# taz.de -- Krieg in Libyen: 50.000 Häftlinge spurlos verschwunden | |
> Den Gaddafi-Truppen werden schwere Kriegsgreuel vorgeworfen. Sie sollen | |
> in Tripolis Gefangene und Klinikpersonal ermordet haben. Derweil | |
> versuchen die Rebellen die Stadt Sirte zu erobern. | |
Bild: Ein junger Rebell in jener Baracke in Tripolis, in der die Überreste ver… | |
TRIPOLIS/WASHINGTON dpa/afp/dapd | Am Wochenende sind weitere Grausamkeiten | |
der Schlacht um Tripolis ans Licht gekommen. In einem Stadtteil sahen | |
Fotoreporter ein Lagerhaus mit mehreren verkohlten Leichen. Anwohner | |
berichteten, die Gaddafi-Truppen hätten in dem Gebäude Zivilisten gefangen | |
gehalten. Als sie das Gelände nicht mehr hätten halten können, hätten sie | |
es angezündet. | |
Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch erhob schwere Vorwürfe | |
gegen die Sicherheitskräfte Gaddafis. Es gebe Beweise für willkürliche | |
Hinrichtung von Häftlingen, als die Rebellen in die Hauptstadt Tripolis | |
einrückten, teilte die Organisation am Sonntag mit. Gaddafi-Getreue hätten | |
außerdem selbst medizinisches Personal getötet. | |
Libysche Rebellen haben nach Angaben eines Sprechers seit ihrem Einmarsch | |
in Tripolis vergangene Woche mehr als 10.000 Häftlinge aus Gefängnissen des | |
bisherigen Machthabers Muammar al Gaddafi befreit. Rund 50.000 Menschen | |
seien aber verschollen, sagte Rebellensprecher Ahmed Bani weiter. Diese | |
Gefangenen würden möglicherweise in unterirdischen Bunkeranlagen | |
festgehalten. Nach der Einnahme von Tripolis hätten die Aufständischen auch | |
in Krankenhäusern verkohlte Leichen hunderter Gefangener gefunden. | |
## Humanitäre Krise eingeräumt | |
Der libysche Übergangsrat räumte knapp eine Woche nach dem Fall von | |
Tripolis erstmals eine humanitäre Krise in der Hauptstadt ein. Der Sprecher | |
des Rates, Schamsiddin Ben Ali, forderte deshalb am Sonntag alle im Ausland | |
arbeitenden libyschen Ärzte auf, sofort in ihre Heimat zurückzukehren. | |
Die Lage in den Krankenhäusern der Hauptstadt sei dramatisch, sagte Ben | |
Ali. Neben Ärzten sei wegen der vielen Verletzten auch mehr Nachschub an | |
Medikamenten und medizinischem Gerät notwendig, sagte der Sprecher dem | |
arabischen Fernsehsender Al-Dschasira. | |
Die Rebellen stehen nach eigenen Angaben zum Angriff auf Sirte, der | |
Geburtsstadt des untergetauchten Diktators Muammar al-Gaddafi, bereit. Die | |
Übergangsregierung verhandelt seit Tagen über eine friedliche Übergabe der | |
strategisch wichtigen Küstenstadt. Sie liegt etwa in der Mitte zwischen | |
Tripolis und der Rebellen-Hochburg Bengasi. Die Küstenstraße zwischen | |
Tripolis und Sirte sei inzwischen unter Kontrolle, sagte ein | |
Militärsprecher der Übergangsregierung. | |
Den Kämpfern bereiteten mögliche Chemiewaffen und Raketen größerer | |
Reichweite der Gaddafi-Truppen am meisten Kopfzerbrechen, zitierte der | |
arabische Nachrichtensender Al-Dschasira Fadl Harun, einen Befehlshaber der | |
Rebellen. Im Fall eines Angriffs würden sie auf Unterstützung der Nato | |
setzen: "Sobald die Nato den Weg freigemacht hat, werden wir auf Sirte | |
vorrücken", sagte Harun. | |
Der Chef der Übergangsregierung, Mahmud Dschibril, räumte ein: "Das Regime | |
ist noch nicht gestürzt. Der Fall von Tripolis ist ein Symbol", sagte er | |
der arabischen Tageszeitung Shark al-Awsat. | |
Nach Angaben eines Rebellenkommandeurs in Tripolis ist der | |
Hauptgrenzübergang nach Tunesien zwar eingenommen worden. An der | |
Küstenstraße, die nach Ras Ajdir führt, gebe es aber noch "einzelne | |
Widerstandsnester. "Das Problem ist: Wir haben nicht genug Leute, um alle | |
Regionen gleichzeitig zu durchkämmen." | |
Auch in Tripolis gab es noch vereinzelte Gefechte zwischen Rebellen und | |
Gaddafi-Getreuen. Dennoch öffneten am Sonntag wieder die Geschäfte. Junge | |
Leute begannen damit, die Straßen zu reinigen und die Trümmer der Kämpfe zu | |
beseitigen. Doch herrschte weiter Wassermangel, Strom gab es nur | |
vorübergehend. | |
"Wir werden die Krise überwinden. Hauptsache, wir haben den Tyrannen | |
Gaddafi gestürzt", zeigte sich Krankenpfleger Abdullah Mahmud in Tripolis | |
entschlossen. Der libysche Übergangsrat will die Engpässe schnell beheben. | |
Er hat angekündigt, mit der Verteilung von 30 000 Tonnen Benzin sofort zu | |
beginnen. Auch wird eine Lieferung von Diesel erwartet, um die | |
Wasserversorgung wieder in Gang zu setzen. | |
## Lockerbie-Attentäter dem Tod nah | |
Die Arabische Liga rief den UN-Sicherheitsrat und alle betroffenen Länder | |
dazu auf, Gelder des Gaddafi-Regimes jetzt freizugeben. Zuvor hatte | |
erstmals seit sechs Monaten wieder ein Vertreter Libyens an einer Sitzung | |
der Liga teilgenommen: der Chef der erst vor wenigen Tagen anerkannten | |
Übergangsregierung Mahmud Dschibril. | |
Die Jagd nach Ex-Diktator Gaddafi macht derweil offenbar keine großen | |
Fortschritte. Der Chef des Übergangsrates, Mustafa Abdul Dschalil, räumte | |
ein, dass es derzeit keine gesicherten Informationen über den | |
Aufenthaltsort des 69-Jährigen gebe. Ein Militärsprecher schloss | |
Verhandlungen mit dem Diktator aus. | |
Der wegen des Lockerbie-Anschlags verurteilte und später freigelassene | |
Libyer Abdelbaset el Megrahi liegt nach Angaben des US-Fernsehsenders CNN | |
im Koma und ist dem Tode nah. Er werde von seiner Familie in einer Villa | |
der libyschen Hauptstadt Tripolis gepflegt, berichtete der Sender am | |
Sonntag. | |
US-Politiker hatten den Nationalen Übergangsrat der libyschen Rebellen in | |
der vergangenen Woche aufgefordert, Megrahi festnehmen zu lassen und | |
auszuliefern. Zwischen Libyen und den USA besteht allerdings kein | |
Auslieferungsabkommen. | |
Die meisten der 270 Menschen, die kurz vor Weihnachten 1988 bei dem | |
Anschlag auf eine Maschine der US-Fluggesellschaft PanAm über dem | |
schottischen Lockerbie ums Leben kamen, waren US-Bürger. Die schottische | |
Regionalregierung hatte den 2001 zu lebenslanger Haft verurteilten Megrahi | |
im August 2009 aus humanitären Gründen begnadigt. Zuvor hatten Ärzte bei | |
ihm Prostatakrebs im Endstadium diagnostiziert, aufgrund dessen er nur noch | |
drei Monate zu leben habe. Megrahi hat stets seine Unschuld beteuert. | |
## Botschaft Ziel von Plünderern | |
Unterdessen haben etwa zehn bewaffnete Plünderer haben versucht, Möbel und | |
elektronisches Material aus der südkoreanischen Botschaft in der libyschen | |
Hauptstadt Tripolis wegzuschleppen. Wie ein Sprecher des südkoreanischen | |
Außenministeriums am Montag mitteilte, ergriffen sie unverrichteter Dinge | |
die Flucht, als das Botschaftspersonal Polizeikräfte der Rebellen zu Hilfe | |
rief. "Wir denken, dass die Angreifer Zivilisten waren, die sich lediglich | |
als Rebellen ausgaben", sagte der Sprecher. Der Vorfall, bei dem keiner der | |
Botschaftsmitarbeiter verletzt wurde, ereignete sich demnach am | |
Sonntagnachmittag. | |
Wegen der NATO-Luftangriffe sowie der Kämpfe zwischen Rebellen und | |
Anhängern des langjährigen Machthabers Muammar el Gaddafi war das meiste | |
Botschaftspersonal Ende Mai von Tripolis nach Tunesien verlagert worden. | |
Südkorea hat den Nationalen Übergangsrat der Rebellen als legitime libysche | |
Regierung anerkannt. | |
bt | |
29 Aug 2011 | |
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