# taz.de -- Norwegens Ministerpräsident: Beliebter als der König | |
> Drei Wochen nach den Attentaten kehrt langsam der Alltag in Oslo zurück. | |
> Im September stehen Wahlen an und Ministerpräsident Stoltenberg steht gut | |
> da. | |
Bild: "Ich habe geweint", sagt Norwegens Ministerpräsident Jens Stoltenberg. | |
OSLO taz | Vorige Woche tauchten auf den Straßen Oslos Plakate mit der | |
Botschaft auf: "Dank an Stoltenberg – Dank an unsere Führung". Bei fast | |
allen Beisetzungen der Opfer vom 22. Juli waren entweder der norwegische | |
Ministerpräsident Jens Stoltenberg oder andere Regierungsmitglieder | |
anwesend, was die Einwohner Norwegens in zahlreichen bewegenden | |
Fernsehbeiträgen verfolgen konnten. Wie es Jens Stoltenberg in einem | |
Interview mit Norwegens größter Zeitung, Verdens Gang, sagte: "Ich habe | |
geweint, und ich meine, dass es auch wichtig ist, zu weinen." | |
Fast drei Wochen sind seit dem Terroranschlag vergangen, und noch immer | |
liegen Rosensträuße vor dem Parlamentsgebäude, an der Erinnerungsstätte vor | |
dem Osloer Dom und an den Absperrungen um das Regierungsviertel. Die | |
meisten Blüten sind inzwischen verwelkt, wenn auch immer wieder frische | |
Blumen abgelegt werden – der Alltag setzt sich langsam durch. | |
Die Norweger sind tief beeindruckt von der Art und Weise, wie | |
Ministerpräsident Stoltenberg die Führung übernommen hat. Kaum ein anderer | |
norwegischer Politiker ist politisch so gestärkt ins Tagesgeschäft | |
zurückgekehrt. Vor nicht einmal einem Jahr mussten sich Stoltenberg und die | |
rot-grüne Regierung vorwerfen lassen, sie hätten sich vom Volk entfernt und | |
es mangele ihnen an Engagement und Solidarität. Jetzt erfährt Stoltenberg | |
eine Sympathie, die er für die anstehenden Aufgaben gut gebrauchen kann. | |
Der renommierte Politikwissenschaftler und Wahlforscher Frank Aarebrot von | |
der Universität von Bergen stellt fest: "Zum ersten Mal erfährt Norwegens | |
Ministerpräsident mehr Zustimmung und mehr Unterstützung als ein nationales | |
Symbol wie Seine Majestät der König. Das ist eine Sensation." Auch im | |
europäischen Zusammenhang sei es außergewöhnlich, dass Politikern in diesem | |
Maße gehuldigt werde, so Aarebrot, "schließlich herrscht heute eine | |
stärkere Politikverdrossenheit als je zuvor". | |
## Rot-grüne Sündenböcke | |
Aarebrot zweifelt nicht daran, dass der Terroranschlag die norwegische | |
Mentalität verändern wird. Die Menschen in dem ölreichen Land seien vom | |
Wohlstand so übersättigt, dass viel zu viel Aufhebens von Kleinigkeiten | |
gemacht worden sei. Die Sündenböcke? Das waren zumeist die rot-grünen | |
Minister. "Journalisten befragten kürzlich zufällig vorbeikommende | |
Passanten zu Zugverspätungen und verlangten zugleich, der verantwortliche | |
Minister müsse sofort auf dem Bahnsteig vor der Kamera erscheinen. | |
Dann wurde Norwegen am 22. Juli von etwas unvergleichlich Größerem | |
erschüttert. Die Terrortragödie hat Norwegen gezwungen, schwierige Dinge | |
mit Anstand zu bewältigen, statt sich um politischen Kleinkram zu kümmern. | |
Das hat der Regierung und der Gemeinschaft ihr Ansehen zurückgegeben", so | |
Aarebrot. | |
Die Regierung und die politische Elite Norwegens müssen jetzt einen | |
Ausnahmezustand nach dem anderen bewältigen: Die zentralen | |
Regierungsgebäude sind zerbombt, in wenigen Wochen wird eine wichtige | |
lokale Wahl stattfinden, und nicht zuletzt muss die norwegische Polizei das | |
große kriminalistische Rätsel Anders Behring Breivik lösen. Das erfordert | |
enorme Ressourcen. Dafür hat die Polizei mehr als 20 Spezialeinheiten | |
gebildet mit rund 200 Ermittlern. Ihr Auftrag: alle Facetten der | |
Terrortragödie gründlich unter die Lupe nehmen und eine Antwort auf die | |
Frage finden: Hatte der Terrorist und Rechtsextremist Breivik Helfer? | |
## Immer noch wie Kriegsgebiet | |
Wo vorher Polizisten die zerstörten Regierungsgebäude bewachten, hört man | |
jetzt den Lärm der Baumaschinen. Techniker und Arbeiter beseitigen die | |
Schäden auf Norwegens "Ground Zero". Fünf große Regierungsgebäude sind | |
völlig unbrauchbar: die Fenster ohne Glasscheiben, verbarrikadiert, mit | |
schief herabhängenden Gardinenstangen. Das Stadtviertel ähnelt noch immer | |
einem ausgebombten und evakuierten Kriegsgebiet. | |
Das 17 Stockwerke hohe Bürogebäude des Ministerpräsidenten ist mittlerweile | |
mit Planen abgedeckt. Ein Bauarbeiter vermutet eine Beruhigungsmaßnahme | |
dahinter, damit die Leute nicht ständig daran erinnert werden, wie nah die | |
Regierungsspitze ihrer Auslöschung war. "Gott sei Dank explodierte die | |
Bombe in der Ferienzeit, als nur ein Zehntel des Personals am Arbeitsplatz | |
war", sagt er. In den umliegenden Straßen werden jetzt die | |
Schaufensterscheiben der Läden und Kneipen wieder eingesetzt. Aber Kunden | |
und Cafébesucher bleiben aus, es fühlt sich hier noch zu unheimlich an. | |
Am 12. September finden Regionalwahlen in Norwegen statt - und dieser | |
Wahlkampf könnte der bemerkenswerteste seit dem Zweiten Weltkrieg werden. | |
Die sozialliberale Venstre, Verteidigerin des neuen, multikulturellen | |
Norwegen, muss ihren Wahlkampf aus provisorischen Lokalen heraus führen - | |
auch ihr Hauptquartier wurde komplett zerstört. Für den Generalsekretär der | |
Partei, Terje Breivik, ist das selbstverständlich eine Bagatelle, | |
angesichts der Trauer über die 77 Terroropfer. "Der Sprachgebrauch im | |
Wahlkampf muss unbedingt ein vollkommen anderer werde." Darauf hätten sich | |
die Generalsekretäre der Parteien geeinigt, sagt Terje Breivik. | |
Der Wahlkampfauftakt wurde bereits verschoben. Dabei hofft das norwegische | |
Volk auf das, was die Wähler laut Wahlforscher bevorzugen: sachliche | |
Debatten und weniger Spektakel. Beobachter waren bisher davon ausgegangen, | |
dass die bürgerlichen Parteien bei den Lokalwahlen in diesem Herbst | |
vormachen, wie sie die Rot-Grünen bei den Parlamentswahlen 2013 aus der | |
Regierung werfen werden. | |
## Stoltenberg holt auf | |
Die norwegischen Konservativen - Høyre - hatten seit mehr als einem Jahr, | |
zusammen mit der populistischen Fortschrittspartei, bei den | |
Meinungsumfragen die Nase vorn gehabt. Doch jüngste Umfragen ergaben nun, | |
dass Stoltenberg bereits aufgeholt hat - und sogar zum dauerhaften | |
Mehrheitsgaranten für Rot-Grün werden könnte. Wie es Professor Aarebrot | |
ausdrückt: "Gnade Gott denjenigen, die jetzt schlecht oder herabsetzend | |
über Jens Stoltenberg sprechen. Wenn die Opposition das versucht, ist sie | |
übel dran." | |
Der neue Alltag könnte sich dennoch als schwierig für die Regierung | |
erweisen. Insbesondere nachdem enthüllt wurde, dass in diesem Herbst das | |
Regierungsviertel für den Autoverkehr - und damit auch für Autobomben - | |
gesperrt werden sollte. Dieser Beschluss hat sieben Jahre gebraucht, und | |
die bürokratische Trödelei bei der Terrorbekämpfung ist vielen | |
unbegreiflich. Eine schnellere Vorgehensweise hätte Anders Behring Breivik | |
nicht die Chance gegeben, Tonnen von Sprengstoff so nah am Machtzentrum der | |
norwegischen Politik zu parken. | |
Ein weiterer Aspekt kann die Regierung außerdem, schneller als ihr lieb | |
ist, vor neue Herausforderungen stellen: Die Meinungsunterschiede in Sachen | |
Islam, Integration und multikulturelles Norwegen sind nicht verschwunden. | |
Es ist offen, ob und, wenn ja, wie lange die gesellschaftliche Allianz - | |
für Toleranz, gegen Extremismus - hält. | |
Die einwanderungskritische Fortschrittspartei (FRP), die immerhin von einem | |
Fünftel der norwegischen Bevölkerung gewählt wurde, hat nach Breiviks | |
islamophobem Terrorakt ihre politischen Trümpfe verloren: Die FRP hatte | |
ihre Wähler durch aggressive Attacken gegen den extremen Islamismus | |
gewonnen. Im Moment machen Gesellschaftskritiker Jagd auf die | |
Fortschrittspartei: Welche Verantwortung trägt die Partei für die | |
Politisierung der Islamdebatte, und welchen Spielraum gab sie den | |
Extremisten? | |
## Skepsis in der FRP | |
Der Terrorist Anders Behring Breivik war einige Jahre lang Mitglied der | |
Fortschrittspartei, bevor er sie als zu schlaff empfand. Er setzte seine | |
Reise anders fort. Direkt zum Rechtsextremismus. Die FRP-Chefin Siv Jensen | |
warnte voriges Jahr vor einer "schleichenden Islamisierung", mittlerweile | |
ist sie jedoch vorsichtiger mit ihren Formulierungen. Viele ihrer | |
Parteifreunde sind jedoch skeptisch ob solcher Selbstzensur. | |
"Wir müssen genau darüber nachdenken, welche Worte wir benutzen", sagt ein | |
Parlamentsmitglied, das am nächsten Tag an der Beerdigung eines der | |
Terroropfer teilnehmen will. Und fügt hinzu: "Wenn jedoch die Selbstzensur | |
zu Einschränkungen der Meinungsfreiheit führen sollte, geschieht ja genau | |
das Gegenteil von dem, was wir wollen: Der Terrorist hat gewonnen, da die | |
Ideendebatte beendet ist." | |
Die gebürtige Italienerin Silva Bonera und ihr kleiner Sohn Matteo legen | |
bereits zum zweiten Mal Blumen auf die Stufen des großen Osloer Doms, der | |
Erinnerungsstätte des Volkes. "Ich möchte, dass mein Sohn sich an die | |
Solidarität, die gezeigt wurde, erinnert. Das große Gemeinschaftsgefühl | |
nach dem Terroranschlag bringt mich als Einwanderin tatsächlich dazu, mich | |
stärker zugehörig zu fühlen." | |
Nach den Utøya-Morden kamen die Leute in Massen, mittlerweile sind es | |
Einzelne, die die Domkirche aufsuchen, Blumen niederlegen und weitergehen. | |
Eine Blume jetzt, etwas später noch eine. Sie tragen zur Erhaltung eines | |
Monuments der Farben bei, das viele Einwohner noch eine Weile behalten | |
wollen. Vielleicht wird es nie ganz verwelken. | |
11 Aug 2011 | |
## AUTOREN | |
Per Anders Hoel | |
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