| # taz.de -- Estland steht bei Ratingagenturen gut da: Haushalt im Soll, Sozials… | |
| > Estland hat einen ausgeglichenen Haushalt. Und nun? Das Land steht bei | |
| > den Ratingagenturen zwar gut da – es kriselt jedoch im Gesundheitssystem | |
| > und bei der Binnennachfrage. | |
| Bild: Straßenschild in Estland. Die Balance zwischen Haushaltsdisziplin und So… | |
| STOCKHOLM taz | Es geht derzeit nicht nur bergab, wenn Standard & Poors das | |
| Kreditrating von Ländern der Eurozone verändert. Gleich zwei Stufen höher | |
| platzierte die Agentur zuletzt Estland. Damit schaffte es das baltische | |
| Land unter die Top Ten der kreditwürdigsten europäischen Länder. | |
| Auch Ratingkonkurrent Fitch stufte den baltischen Staat auf "A +" hoch und | |
| führt ihn nun auf gleicher Stufe wie etwa China. Beide Agenturen begründen | |
| diesen Schritt mit der minimalen öffentlichen Verschuldung und dem Bemühen | |
| Tallinns, das Staatsbudget in der Balance zu halten. | |
| Für das erste Halbjahr 2011 liegt der Saldo mit einem Überschuss von 115 | |
| Millionen Euro oder 0,7 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) tatsächlich | |
| sogar in einem leichten Plus. Aber auch für das Gesamtjahr wird bei einem | |
| Defizit von nur 0,4 Prozent (2011: 1,9 Prozent) mit einem nahezu | |
| ausgeglichenen Haushalt gerechnet. | |
| ## Estland glänzt bei Euro-Kriterien | |
| Neben Luxemburg ist Estland damit das einzige Euroland, das das | |
| Defizitkriterium des Euro-Stabilitätspakts von Maastricht von höchstens 3 | |
| Prozent des BIP einhält. Und von Estlands Schuldenstand von gerade 6,6 | |
| Prozent des BIP kann nicht nur Deutschland nur träumen, das bei einem | |
| dreimal höheren BIP pro Kopf auf eine Verschuldung von 83,2 Prozent kommt. | |
| Auch mit anderen Wirtschaftskennzahlen glänzt Tallinn: Das BIP-Wachstum von | |
| 8,5 Prozent im ersten und 8,4 Prozent im zweiten Quartal 2011 ist einsame | |
| EU-Spitze. Die Industrieproduktion ist im Vergleich zum Vorjahr um ein | |
| Viertel, der Export um mehr als die Hälfte angestiegen. Allerdings muss man | |
| bei diesen relativen Zahlen berücksichtigen, dass die Wirtschaft des Landes | |
| gerade erst aus der tiefen Wirtschaftskrise wieder nach oben klettert. | |
| Zusätzlich wird die Statistik aufgebläht durch einen nicht unerheblichen | |
| Außenhandelsanteil, der aus Re-Exporten erst importierter und in Estland | |
| bearbeiteter Komponenten besteht, der unter dem Strich nur zu minimaler | |
| inländischer Wertschöpfung führt. | |
| ## Es hapert bei der Inlandsnachfrage | |
| Zudem ist der Aufschwung fragil. Denn dass vor allem der Export das | |
| Wachstum antreibt, lässt die weiteren Aussichten angesichts deutlicher | |
| Anzeichen für ein europaweites Abflauen der Wirtschaftskonjunktur schon | |
| wieder düster erscheinen. | |
| Hier hat Estland ein ähnliches Problem wie Deutschland: Es hapert an der | |
| Inlandsnachfrage. Kein Wunder: Die Sparpolitik führt zwar zu einem geringen | |
| Staatsdefizit und einem ausgeglichenen Haushalt – sie hat aber auch die | |
| private und öffentliche Armut deutlich verstärkt. Immer mehr öffentliche | |
| Ausgaben wurden zusammengestrichen. Das Gesundheitswesen beispielsweise ist | |
| völlig unterfinanziert und befindet sich mittlerweile in einer permanenten | |
| Krise. Die Renten decken oft nicht einmal das Existenzminimum. Gerade 12,5 | |
| Prozent des Staatsbudgets fließt in das Sozialsystem – weniger als die | |
| Hälfte vom EU-Durchschnitt. | |
| Die "Sanierung" wurde vor zwei Jahren damit eingeleitet, dass das | |
| Reallohnniveau um rund 20 Prozent abgesenkt wurde – was aber zugleich den | |
| privaten Konsum abwürgte. Seitherige Lohnerhöhungen wurden durch eine hohe | |
| Inflationsrate von derzeit 5,3 Prozent – der höchsten in der EU – schnell | |
| wieder aufgefressen. Der gesetzliche Mindestlohn beträgt 278 Euro im Monat. | |
| Zum Vergleich: Im Schnitt der 20 EU-Länder mit Mindestlohn liegt er bei 731 | |
| Euro. | |
| ## Noch mehr Liberalisierung | |
| Estlands Nationalbank gab den PolitikerInnen schon mal passende | |
| Verhaltensregeln auf den Weg: Eine weitere "Flexibilisierung" des sowieso | |
| schon sehr flexiblen Arbeitsmarkts sei erforderlich. Erweiterte | |
| Kündigungsmöglichkeiten, extensivere Teilzeitregelungen, größere | |
| "Liberalisierung bei der Lohnbildung" sollen dazugehören. | |
| Wer sein Einkommen verbessern will, muss auswandern. Schätzungsweise 5 | |
| Prozent der 1,3 Millionen EstInnen oder etwa 10 Prozent der aktiven | |
| Arbeitskraft haben das mittlerweile getan. Allein 40.000 leben nun in | |
| Finnland. Den Arbeitsmarkt entlastet das, zumal ihm das im europäischen | |
| Vergleich niedrige Lohnniveau auch nicht recht auf die Beine helfen will. | |
| Zwar ist die Arbeitslosigkeit von knapp 20 Prozent im vergangenen Jahr auf | |
| jetzt offiziell 13,3 Prozent gesunken. Aber wann, wenn nicht in den | |
| jetzigen Boomzeiten, will man von diesem hohen Stand herunterkommen? Schon | |
| wird für den Winter ein erneuter Anstieg auf 18 Prozent vorhergesagt. | |
| 22 Aug 2011 | |
| ## AUTOREN | |
| Reinhard Wolff | |
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