# taz.de -- Estland in den EM-Playoffs: Die Rüütli-Schüler | |
> Völlig überraschend steht Estland in den EM-Playoffs gegen Irland. Der | |
> Aufschwung für das baltische Team kam mit der Öffnung für | |
> russischstämmige Spieler. | |
Bild: Weiß, wie man Iren schlägt – zumindest Nordiren: Konstantin Vasslijev… | |
Geschäftliches Kalkül oder unerschütterliches Vertrauen in die eigene | |
Fußballnationalelf? Für den 11. November hat die irische Fluglinie Ryanair | |
die Flugkapazität zwischen Dublin und Tallinn vervierfacht. | |
0,99-Euro-Schnäppchen gibt es beim Billigflieger allerdings diesmal nicht. | |
431 Euro muss berappen, wer am Freitag nach dem Frühstück von Dublin in | |
Estlands Hauptstadt fliegen und Samstagmittag zurück sein will. | |
Auch Dienstag nächster Woche gibt es auf dieser Route Extrakapazitäten. Wer | |
dann von Tallinn nach Dublin reisen will, muss aber nur 199 Euro | |
hinblättern. Weil Irlands Nationalmannschaft so überzeugend gewonnen hat, | |
dass sowieso nichts mehr anbrennen kann und das Rückspiel uninteressant | |
ist? | |
Irlands Coach Giovanni Trapattoni wird sich vor solcher Unterschätzung | |
hüten. Sein Irland oder Estland – nur der Sieger dieses Playoffs wird | |
nächstes Jahr bei der Europameisterschaft in Polen und der Ukraine spielen. | |
Zwar gilt Trapattonis irische Elf als haushoher Favorit. Doch Estland hat | |
in seiner EM-Quali-Gruppe die meisten Punkte auswärts gesammelt. Und ist | |
deren eigentliche Sensationsmannschaft. | |
Völlig unerwartet schafften es die Fußballer aus der nördlichsten der | |
Baltenrepubliken mit ihren 1,3 Millionen Einwohnern, Zweiter der Gruppe C | |
zu werden und sich damit eine Playoff-Chance überhaupt erst zu erspielen. | |
Dabei schien im Juni schon alles verloren. Binnen vier Tagen fing man sich | |
eine 0:2-Pleite beim Fußballzwerg Färöer und eine 0:3-Niederlage gegen | |
Italien ein. | |
Doch dann legte Estland mit drei Siegen in drei Spielen einen nicht mehr | |
erwarteten Endspurt hin. Im vorletzten Gruppenmatch drehte Konstantin | |
Vassiljev einen 0:1-Rückstand gegen Nordirland mit zwei Toren zu einem | |
2:1-Sieg. Auch wer sich bislang in Estland herzlich wenig für Fußball | |
interessiert hat – der Name dieses Mittelfeldspielers, der für Amkar Perm | |
in der russischen Liga spielt und jedes dritte estnische Tor geschossen | |
hat, dürfte ihm kaum entgangen sein. Und fragt man in Tallinn nach einem | |
gewissen Sergei Pareiko, ist die Chance auf eine richtige Antwort groß: Das | |
ist doch der Junge, der bei uns im Tor steht. | |
## Seit 87 Jahren nicht mehr qualifiziert | |
Vom Fußballfieber schreiben die Zeitungen, und das scheint kein unpassender | |
Ausdruck. Die Tickets für das Spiel gegen Irland waren binnen einer halben | |
Stunde ausverkauft. Schließlich ist es ja auch 87 Jahre her, dass eine | |
Nationalmannschaft aus Estland letztmals an einem internationalen | |
Fußballwettbewerb teilnehmen konnte. | |
Bei der Olympiade 1924 in Paris reichte es damals zu einem einzigen Spiel, | |
das 0:1 gegen die USA verloren wurde. Noch vor drei Jahren, bei der | |
Qualifikation für die Schweiz-Österreich-EM, war man chancenlos. Und nun | |
konnte man in der eigenen Qualifikationsgruppe mit Serbien und Slowenien | |
zwei jedenfalls auf dem Papier starke Konkurrenten ausschalten. Auf der | |
Fifa-Weltrangliste kletterte man binnen drei Jahren von Platz 137 auf 58. | |
Was hat sich geändert? | |
Sie konnten unbeschwert aufspielen, die estnischen Kicker, weil sie wie | |
üblich nichts zu verlieren hatten. Man machte zwar nicht viele, aber ein | |
paar richtig schöne Tore. Und statt wie sonst in Qualifikationsrunden am | |
Ende immer mehr abzubauen, spielte die Elf angesichts wachsender Chancen | |
auf ein Weiterkommen immer besser. Wohl auch ein Verdienst von | |
Nationaltrainer Tarmo Rüütli, dessen Vertrag nun schon vor den Playoffs bis | |
2013 verlängert wurde. | |
Hat es der "Russensport" in Estland also endgültig geschafft? Schon zu | |
Sowjetzeiten war Fußball – ebenso wie Eishockey – eine Domäne der | |
russischstämmigen Bevölkerung. Auch nach Erringung der Unabhängigkeit hatte | |
Fußball für den russischsprachigen Bevölkerungsteil größere Bedeutung. Aus | |
Tradition und weil es für russischsprachige Jugendliche weniger andere | |
Hobbymöglichkeiten gab. | |
Doch wer keinen estnischen Pass hatte – und den bekamen in den 1990er | |
Jahren auch in Estland geborene Russischstämmige nicht –, durfte nicht in | |
der Nationalmannschaft spielen. Die estnischen Politiker übertrugen ihre | |
diskriminierende Staatsbürgerschaftspolitik auf das Spielfeld und verboten | |
dem Fußballverband, was die Fifa erlaubt hatte: in Estland geborene Spieler | |
mit einem Fremdenpass das Nationaltrikot tragen zu lassen. | |
Den eigenen Ergebnissen tat solche Ausgrenzungspolitik nicht gut. Estland | |
verlor jahrelang jedes Spiel. Bilanz der Qualifikation für die EM 1996: | |
zehn von zehn Spielen verloren und ein Torverhältnis von 3:31. | |
## Effektivstes Integrationsprojekt neben der Armee | |
Noch heute gibt es Gräben. Für Esten, die bei einem Hauptstadtklub spielen, | |
ist der Tallinna FC Flora die erste Adresse, für Russen der Tallinna FC | |
Levadia. Und bei Narva JK Trans spielt kein estnischsprachiger Fußballer. | |
Doch insgesamt gilt der Fußball neben der Armee als effektivstes | |
Integrationsprojekt. 9 der 24 Stammspieler der Nationalelf sind nun | |
russischer Herkunft – und das entspricht in etwa dem Anteil an der | |
Gesamtbevölkerung. | |
Und nur zwei Nationalspieler kicken mittlerweile noch zu Hause in der | |
unattraktiven kleinen nationalen Liga mit dem schönen Namen "Meistriliiga". | |
Die übrigen als Profis in Norwegen und Dänemark, Russland, Polen und den | |
Niederlanden. Auch dies ist wohl einer der Gründe für den Aufschwung der | |
Nationalelf. | |
Die "jetzt natürlich auch zur EM will", wie Trainer Rüütli unmittelbar nach | |
Auslosung des Playoffs-Gegners Irland verkündete. Eine Auslosung, über | |
deren Resultat er sich übrigens ebenso wie Irlands Trapattoni sichtlich | |
freute. "Das ist britischer Fußball, und den kennen wir", sagt Estlands | |
Assistenztrainer Janno Kivisild. | |
11 Nov 2011 | |
## AUTOREN | |
Reinhard Wolff | |
## TAGS | |
Reiseland Deutschland | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Tallinner wählen kostenlosen Nahverkehr: Freie Fahrt an der Ostseeküste | |
Die Einwohner in Tallinn fahren ab 2013 kostenlos mit öffentlichen | |
Verkehrsmitteln. Die Entscheidung fällten die estnischen Städter per | |
Volksentscheid mit einer klaren Mehrheit. | |
Vorschau Deutschland - Niederlande: Tausch der Spielphilosophie | |
Den ehemals oranje-typischen Fußball spielt die DFB-Elf. Kapitän van Bommel | |
meint, "Freundschaftsspiele gibt es nicht, vor allem nicht gegen | |
Deutschland" - freut sich aber auf das Spiel. | |
Montenegro in den EM-Playoffs: Konvois aus den schwarzen Bergen | |
Historische Chance: Europas jüngster Fußballverband steht bei seiner ersten | |
EM-Qualifikation sensationell in den Playoffs. Der Star des Teams spielt | |
bei Juventus Turin. | |
Relegation zur Fußball-EM 2012: Topspiel Türkei gegen Kroatien | |
Die Relegationspaarungen sind ausgelost. Portugal trifft auf Bosnien | |
Herzegowina, die Türkei muss gegen Kroatien ran. Giovanni Trapattoni spielt | |
mit mit Irland gegen Estland. | |
EM-Qualifikations-Endspurt im Überblick: Auf der Straße nach Kiew | |
Am Freitag und Dienstag finden die letzten Qualifikationsspiele zur | |
Fußball-EM 2012 statt. Deutschland ist schon durch – zahlreiche andere | |
Teams hoffen und bangen noch. | |
Estland steht bei Ratingagenturen gut da: Haushalt im Soll, Sozialstaat kaputt | |
Estland hat einen ausgeglichenen Haushalt. Und nun? Das Land steht bei den | |
Ratingagenturen zwar gut da – es kriselt jedoch im Gesundheitssystem und | |
bei der Binnennachfrage. | |
Radtour an der Ostsee: Moor und Mankell | |
Mit dem Fahrrad entlang der Ostsee von Riga nach Stockholm: Weit im Osten | |
gibt es ebenso wenige Gasthäuser wie ausgewiesene Radwege. |