die Mienen misstrauisch. Nur mit Mühe finden
wir kleine Hotels in Mersvag und Kolka. Wir sind auf Herbergen angewiesen,
da wir uns entschieden haben, die Tour ohne Zelt zu machen.
## Zwischen Kolka und Ventspils
Einen bunten Kontrast zur Kiefernödnis bilden die idyllischen Siedlungen
der Liven, die zwischen Kolka und Ventspils versteckt im Wald liegen.
Zwischen dem 12. und 16. Jahrhundert war Livland eine bedeutende Nation,
ohne dessen Holz England nicht so schnell zur Seemacht aufgestiegen wäre.
Livland wurde später zwischen Lettland und Estland aufgeteilt. Heute gibt
es noch nur noch rund ein Dutzend Dörfer und Siedlungen der Liven. Vor dem
livischen Kulturhaus in Mazirbe ist die grün-weiß-blaue Flagge des
aussterbenden Volkes gehisst.
Lettland steckt tief in einer Wirtschafts- und Finanzkrise. Wie tief, das
erfahren wir in der Großstadt Liepaja, wo wir wegen eines Sturzes ein
Krankenhaus aufsuchen müssen. Nur eine von drei Kliniken ist überhaupt in
Betrieb. Auch hier wurden mehrere Abteilungen geschlossen, andere arbeiten
mit halber Belegschaft, wie ein Deutsch sprechender Pfleger erzählt. Die
Frage nach einem Besucherklo ist ihm sichtlich unangenehm, schließlich
zeigt er aber doch den Weg. Der Abort wurde offenbar seit Wochen nicht
gereinigt, in der Schüssel schwappt bis zum Rand eine stinkende Brühe.
Auch in Polen steckt der Fahrradtourismus noch in den Kinderschuhen. Zwar
bieten mehrere Reiseveranstalter inzwischen organisierte und geführte
Radtouren etwa an den Masurischen Seen an, doch individuelles Radeln
gestaltet sich bisweilen problematisch. Der auf Karten ausgewiesene
Ostseeradweg R 10 existiert über weite Strecke nicht oder ist schwer zu
finden. Immer wieder müssen längere Passagen auf viel befahrenen Straßen
absolviert werden.
## Mit den Rädern durch den Moor
Unverhofft folgen schöne Abschnitte: ein asphaltierter Radweg am Meer von
Danzig bis ins alte Seebad Sopot, ein weiterer durch Wald und Wiesen ins
verschlafene Städtchen Puck mit kleinem Hafen, Mole und Marktplatz. Eine
schöne Tagesetappe verbindet meist auf Feld- und Waldwegen durch den
Slowinzischen Nationalpark die Städte Novecin und Ustka. Weil wir
Abzweigungen falsch wählten, müssen wir die Räder eine Stunde durch ein
Moor und eine weitere über den Strand schieben. Bei Darlowo landen wir auf
einem Truppenübungsplatz. Ein grimmig dreinschauender Soldat bedeutet uns
mit seinem Gewehr rasch zu verschwinden.
Über Winoujcie erreichen wir die Insel Usedom. Der Radweg verläuft am Meer,
teilweise direkt auf der Abbruchkante der Steilküste, allenfalls verstellt
mal eine Buche oder Dünenkiefer den direkten Blick auf die bis zu 100 Meter
breiten Strände und die Pommersche Bucht. Usedom hat eine teilweise düstere
Geschichte. Das Seebad Zinnowitz galt als eine Speerspitze des
„Bäder-Antisemitismus. Das „Zinnowitz-Lied“ endete mit der Schlusszeile
„Fern bleibt der Itz von Zinnowitz“.
Nach 1933 verwandelten die Kriegsvorbereitungen Usedom in eine ausgedehnte
Festung. Die Nazis errichteten Beobachtungsstände und Funkstationen entlang
der Küste, Marineartillerie ging in den Dünen in Stellung, die Mellenthiner
Heide wurde zu einem unterirdischen Munitionsdepot. In Peenemünde entstand
die Heeresversuchsanstalt und Luftwaffenversuchsstelle, von hier sollten
Hitlers Wunderwaffen dem Krieg eine Wende geben. Am 3. Oktober 1942
startete die erste V 2-Rakete. Im August 1943 machten britische
Luftangriffe dem Spuk ein Ende.
## Badewanne Berlins
Als Kaiserbäder oder „Badewanne Berlins“ werden Ahlbeck, Heringsdorf und
Bansin bezeichnet. Um 1900 hatte Wilhelm II. seiner Mätresse, der Konsulin
Steude, am Strand von Heringsdorf eine schlossartige Villa bauen lassen.
Viele der damals errichteten Hotels und Villen wurden seit der
Wiedervereinigung komplett restauriert.
Wo verläuft die dänische Ostseeküste? In dem Gewirr von Inseln und
Inselchen ist das kaum auszumachen. Wir entscheiden uns, am Grenzübergang
Padborg in Jütland nach Westen abzubiegen. Über die wunderschöne Insel Aero
mit ihren Seglerhäfen Aeroskobing und Marstal, über Langeland, Lolland und
Mön mit den spektakulären Kreidefelsen geht es auf meist wenig befahrenen
Nebenstraßen nach Seeland und Kopenhagen. Die Fähren zwischen den Inseln
verkehren mehrmals am Tag.
Für Übernachtungen in Dänemark wie auch später in Schweden wählen wir
meistens Jugendherbergen. Das Netz ist dicht, der Komfort in
Zweibettzimmern ausreichend. Gelegentlich übernachten wir in einem B & B.
Hotels sind unbezahlbar.
## Mitten in einem Mankell-Krimi
Die Landschaft in der südschwedischen Region Schonen ist wenig aufregend.
Leichte Spannung kommt erst auf, als wir die Schauplätze der Mankell-Krimis
passieren und in Augenschein nehmen: Mossby Strand – im Buch „Hunde von
Riga“ treibt hier ein Rettungsboot mit zwei Toten an Land. Löderup – auf
einem Bauernhof malte der schrullige Wallander senior seine Auerhahnbilder.
Und Ystad – Wohn- und Dienstsitz von Kurt Wallander. Das Hotel Continental,
in dem der Kommissar seine Butterbrote zu essen pflegt, gibt es wirklich.
Auch die Mariagatan, Wallanders Wohnstraße, existiert – allerdings kein
Haus mit der Nummer 10.
Zum Abschluss der Tour erradeln und erkunden wir die Inseln Öland und
Gotland im schwedischen Südosten. Das schmale, mit dem Festland über eine
Brücke verbundene Öland ist im Sommer recht wuselig, das größere und nur
mit dem Schiff erreichbare Gotland dagegen ruhig und beschaulich.
Sehenswert die alte Hanse- und die Störtebekerstadt Visby.
Wir haben die Strecke mit Fahrrädern in etwa sieben Wochen bewältigt und
sind dabei, so nah es ging, am Meer entlanggefahren. Wir haben schöne
Strände und Landschaften gesehen, interessante und hilfsbereite Menschen
getroffen, aber oft auch über Dauerregen, Gegenwind, schlechte Wege,
rücksichtlose Lkw-Fahrer und miserables Essen geflucht. Doch die positiven
Eindrücke überwiegen. Und motivieren uns, die noch fehlenden Etappen in
Angriff zu nehmen: Über Estland, Russland und Finnland soll es dann um den
Bottnischen Meerbusen herum bis nach Stockholm gehen.
23 Jul 2011
## AUTOREN
Reimar Paul
Reimar Paul
## TAGS
Reiseland Deutschland
Lesestück Interview
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