Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Breiviks Manifest: Ein postmoderner Roman
> Anders Behring Breiviks Manifest liest sich wie Literatur. Inspiriert
> wurde der Täter von "World of Warcraft". Die Gesellschaft hält er für ein
> "game".
Bild: Anders Behring Breivik, wie er sich selbst in seinem Manifest darstellt.
Zwei Tage nach den Terroranschlägen traf ich einen klugen Freund und
Kollegen in einem Pub. "SIE sind unter uns" sagte ich zu C., er antwortete,
ihm sei nicht zum Scherzen zumute. Er hätte norwegische Wurzeln und immer
große Hochachtung gehabt vor der norwegischen Sozialdemokratie und vor dem
skandinavischen Gesellschaftsmodell.
Ich erzählte ihm, dass ich in dem Manifest des Terroristen gelesen hätte.
Ich sagte, Anders Behring Breivik sei kein wahnsinniger Intellektueller.
Keine belesene Serienmörderkunstfigur wie zum Beispiel Hannibal Lecter aus
"Das Schweigen der Lämmer". Die Lektüre seines Manifests gewähre keinen
spektakulären Einblick in eine kranke Seele. Danach guckten wir schweigend
Fußball.
Bis dahin hatte ich nur vielleicht hundert Seiten am Anfang gelesen. Die
Einleitung und die Passagen, wo es um die Nachkriegskulturgeschichte geht,
um die Frankfurter Schule, um Derrida auch. Alles Dinge, die ich selber mal
studiert hatte. Ich war einem Link gefolgt, den ein Facebookbekannter
gepostet hatte. Und hatte dann eher so häppchenweise im Netz gelesen, weil
ich das Manifest nicht auf meinem Laptop haben wollte.
Die Nähe zu den Terroranschlägen infizierte die Lektüre. Es hatte etwas
Obszönes, diesen Text zu lesen. Erst zwei Tage später war ich auf die
tagebuchartigen Passagen gestoßen und auf das lange Interview, in dem
Breivik aus seiner Biografie erzählt, seine Weltsicht erklärt, die
nationalrevolutionäre Strategie bis 2083 erläutert, von seinen Helden und
Hobbys spricht, versucht, sich von Nazis abzugrenzen, die angestrebte
Regierungsform – eine Art Präsidialdemokratie, aber mit Mehrparteiensystem
– in einem zukünftigen Norwegen ohne Migranten beschreibt und schließlich
auch von seinen Fehlern spricht, wobei er zum Beispiel
"Selbstgerechtigkeit" nennt.
## Er mag "True Blood"
Der Text, illustriert und konterkariert von den Nachrichten und Bildern aus
der wirklichen Welt, in der echte Menschen sterben, las sich wie ein
postmoderner Roman mit unterschiedlichen Ebenen. Es gibt einen irrsinnigen
oder paranoid-vernünftigen geschichtlichen Teil mit Einleitung und
akribischen Anleitungen zur Distribution des Textes, es gibt die
tagebuchartigen oder selbstjournalistischen Teile, in denen er die Leser
manchmal auch komplizenhaft anspricht – "Sie [seine Freunde] denken, ich
hätte mich zurückgezogen, um eine homosexuelle Beziehung zu verbergen. LOL.
Ziemlich lächerlich, da ich 100% hetero bin. Aber sie sollen denken, was
sie wollen, solange es sie davon abhält, weitere Fragen zu stellen."
Daneben gibt es Fremdbeiträge des von ihm verehrten rechten Bloggers
Fjordman, des Unabombers und anderer "islamkritischer" Blogs, außerdem
detaillierte Anleitungen zum Bombenbau mit entsprechenden Links auf
YouTube-Videos und dokufantasymäßige Stücke zu den Freimaurern.
Man liest das Buch wie eine Art Dokufiction. Querlesend und Seiten
überschlagend prescht man durch den unendlich langen geschichtlichen Teil.
Die autobiografischen Sachen liest man mit größerem Interesse. Der
tagebuchartige Teil liest sich wie ein Filmtext. Man merkt, dass Breivik
gerne amerikanische Serien guckt – "True Blood", "Dexter" usw. Die
Ideologie dieser Serien sei zwar auch stets "multikulturalistisch", aber es
gebe ja nichts anderes, und er genießt es, sie zu sehen.
Beim Lesen stellen sich Bilder ein, als würde man gerade eine Serie gucken
mit ihm als Hauptperson. Manchmal, wenn er davon spricht, wie er die Bomben
baut, wenn er beschreibt, wie eine Fliege unter die Gasmaske kriecht, die
er beim Kochen braucht, denkt man an "Breaking Bad"; manchmal, wenn sich
ein Auto zufällig auf seinen Hof verirrt und er fürchtet, man habe ihn
entdeckt, denkt man an "24".
Wenn er ganz normal – fast humorvoll und smart – von Treffen mit Freunden
erzählt, die nichts von seinem anderen Leben wissen, um dann wieder von den
minutiösen Anschlagsvorbereitungen zu berichten, denkt man an "Dr. Jekyll
und Mr. Hyde".
Und als ich auf das "Legal Disclaimer" überschriebene Kapitel stieß, in dem
er einem imaginären Staatsanwalt, der das Buch verbieten will, erklärt,
dass es sich bei seinem Kompendium um Literatur, um eine neue Art des
Schreibens handele, stellte ich mir vor, es hätte vielleicht tatsächlich so
angefangen. Eine HBO-mäßige Serie zum Buch wäre ein großer Erfolg gewesen.
Vieles schreibt sich zunächst automatisch aus Abwehr, etwa dass das Buch
"Geschreibsel" sei und voller Hass. Ich hatte eher den Eindruck, dass es
affektarm ist. Breivik legt Wert darauf, dass ihn kein persönlicher Hass
gegen Muslime treibe. In den Passagen über seine Graffitisprayer-Jugend
schreibt er, er habe einige muslimische Freunde gehabt. Eine Weile gehörte
er zu den von muslimischen "Jihad-racist-gangs" beschützten "Kartoffeln".
Die Gangs hatten, im Gegensatz zu seinen norwegischen Freunden, ähnliche
Ehrbegriffe wie er selbst; eigentlich haben sie ihn erst auf seinen Weg
gebracht.
## Level A, B und C
Ich hatte den Eindruck, das Böse habe mit einer extremen
Selbstfiktionalisierung zu tun. Die Figur, in die er sich über Jahre
hineinsteigert, die gedopt und abgedichtet von der Umwelt, im Kampfanzug,
mit dem laut gedrehten iPod am Ohr auf der Insel Teenager erschießt,
erinnert an eine Gamefigur. Die Bilder am Ende des Buchs, wo er selber in
verschiedenen, fantasymäßigen Outfits posiert, könnten aus einem Egoshooter
sein.
Die Begriffe, in denen er von seiner "Mission" schreibt, sind die eines
Computer- bzw. Konsolenspiels. Wenn es gelingt, Level A, B und C zu
überstehen, gibt es eine "Bonusmission". Das Christentum, der Glaube
funktioniert dabei wie ein "Boost", wie ein Kurzzeitturbo in
Autorennspielen: "Wenn das Gebet einen zusätzlichen Auftrieb gewährt, ist
es das Pragmatischste, was man tun kann."
Die Szenerie, die er sich ausmalt, ist die eines Spiels: "Ich bin ziemlich
sicher, dass ich zu Gott beten werde, während ich durch meine Stadt renne
und dabei um mich schieße, derweil 100 bewaffnete Systemschützer mich
verfolgen. Ihre Absicht ist es, mich aufzuhalten und/oder zu töten. Ich
weiß, es gibt eine 80-prozentige Wahrscheinlichkeit, dass ich während der
Operation sterbe, da ich mich nicht ergeben werde, solange ich nicht meine
drei Primärziele erreicht UND den Bonusauftrag erfüllt habe."
An vielen anderen Stellen schreibt er über die Gesellschaft als "game". Ich
meine nicht, dass Computerspiele schuld seien, sie bieten aber, viel mehr
als traditionelle Medien, die Möglichkeit, komplett in eine Spielwelt
einzutauchen, die vieles, nur den Tod nicht simulieren kann. Breivik war
ein Gamer. Auf die Anschläge bereitete er sich mit dem Kriegsspiel "Modern
Warfare 2" vor. Mit 25 nahm er sich ein Jahr Auszeit und spielte "World of
Warcraft" (WoW), ein Jahr lang. In dem
Massen-Mehrspieler-Online-Rollenspiel, das von zwölf Millionen Spielern
weltweit gespielt wird, führte er eine Gilde (eine Art Kampfgruppe).
Im WoW-Internetforum suchen derzeit Journalisten und Polizisten nach
Leuten, die mit ihm gespielt hatten. Alice, eine Spielerin, schrieb: "Er
hat in diesen Foren sogar gepostet. Ich fühle mich so schmutzig."
1 Aug 2011
## AUTOREN
Detlef Kuhlbrodt
## ARTIKEL ZUM THEMA
Norwegischer Hetzblogger hat's schwer: Eine Spende für "Fjordman"
Seit sich der islamfeindliche Blogger "Fjordman" nach den
Breivik-Terrortaten selbst geoutet hat, läuft alles schief: Job und Wohnung
ist er los. Und im TV spottet man über ihn.
Breivik und sein Vorbild Una-Bomber: Spekulation über codierte Botschaften
Mitglieder einer norwegischen Mailingliste beschäftigt die Frage, ob der
Attentäter von Oslo in seinem "Manifest" geheime Informationen versteckt
haben könnte.
Nach Verhör wegen Islamkritik: Norwegischer Blogger enthüllt Identität
Norwegens Polizei vernimmt "Fjordman". Der islamkritische Blogger diente
dem Attentäter Breivik als Inspirationsquelle. Um den Medien zuvorzukommen,
enthüllt er seine Identität.
Norwegischer Terrorist Breivik: Klappe zu, Affe tot!
Wenden, bitte: Die Norweger drehen Boulevardzeitungen mit Breivik auf dem
Cover am Kiosk einfach kollektiv um. Sie wollen "dieses Gesicht nicht mehr
sehen".
Debatte um Pfarrerin in Dänemark: Verständnis für Terroristen von Oslo
Eine protestantische Pfarrerin in Dänemark hält die Tat des Norwegers
Breivik für "wohlbegründet". Die Kirche schweigt, Islamkritiker stimmen zu.
Konsequenzen aus dem Oslo-Attentat: Alles muss raus
Was müsste aus den Regalen unserer Supermärkte verschwinden, um Taten wie
die von Oslo künftig zu verhindern? "World of Warcraft" macht schon mal den
Anfang.
Debatte Terror in Norwegen: Krieger wider die Gleichheit
Nicht nur der Hass auf Muslime trieb den Attentäter von Norwegen an. Sein
extremer Frauenhass verbindet ihn mit anderen radikalen Ideologen.
Das Befinden der Muslime nach Oslo: Wer will das wissen?
Interessiert es uns, wie es den Muslimen in Deutschland nach dem Massaker
von Oslo geht? Ein Text über Fragen, die gestellt werden, und die eine, die
wichtig wäre.
Computerspielkritiker über den Gamer Breivik: "Man funktioniert wie eine Masch…
Anders Behring Breivik schreibt in seinem Manifest, er habe mit einem
Ego-Shooter für seine Tat geübt. Geht das überhaupt? Psychiater und
Computerspielekritiker Bert te Wildt meint: ja.
Behring Breivik mag Lacoste: Der Teufel trägt Kroko
Lacoste ist Anders Behring Breiviks "favourite clothing brand". Geht das
Modelabel jetzt den Bach runter? Gegen die Vereinnahmung durch den
Attentäter hilft nur Thomas Mann.
Psychologie des Oslo-Täters: "Ein Attentäter mit Amokdynamik"
Die politische Ideologie ist bei Gewalttätern ein Deckmantel für eigene
Probleme. Das sagt die Kriminalpsychologin Karoline Roshdi - auch über den
Attentäter von Oslo.
Manifest von Anders Behring Breivik: Massaker als Marketing-Instrument
Das Manifest des norwegischen Massenmörders Anders Behring Breivik ist
komplett irre: Ein manisch zusammengeschustertes Plagiat.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.